Napoleon III., dieser „gekrönte Verschwörer“, hat unter „fluchwürdigsten, frevelsten und lügenhaftesten Vorwänden die Kriegsfackel in den Frieden und Wohlstand unseres Vaterlandes hineingeworfen“.
So beginnt eine 470 Seiten dicke deutsche „Illustrierte Geschichte des Krieges vom Jahre 1870 und 1871“. Erschienen ist das Propagandawerk 1871, kurz nach Krieg, im Druck und Verlag von Hermann Schönlein, Stuttgart.
Napoleon wird als „fluchwürdiger Emporkömmling“ bezeichnet, der „zur Befriedigung seiner Eigenliebe mit dem Wohlstand von Völkern Hazard spielt“. „Ja, es ist ein heiliger Krieg, den wir führen, den Krieg gegen die welsche Uebermut und Ländergier.“ Wir Deutsche dürfen den Krieg „freudig begrüssen als die Morgenröte der künftigen Grösse“. „Glücklich wollen wir uns preisen, den seit Jahren unvermeidlichen Krieg gegen die fränkische Niedertracht und Verhöhnung mitkämpfen, mit erleben zu dürfen.“
Der Krieg 1870/71, der am 19. Juli 1870 begann, sei den friedliebenden Deutschen aufgedrängt worden, heisst es weiter. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.
Graf Otto von Bismarck, der Regierungschef Preussens, wollte den Krieg, um Deutschland zu vereinen und zu einer europäischen Grossmacht zu machen. Und Frankreich wollte den Krieg, um das zu verhindern.
Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 krempelte die Machtverhältnisse in Europa um:
- In Frankreich wurde der Kaiser gestürzt und die Monarchie abgeschafft. Die Dritte Französische Republik entstand.
- Die norddeutschen Staaten vereinigten sich mit den süddeutschen zum (zweiten) „Deutschen Reich“. Deutschland wurde zum Kaiserreich.
- Die Franzosen verloren das Elsass und Lothringen, was den französischen Hass auf alles Deutsche steigerte, der sich 44 Jahre später im Ersten Weltkrieg entlud.
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Blenden wir zurück: Deutschland gibt es vor 150 Jahren noch nicht. Der Norddeutsche Bund vereinigt – unter preussischer Führung – alle deutschen Staaten nördlich der Mainlinie. Das Gebiet reicht von Ostpreussen bis zur Rheinprovinz. Dominiert wird der Bundesstaat vom preussischen Bundeskanzler Bismarck. Preussischer König ist
Wilhelm I.
Preussen hatte 1864 den deutsch-dänischen Krieg und 1866 den „Deutschen Krieg“ gegen Österreich gewonnen. Frankreich, das bisher Kontinentaleuropa klar dominierte, sieht dieses deutsche Streben nach Macht und Einfluss mit grosser Sorge.
Die Schmach tilgen
Frankreich musste am Wiener Kongress mehrere Gebiete, die Napoleon Bonaparte annektiert hatte, wieder hergeben, was in Frankreich als Schmach empfunden wird. Louis Napoleon, ein Neffe von Napoleon Bonaparte, war angetreten, diese Schmach zu tilgen und Frankreich wieder zur alten Grösse zu führen.
Louis steht zunächst als Staatsoberhaupt der Zweiten Französischen Republik **) vor. 1848 reisst er die Macht an sich und lässt über eine Volksabstimmung das Kaiserreich wieder einführen. Er selbst ernennt sich zum Kaiser.
Frankreichs Ängste vor einer Umklammerung
Es gibt Schulbücher, die sagen, der Krieg sei wegen der Frage der spanischen Thronfolge oder wegen der Emser Depesche ausgebrochen. Das stimmt nur teilweise.
1868 war die unglücklich regierende spanische Königin Isabella II. zurückgetreten. Spanien sucht einen Thronfolger. Preussen hat die Idee, Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen auf den spanischen Thron zu setzen. Das erzürnt die Franzosen. Ein Preussen-freundlicher König auf dem spanischen Thron? Frankreich fürchtet, so von Osten und Westen umklammert zu werden.
Die harschen französischen Proteste haben Erfolg. Leopold verzichtet auf den Thron. Doch das genügt den Franzosen nicht.
