Wenn man einen Blick auf diese symbolischen Schichten wirft, öffnet sich unversehens eine überraschende psychische, soziale und kulturelle Landschaft.
Die Freudianer
Zunächst: Klopapier hat in der Regel mit dem Anus zu tun, und das ruft umgehend die Freudianer auf den Plan. Gemäss Freud entdeckt bekanntlich das Kleinkind seinen Kot als erstes wertvolles „Geschenk“. Aus der Kontrolle dieses Geschenks – zurückbehalten oder loslassen – lernt das Kind Kontrolle über sich. Klopapier erinnert uns also an die Geburt des Selbst aus dem Defäkationsverhalten – unbewusst natürlich. Sauberkeitskontrolle sei eine der ersten Kontrollen, sagt uns heute eine Psychoanalytikerin, deshalb erzeuge die Aussicht auf einen Mangel an Klopapier einen regressiven Druck. Angst bedeutet „Schiss“. Klopapierkauf ist Aufrüstung gegen den Schiss – gegen die Bedrohung durch das Unwillkürliche, das einen die Kontrolle über sich selbst verlieren und zu einem inkontinenten, schmutzigen Kind regredieren lässt.
Klopapierhamstern und Erdölkrise
Was man von einer solchen Psychoanalyse des Klopapiers auch halten mag, kulturspezifischeren Aufschluss gibt die Frage: Warum ausgerechnet dieses Material? Was sagt uns Klopapier über das Wesen moderner Gesellschaften?
Tatsächlich ist es nicht das erste Mal, dass Panik rund ums Klopapier ausbricht. Bereits in den 1970er Jahren beobachete man einen ähnlichen Schock in Japan, nicht aufgrund eines Virus, sondern eines Ölpreisanstiegs. Im Oktober 1973 verbreiteten sich Gerüchte in Osaka, dass mit dem Ölpreis auch der Preis für Klopapier rasant hochschnellen würde. Die Massenmedien verstärkten das Gerücht und schon im November formierten sich Schlangen vor den Geschäften. Ein paar Tage später sprang der Schock epidemieartig über auf Tokyo und Yokohama. Wie die Historikerin Eiko Maruko Siniawer schreibt, waren die Panikkäufe symptomatisch für eine Kultur, in der „die Möglichkeit des Konsums und der Wunsch nach Sauberkeit und Komfort Wurzeln geschlagen hat“. Im Klopapiermangel sah die aufstrebende Konsumentenklasse gewissermassen die Gefahr der Entwurzelung.
Eine Papierhierarchie
Also nochmals: Warum Klopapier? Hier nun lohnt sich ein genauerer Blick auf die symbolischen Lagen, in denen Papier auftritt: auf eine Papierhierarchie sozusagen. In jedem Haushalt existiert viel Papier, Papier verschiedenster Sorte. So zum Beispiel Bücher. Einige haben hohes Ansehen, wie die Bibel, womöglich auch grossen pekuniären Wert, wie eine seltene Ausgabe des „Don Quichote“. Zu einigen haben wir eine emotionale Bindung, wie zu Tagebüchern oder zur zerfledderten Ausgabe des „Tom Sawyer“, die man als Kind verschlang; andere Bücher halten wir als intellektuelle Prestigeobjekte im Regal, die man nie gelesen hat – etwa Marxens „Das Kapital“ oder Sartres „Das Sein und das Nichts“.
Das ist die oberste, die „sakrale“ Schicht in der Papierhierarchie. Man schätzt das Papier aufgrund seiner semiotischen Funktion. Darunter liegt Papier, das seinen Wert teilweise von dieser Funktion, teilweise auch von seinen materiellen Eigenschaften bezieht: Zeitungen, Magazine, Groschen- und Rätselhefte. Ihr urspünglicher immaterieller Wert als Bedeutungssträger verblasst mit der Zeit, und sie bleiben übrig als Materia prima: Abfall, Putzmittel, Isolation. Noch eine Schicht tiefer finden wir Papierservietten, -becher, -teller, Kaffeefilter, Haushaltspapier; und zuunterst das, ja, das Klopapier.
