Woher wissen wir eigentlich, dass wir uns nicht in der Matrix befinden? Was gibt uns die Gewissheit, nicht bloss virtuell, sondern wirklich zu leben? – Letztlich sind es die Ereignisse, die uns unvermittelt zustossen, also Vorfälle, die quer liegen zu den Erwartungen, Brüche im courant normal, manchmal erfreulicher, mitunter auch schmerzlicher Art. Nur was überrascht, lässt uns den Fahrtwind des Lebens spüren, den Widerstand, aus dem allein das reale Vorhandensein der Wirklichkeit evident wird.
Demgegenüber verkörpert die Matrix den Bereich des Berechenbaren, des Immergleichen, worin wir austauschbar sind, reduziert auf eine blosse Funktion. Die Matrix bildet die Summe jener Automatismen, an die wir uns halten, wenn wir das Steuer aus der Hand gelegt und auf Autopilot geschaltet haben. Da passen Ereignisse nicht rein, denn sie sind per definitionem nicht programmierbar; sie brechen herein und stören den ruhigen Flug. Zum Ereignis wird nur, was aus dem Rahmen fällt.
In der Matrix
Es ist gerade die Monotonie, die gleichförmige Leichtigkeit des Seins, welche Thomas Anderson, den jungen Programmierer aus «Matrix» (1999), zweifeln lässt. Alles läuft zu glatt, um wahr zu sein. So rüttelt er an den Stäben des gefühlten Käfigs, kommt beispielsweise zu spät zur Arbeit, hackt nächtlicherweile Programme und verdealt sie an Bekannte. Kurz: Er schafft sich Schwierigkeiten, die er nicht haben müsste, bricht Regeln, um sich selbst lebendiger zu fühlen. Und schliesslich erreicht ihn der direkte Ruf aus einer anderen, einer wirklicheren Welt – über den Bildschirm natürlich, wie es sich im digitalen Zeitalter gehört.
In der Folge trifft er sich mit Morpheus, einem Rebellen, der sich aus der Matrix abgesetzt hat und nun deren Agenten bekämpft. Bei dieser Begegnung nimmt der Gegensatz, der den Protagonisten bislang nur dumpf umgetrieben hat, schärfere Kontur an: Welche Art der Existenz soll er wählen? Die konventionelle, bei der er in der Herde mittrottet als eines jener Haustiere, zu der die Gattung Homo sapiens ihre Mitglieder gezähmt hat? Oder will er hinaus über den Tellerrand, raus aus der Komfortzone, seine eigenen Grenzen ausloten, indem er sich an Gefahren bewährt, die ihn ausserhalb des Gewohnten erwarten?
Herausforderung zur Selbstwerdung
Die Frage verdichtet sich in der Wahl zwischen zwei Pillen, die Morpheus ihm anbietet: Nimmt er die blaue, geht alles weiter seinen normalen Gang. Doch Thomas, der Sucher, entscheidet sich für die rote und leitet damit seine Befreiung aus der Matrix ein, welche die Wachowskis dann als eigentlichen Geburtsvorgang inszenieren. So kommt der Protagonist also an in der wirklichen Welt, in der Wüste des Realen, und dort hat er zuerst einmal den Schock darüber zu verdauen, dass sein ganzes bisheriges Leben Schein war.
Aber mit diesem Akt der Abnabelung ist es noch längst nicht getan. Nun muss NEO, so sein neuer Name, mit dieser Welt bekannt gemacht, in sie quasi initiiert werden. Es ist eine Aufgabe, die Morpheus übernimmt, denn er glaubt an seinen Schützling, sieht in ihm den Erwählten, der – vor Generationen angekündigt – die Herrschaft der Matrix beenden soll. Diese Prophezeiung allerdings wie auch der Glaube seines Ziehvaters könnten für den Selbstsucher zur Falle werden: Da ist einmal mehr eine geschlossene Geschichte, die ihm einen festen Platz zuweist. Sofern er diesen reflexhaft annimmt, um der Weissagung Genüge zu tun, spielt er wieder nur eine Rolle, die ihm selbst äusserlich bleibt.
Dieses Dilemma zeigt sich, als NEO beim Orakel vorstellig wird. Naiv glaubt er an die alte Überlieferung und ist sich bloss unsicher, ob ihm selber die entscheidende Funktion zukommt; das möchte er bestätigt oder dementiert bekommen. Doch das Orakel lässt ihn hängen und verabschiedet den Novizen mit dem Bescheid, er könne der Eine sein, wenn er sich denn selbst dazu entscheide.
Jenseits der Zuschreibungen
Und gleich eine weitere Knacknuss gibt es ihm mit auf den Weg, die Prophezeiung nämlich, über kurz oder lang werde er vor der Wahl stehen, entweder sein Leben oder das von Morpheus zu opfern. Da wird klar: NEOs Weg ist nicht vorgeschrieben, nicht unveränderlich gesetzt wie die Bahn eines Planeten. Er wird im Gegenteil zu Gabelungen führen, welche ihm fortwährend neue Entscheide aufnötigen.