Ein Sturm nationaler Entrüstung in Deutschland
Der 73-jährige preussische Monarch Wilhelm I. hält sich in Bad Ems in Rheinland-Pfalz zur Kur auf, als ihm auf der Kurpromenade der französische Botschafter Vincent Benedetti die Forderung überbringt, „für immer und ewig“ (à jamais) auf den spanischen Thron zu verzichten. Soweit will der König nicht gehen und weist die französische Forderung als unzumutbar zurück.
Wilhelm schickt daraufhin am 13. Juli 1870 Bundeskanzler Bismarck ein Telegramm. Darin berichtet er über die Begegnung in Bad Ems. Dieses Telegramm geht als „Emser Depesche“ in die Geschichte ein. Doch Bismarck manipuliert den Text, kürzt und verschärft ihn – und übermittelt ihn der Presse. Der Kanzler stellte in dem Text Deutschland als Opfer einer kriegstreibenden französischen Aggression dar. Damit hat er erreicht, was er will. In Deutschland erhebt sich ein Sturm nationaler Entrüstung gegen den „Friedensbrecher“ Frankreich. Und der französische Kaiser Napoleon III. schwört Rache.
Sicher ist: Der Krieg wäre auch ohne die spanische Thronfolgerfrage und ohne die Emser Depesche früher oder später ausgebrochen.
Der Krieg
Sechs Tage nach der Publikation der von Bismarck manipulierten Depesche, am 19. Juli 1870, erklärt Frankreich dem Norddeutschen Bund den Krieg. Zu den prominenten französischen Kriegsbefürwortern gehört Napoleons spanische Frau Eugénie, die vor allem in Biarritz residiert.
Doch die französische Mobilmachung verläuft schleppend. Mühsam rufen die Franzosen 340’000 Mann unter die Waffen. Deutschland hingegen hat sich offenbar schon länger auf den Krieg vorbereitet und mobilisiert schnell 520’000 Mann. Dank dem ausgebauten deutschen Eisenbahnnetz werden sie im Nu an die französische Grenze gebracht.
Schwache Franzosen
Die Franzosen verlieren sogleich alle grösseren Schlachten: das Gefecht bei Saarbrücken (2. August), die Schlacht von Weissenburg (4. August), die Schlacht bei Wörth (6. August), die Schlacht bei Spichern (6. August).
Nach der Niederlage in der Schlacht von Sedan nordwestlich von Metz am 1. September 1870 ist der Krieg schon entschieden.
Napoleon begibt sich mit dem Zug nach Donchery bei Sedan, wo er Bismarck in einem heruntergekommenen Häuschen, dem Maison Tisserand, trifft. Die beiden konferieren eine Stunde miteinander. Napoleon unterzeichnet schliesslich die Kapitulationsurkunde der Schlacht von Sedan.
Anschliessend wird der Kaiser gefangen genommen und auf Schloss Wilhelmshöhe bei Kassel gebracht. Das französische Kaiserreich bricht zusammen. In Paris bildet sich eine provisorische Regierung. Damit wird die Grundlage für die Dritte Französische Republik gelegt.
Doch auch die provisorische Regierung führt den Krieg weiter und mobilisiert erneut Tausende – und verliert weiter fast jede Schlacht. Am 19. September 1870 wird Paris von den Deutschen umklammert.
Am 27. Oktober kapitulieren die Franzosen in Metz.
Einzig Belfort nahe der Schweizer Grenze leistet vom 3. November bis 16. Februar Widerstand, ebenso die Verteidiger der Zitadelle von Bitsch in Lothringen. Hier finden die letzten grossen Kämpfe statt.
Die Bourbaki-Armee
Im Januar 1871 suchen 87’000 französische Soldaten der Bourbaki-Armee („L’Armée de l’Est) Zuflucht in der Schweiz und überqueren die Schweizergrenze im Neuenburger und Waadtländer Jura. Sie werden entwaffnet, interniert und sechs Wochen lang medizinisch versorgt und ernährt.
Die Internierten, die 3 Prozent der Schweizer Bevölkerung ausmachten, stellen eine schwere wirtschaftliche Belastung für den noch jungen schweizerischen Bundesstaat dar. Trotzdem werden die Soldaten mit grosser Hilfsbereitschaft aufgenommen und auf 190 Ortschaften in der französischen und deutschen Schweiz verteilt.
In vielen Kreisen der Schweiz lagen die Sympathien in diesem Krieg eher bei den Franzosen. Vielleicht deshalb, weil man ein starkes Deutschland unter preussischer Führung mit Unbehagen betrachtete.
1700 Internierte sterben in der Schweiz an Erschöpfung oder Krankheiten. Frankreich zahlt später der Schweiz 12 Millionen Franken für die Unkosten.
