Gantner gibt sich im ausführlichen NZZ-Interview als biederer Schweizerbürger, der in der politischen Mitte beheimatet ist. Er will mit seinem, von ihm mit einem „mittleren sechsstelligen Betrag“ unterstützten Aktionskomitee „Kompass Europa“ gegen den Rahmenvertrag kämpfen, aber weder in die Politik einsteigen noch ins Blocher-Lager gezählt werden. Ob dies zum Nennwert genommen werden kann? Der Kampf der schweizerischen Europhoben gegen die EU wird seit jeher sowohl via eine politische Partei, die SVP, als auch „unabhängige“ Aktionskomitees geführt.
Der Vergleich im Interview von „Kompass“ mit „Libero“ ist eine Beleidigung für diese überwiegend von zahllosen kleinen Beiträgen unterstützte politische Kampagnebewegung, die sich für eine offene Schweiz einsetzt
Zu klein
Gantners Begründung der Opposition zum Rahmenvertrag zeigt, dass er keine Ahnung hat vom Projekt der europäischen Einigung und den immensen Anstrengungen dahinter, unseren Kontinent wirtschaftlich und politisch auf Augenhöhe mit den Supermächten des 21. Jahrhunderts zu bringen. Die EU also, deren wichtigste Vertreter sehen, dass die europäischen Länder einzeln weder wirtschaftlich noch politisch und schon gar nicht sicherheitspolitisch in der Lage sind, ihren Sitz am Verhandlungstisch der Grossen (USA, China, Indien/ASEAN, dereinst wohl auch einmal Afrika) in die Zukunft hinein bewahren zu können. Originalton von Angela Merkel: „Deutschland allein ist zu klein.“
Der hier oft gehörte Einwand der unabhängigen innovativen Kleinschweiz als dem künftigen „Singapur Europas“ fällt flach. Singapur, wo der Schreibende sechs Jahre lang die Schweiz vertreten hat, ist ein Vorreiter des internationalen Zusammenschlusses zur Bündelung aller gleichgesinnten Kräfte, weil seine Dirigenten wissen, dass nur so der chinesische Drache im Zaun gehalten werden kann.
Binnenmarkt
Die Schweiz, dies ist von allen seriösen Kommentatoren hierzulande unbestritten, profitiert in hohem Masse vom europäischen Binnenmarkt. Dieser wird ermöglicht durch eine Vereinheitlichung aller Rahmenbedingungen, um dem Fluss der vier Freiheiten – Güter, Dienstleistungen, Personen, Kapital – zu gewährleisten. Ein historischer Vergleich ist das Zusammenwachsen unseres Landes vom Staatenbund zur sehr föderal aufgebauten Schweiz, wie wir sie heute kennen. Genauso wie das die Schweiz damals tat, wird heute der Binnenmarkt in Europa durch einheitliche Regeln gestützt. Wer am Markt teilnimmt, unterliegt dieser Rechtsordnung. Dabei von der der Schweiz drohenden EU-Gerichtsbarkeit zu faseln, wie dies Gartner tut, ist etwa so sinnvoll wie der Appenzell-Innerrhödler, welcher sich bei der Einführung des Frauenstimmrechts gegenüber dem Bundesgericht in Lausanne auf seine Landsgemeinde berief.
EU-Gesetzgebung
Als abschreckendes Beispiel solcher EU-Gesetzgebung erwähnt Gantner die europäischen Datenschutzrichtlinien. Ausgerechnet. Denn erstens gelten diese Vorschriften für alle schweizerischen Unternehmen, welche in ihrer weit überwiegenden Mehrzahl auch in Europa tätig sind, ohnehin. Und zweitens kommt diesen im Urteil internationaler Fachleute eine Pionierrolle im Konsumentenschutz zu. Bekanntlich sind die Schweizer dank der im Binnenmarkt verankerten Wettbewerbskraft unseres Landes auch grosse Konsumenten.
Der Preis, den Boris Johnson für seine „Unabhängigkeit“ von der EU und ihrer Gesetzgebung zahlt, ist hoch und bekannt. Ein Freihandelsabkommen von der Art des Brexit-Austrittsabkommens eliminiert Zölle, lässt aber alle anderen Handelshemmnisse intakt. Dienstleistungen, insbesondere im Finanzsektor sind im Abkommen nicht eingeschlossen. Die Folgen für Grossbritannien machen sich bereits deutlich bemerkbar; sie reichen von verdorbenem Fisch auf dem Weg von Schottland auf den Kontinent bis hin zur Verlagerung des Wertpapierhandels weg von der Londoner Börse. Die Schweiz als europäisches Kernland kann sich eine solche Isolation schlicht nicht leisten.
Rahmenabkommen als Voraussetzung
Gantner bleibt unbestimmt, was er will anstelle des Rahmenabkommens. Er verweist auf Fortführung bilateraler Zusammenarbeit auch ohne ein solches Abkommen. Das ist unmöglich. Die zahlreichen Bereiche der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU brauchen ein Dach, welches für beide gemeinsam ist, beide schützt und beide an anderen Problemen in Ruhe arbeiten lässt. Von Brüssel einen Sonderweg allein für die Schweiz verlangen zu wollen, ist helvetischer Grössenwahnsinn. Höflicher, aber ebenso klar hat dies Brüssel gegenüber allen schweizerischen Unterhändlern auch festgestellt. Entweder ein Rahmenvertrag oder ein schweizerisches (Wirtschafts)leben in der Kälte des europäischen Aussenseiters. Was in der Schweiz nur von nationalistischen Extremisten meist, aber nicht nur von rechts vertreten wird.
Finanzunternehmer
Gehört Gantner zu diesen, unbesehen seiner behaupteten Mittestellung? Unklar, wenn er im NZZ-Interview beispielsweise seine Abscheu kundtut gegenüber den „kompromisslos globalen und liberalen Denkern“ in „Avenir Suisse“. Kennt man diese Ansicht nicht von der links-nationalistischen Seite? Das tönt doch sehr nach politischer Anbiederung nach allen Seiten.
Was Gantner wohl wirklich will, ist seine offensichtlich lukrative Tätigkeit als Finanzunternehmer – Aufkauf von Unternehmen, diese „auf Vordermann bringen“, um sie dann zu „assetstrippen“ – ungestört von allen ihm lästigen Auflagen weiterzuführen. Diese Absicht sei ihm unbenommen. Sie berechtigt ihn aber nicht, mit viel eigenem Geld und ohne gültige Argumente die kommende Abstimmung über das Rahmenabkommen beeinflussen zu wollen. Denn die ganze grosse Mehrheit schweizerischer Unternehmen und der Schweizerinnen und Schweizer dahinter braucht eine funktionierende Anbindung an den europäischen Binnenmarkt.