In eine vorgegebene Form zu passen, eine lineare Funktion zu erfüllen, genau das charakterisiert ja das Leben in der Matrix, ein Leben, das von Verantwortung entlastet und dafür den Preis der Selbstentfremdung fordert. NEO würde nicht zu sich finden, wenn er schlicht den Glauben seines Ziehvaters annähme und sich dessen Zuschreibungen fügte. Er wird sich von Morpheus’ Patronat zu lösen haben. Diesbezüglich macht die Voraussage des Orakels absolut Sinn: Sollte sich NEO in der angekündigten Krisensituation für Morpheus’ Leben entscheiden, so würde er tatsächlich das eigene wegwerfen. Dieses ist nur zu gewinnen, indem er die definitive Trennung von seinem Spiritus Rector in Kauf nimmt und das Wagnis des Alleinseins eingeht.
Wahrheit der aktiven Wahl
Genau hier wird deutlich, wie viel Existenzialismus die Wachowskis in ihr Science-Fiction-Märchen gepackt haben. In der Existenzphilosophie gilt Wahrheit nicht als gesetzt, sie ist nicht objektiv gegeben, sondern existenziell, das heisst: hervorgebracht als Resultat ebenso kontingenter wie individueller Entscheide. Diese Wahrheit steht in fundamentalem Gegensatz zu jeder Art von Richtigkeit, die sich innerhalb vorgegebener Rahmungen einstellen kann, sei’s innerhalb von gesellschaftlichen Konventionen, sei’s unter der Herrschaft von Naturgesetzen.
Die Grundopposition, mit der das existenzialistische Denken operiert, setzt auf die eine Seite jene passive Existenzweise, in der man sich anpasst, in der man mit dem Strom schwimmt, auf jeden Fall eingehüllt bleibt in einen Uterus (griech. Matrix) des Allgemeinen – und mit der man der persönlichen Verantwortung ausweicht. Auf der anderen Seite steht ein Leben der aktiven Wahl, eine Existenz, die bewusst zu ihrer Besonderheit steht, aber auch die eigene Flüchtigkeit akzeptiert – und so darauf verzichtet, auf Dauer in ein fixiertes Bild passen zu wollen. Authentisch zu leben bedeutet, sich den Reibungen zu stellen, die sich aus den Eigenheiten wie aus der Vergänglichkeit von Individuen ergeben. Das führt zu einer tätigen Selbstannäherung, welche Differenz schafft zur blassen Normalität und die so auch den gefühlten Eigenwert erhöht.
Scheitern möglich
Positiv führt «Matrix» diese Selbstannäherung am Beispiel von NEO vor, der ja nicht einfach in der Erlöserrolle gesetzt ist. Diese fällt ihm nur unter der Bedingung zu, dass er sie bewusst annehmen will. Und dabei handelt es sich keinesfalls um eine punktuelle, einmalige Wahl.
Wie wenig mit der roten Pille entschieden ist, zeigen die Wachowskis ex negativo auf, nämlich an Cypher, einem Mitglied aus Morpheus’ Gruppe, das an seinem ursprünglichen Entscheid irre wird und seine Kampfgenossen schliesslich verrät. Auch Cypher hat den Ruf gehört und zuerst einmal die Abnabelung von der Matrix gewählt. Auch er stand vor dem Orakel und hat den Spruch empfangen, er könne der Erlöser sein. Doch dann ist es ihm zu hart geworden, diese Existenz in der Absetzung, der Verzicht auf alle Bequemlichkeiten. So will er schliesslich nur noch zurück in die Matrix, will nichts mehr wissen, bloss noch versorgt sein. In der Folge verkauft er Morpheus’ Leben an die Agenten um den Preis eines gesicherten, aber dennoch nicht allzu langweiligen Lebens – «als Künstler oder so».
Die Entscheidung fürs Anderssein ist nie endgültig, sondern fordert fortlaufende Bestätigung, vor allem angesichts unvorhergesehener Widerstände. NEO zieht es durch, Cypher hingegen fällt in die Uneigentlichkeit zurück.
Die Ausweitung: NEO als programmierte Anomalie
Sicher, der erste Matrix-Film von 1999 bricht den existenzialistischen Grundgedanken herunter auf die Schwarz-Weiss-Anlage eines Action-Märchens. Da sind Schein und Wirklichkeit deutlich gegeneinander abgegrenzt. Man kann den Bereich des ersteren verlassen und in die letztere übertreten; es gibt den Ausbruch in ein physisches Anderswo.