Fast 190’000 Tote
Am 26. Februar 1871 unterzeichnet Adolphe Thiers, der Staatspräsident der Dritten Französischen Republik, den Vorfrieden von Versailles. Damit gehen die Kämpfe zu Ende. Sie hatten knapp sieben Monate gedauert und fast 190’000 Tote gefordert (auf französischer Seite starben 140‘000 Soldaten, auf deutscher Seite 45’000). Offiziell geht der Krieg am 10. Mai 1871 mit dem Frieden von Frankfurt zu Ende.
Das Deutsche Reich
Bismarck war es schon während des Krieges gelungen, die süddeutschen Staaten Bayern, Baden und Württemberg an den Norddeutschen Bund anzugliedern. Aus dem Norddeutschen Bund wurde das (zweite) Deutsche Reich ***).
Die Proklamierung des Deutschen Reichs und die Krönung Wilhelms I. fand am 18. Januar 1871 statt – ausgerechnet im Spiegelsaal von Versailles: welche Demütigung für die Franzosen.
Deutsche Kaiserkrönung im Spiegelsaal von Versailles: War dieser Affront nötig?
„Blutige Maiwoche“
Frankreich kommt nach dem Friedensschluss nicht zur Ruhe. Revolutionäre Kräfte, Mitglieder der „Pariser Kommune“ versuchen die konservative Zentralregierung zu stürzen und eine „sozialistische“ Regierung einzusetzen. Die Revolutionäre verlangen unter anderem die Trennung von Kirche und Staat, gleiche Rechte für Mann und Frau und eine Besserstellung der verarmten Bevölkerung. Der Aufstand der Kommunarden gipfelt in der „Blutigen Maiwoche“: Barrikaden werden aufgebaut, überall werden Brände gelegt, 30’000 Menschen werden in Kämpfen getötet oder hingerichtet. 40’000 werden gefangen genommen.
Frieden mit Sprengkraft
In der Illustrierten Geschichte des Kriegs von 1871 heisst es zum Schluss: „So haben wir Deutsche nach dem uns mutwillig aufgedrungenen Kriege wieder den Frieden.“ Doch es war ein Frieden mit Sprengkraft.
Den Verlust von Elsass und Lothringen haben die Franzosen nie verkraftet. 48 Jahre später, nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, wird – wieder im Schloss Versailles – der Versailler Vertrag unterzeichnet. Er bezeichnet die Deutschen als Alleinschuldige des Ersten Weltkrieges und bürdet ihnen horrende Reparationszahlungen auf und fordert eine radikale Abrüstung. Zudem sieht er weite deutsche Gebietsabtretungen vor. Das Elsass und Lothringen werden wieder französisch.
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Nach seiner Kapitulation bei Sedan hatte Napoleon um eine Zusammenkunft mit König Wilhelm gebeten. Diese fand im Schlösschen Bellevue bei Sedan statt. Wilhelm, Bismarck und General Moltke wurden auf der Treppe vom abgesetzten Kaiser empfangen. „Napoleon war in grosser Uniform mit Grosscordon der Ehrenlegion“, heisst es in der Illustrierten Geschichte des Krieges. „Sichtlich erschüttert verbeugte er sich tief vor dem König, welcher tief ergriffen war, aber eine würdige, ernste Haltung bewahrte.“
Nach seinem Sturz ging Napoleon nach England ins Exil. Zwei Jahre später starb er. Nach einer Blasensteinoperation wurde er mit Chloroform behandelt, was zu seinem Tod führte. Die letzten Worte, die er seinem Arzt sagte, waren: „Étiez-vous à Sedan?“
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*) „Illustrierte Geschichte des Krieges vom Jahre 1870 und 1871“, Stuttgart: Druck und Verlag von Hermann Schönlein, 1871.
**) Die Erste Französische Republik entstand während der Französischen Revolution 1792. 1804 liquidierte sie Napoleon Bonaparte, führte das Kaiserreich ein und krönte sich zum Kaiser.
Die Zweite Französische Republik dauerte von 1848 bis 1852. Staatspräsident war Louis Napoleon, ein Neffe Napoleon Bonapartes. 1852 schaffte er die Republik ab und liess sich zum Kaiser Napoleon III. krönen.
***) Als Erstes Deutsches Reich wird das Heilige Römische Reich deutscher Nation bezeichnet, das von der Zeit Karls des Grossen bis 1806 dauerte.