Ganz so einfach haben die Existenzialisten den Gegensatz zwischen authentischem und uneigentlichem Leben natürlich nicht angesetzt. Ihnen war klar, dass wir als Kulturwesen das Allgemeine niemals ganz hinter uns lassen können; selbst auf die einsamste Insel nehmen wir es mit. Kulturelle Einbindungen umgeben uns so notwendig wie die Luft zum Atmen. Die entscheidende Frage bleibt somit, wie wir uns je dazu stellen, beziehungsweise ob es uns gelingt, jenen inneren Abstand zu markieren, der allein uns individuieren kann.
Bei der Ausweitung zur Trilogie haben die Wachowskis dem Rechnung getragen und die Matrix umfassender konzipiert. NEO selbst erscheint jetzt als Teil von ihr; darüber klärt ihn der Architekt, der Schöpfer der Matrix, am Ende von «Matrix Reloaded» auf: NEO ist nicht die Alternative zur Programmierung überhaupt. Im Gegenteil, er bildet bloss die programmierte Anomalie, die innerhalb der Matrix den Kontrapunkt zur letztlich lähmenden Gleichheit darstellt.
In einer früheren Version der Matrix gab es diesen Gegenpol nicht, doch in der entsprechenden Monotonie vermochten die Menschen nicht zu leben; sie brauchen alternative Bezugspunkte, um sich als eigenständig Existierende fühlen zu können. NEO ist jetzt also der Andere vor der Folie des Gleichen, nurmehr ein Kontrasteffekt in einer allumfassenden Fiktion.
Aber selbst in dieser Funktion bleibt es ihm aufgetragen, Entscheide zu treffen. Es gibt zwei Ausgänge aus der Schaltzentrale, in der ihn der Architekt empfangen hat: Wählt NEO den einen, so erfüllt er seine programmierte Aufgabe, beendet den laufenden Zyklus und startet die Matrix neu. Entscheidet er sich für den anderen, rettet er Trinity, die sich aktuell in Todesgefahr befindet, riskiert jedoch dabei, dass die ganze digitale Welt untergeht.
Zur Freiheit verdammt
Einmal mehr steht das Allgemeine gegen das Besondere, die gesetzte Pflicht gegen individuelle Neigung. Einmal mehr resultiert die massgebliche Wirklichkeit aus einer Wahl, getreu dem Prinzip, dass die Existenz der Essenz vorausgeht. NEO wird sich natürlich für Trinity entscheiden, denn er verkörpert ja das existenzialistische Subjekt, das gerufen ist, seine Individualität gegen die Matrix des Allgemeinen zur Geltung zu bringen. Diesem Subjekt ist die Freiheit auferlegt, sich in seiner je eigenen Besonderheit herauszustellen. Das vermag es aber nur, indem es auf eigene Entschlüsse setzt, statt sich dem normalen Gang der Dinge zu fügen.
Das entscheidende Kriterium für Authentizität ist also ein Engagement, welches die persönliche Herausforderung sucht und die Last der Verantwortung auf sich nimmt. Der Existenzialist macht es sich nicht leicht. Er zeigt sich, schwimmt gegen den Strom und setzt so vor allem die fraglose Anerkennung seitens der anderen aufs Spiel. Seine gelebte Andersheit bewirkt Reibung, doch genau die verschafft ihm die Gewissheit, real zu sein.
Säkularisierter Adventismus
So ist Existenzialismus also Einspruch gegen jene defensive Form des Narzissmus, welche Einbindung sucht im Kollektiv, eben die Sicherheit im dumpfen Dunst der Herde. Er bedeutet aber auch die Absage an alles bloss Vorfindliche, zielt auf eine Überschreitung des Bestehenden – eine Transzendierung allerdings, die konsequent innerhalb der Welt verbleibt.
Doch bei allem Avantgardismus, ganz neu ist der existenzialistische Erwartungshorizont nicht: Ablösung von primären Zugehörigkeiten, Abstand zur Welt, wie sie ist, und die Erwartung eines ganz Anderen, das waren schon die Eckpunkte in der Befindlichkeit früher Christengemeinden. Insofern steht der Existenzialismus in einer langen religiösen Tradition, die er jedoch gründlich säkularisiert. Die adventistische Heilserwartung ist nicht mehr auf ein Jenseits gerichtet, sondern fokussiert sich auf eine bessere Welt.
Aber auch die ist nur mit einem Sprung zu gewinnen, nur über den Bruch mit allem Bisherigen. Der Existenzialismus folgt so einem Muster, das dem abendländischen Denken tief eingeschrieben ist, und er laboriert auch an dem damit verbundenen Paradox: Es besteht darin, dass noch immer im Namen des radikalen Bruchs die Menschen neu eingemeindet, die Gegenwürfe von gestern somit zur aktuell herrschenden Matrix wurden.
Dies ist der zweite Beitrag in einer vierteiligen Reihe.
Teil 1: «Verschleierte Zwänge»
Teil 3: «Illusorisch gewordene Befreiungen»
Teil 4: «Existenzialistisches Ethos heute»