Klopapier und der Lokus
Normalerweise stellen wir Klopapier nicht ins Büchergestell. Wir gebrauchen es auf dem Lokus. Allein schon die „lokale“ Charakteriserung des Gebrauchs ist Symptom für die besondere gesellschaftliche Stellung dieser Sorte Papier. Der Gang auf den Lokus ist das Aufsuchen eines sozial „abgeschiedenen“ Ortes, wie ihn etwa auch der Beichtstuhl darstellt. In öffentlichen Toiletten trennen Kabinen die Leute bei ihrem Geschäft – im Gegensatz etwa zum alten Rom, wo zum Beispiel die Bäder von Caracalla Sitzplätze für über 1600 Notdürftige bereitgehalten haben sollen. Heute verrichtet man die Notdurft im Stillen. Kommunikation durch Kabinenwände hindurch gilt als zwielichtig. Auch stellt man eine typische Ambivalenz von Sauberkeit und Schmutz fest. Der Raum der öffentlichen Toilette ist ein schmutzig-sauberer Raum, ein Schwellenraum zwischen Natur und Gesellschaft sozusagen. Wenn die Natur „ruft“, „entgesellschaften“ wir uns auf dem Häuschen, werden wir vorübergehend pure Physiologie, und wir vergesellschaften uns wieder beim Verlassen. Dabei fungiert das Hinternabwischen quasi als Übergangsritus, und dem Klopapierrollenhalter kommt die Bedeutung eines magischen Objekts zu, eines Talismans. Er schützt uns davor, beschmutzt ins normale soziale Leben zurückkehren zu müssen.
Die Multifunktionalität von Klopapier
Klopapier hat die einzige Funktion, unseren Dreck aufzusaugen. Aber schauen wir etwas näher hin. So monofunktional ist es nicht. Weil sich sein Wert nahezu von nichts herleitet, was auf ihm geschrieben steht – ausser, es sei besonders designt –, kann man das Klopapier als Paradigma des unbeschriebenen Blatts betrachten, als Nullpunkt des Gebrauchs. Mit ihm lassen sich Kommoden abstauben, Kindernasen putzen; lässt sich Politikern zuwinken, Feuer machen (Vorsicht!) und eine To-do-Liste erstellen; man kann es als Trichter verwenden und, wenn man geschickt ist, sogar zu einem Flugzeug oder Schächtelchen falten; oder man kann mit Pappmaché aus Klopapier Fruchtschalen modellieren.
Gerade diese materielle Vielfältigkeit macht das Klopapier zum Fundament normalen häuslichen Lebens. Aber mehr noch: Es kann, speziell in Notsituationen, auch semiotische Funktionen übernehmen. Hiezu ein Beispiel. Der Film „V wie Vendetta“ erzählt die Geschichte einer totalitären Machtübernahme in Grossbritannien. (1) Darin gibt es eine aufschlussreiche Episode. Die Protagonistin Evey wird in einer Zelle gefangengehalten. Sie entdeckt auf Klopapierblättern in einer Mauerritze die Epistel eines ehemaligen Insassen. Tatsächlich handelt es sich um das Gründungsdokument einer neuen freien Gesellschaft. Die Botschaft weckt das politische Bewusstsein von Evey. Sie wird zur Revolutionärin.
Der japanische Anthropologe Grant Jun Otsuki deutet das so: „Während wir extravagantes Papier (...) verwenden mögen, um die fundamentalen Gesetze einer Nation niederzuschreiben, so haben diese Wörter in gewisser Hinsicht keine Bedeutung, wenn sie nicht auch auf Klopapier festgehalten werden und die gleiche potentielle Kraft ausüben können. Ohne die Möglichkeit, eine Verfassung auf Charmin-Klopapier zu schreiben, wäre moderne Demokratie undenkbar.“ Wenn Klopapier unseren Dreck aufnehmen kann, dann auch unsere Gedanken. Es verbindet Körper und Geist.
Ein sehr ernstes Problem
In den Hamsterkäufen äussert sich eine allgemeinere Notdurft. Die symbolische Wirkmacht des Klopapiers steckt tief in der Psyche des Homo consumens. Vielleicht kann deshalb allein schon die Aussicht auf Knappheit dieses Stoffs unsere Psyche derart aufschrecken und uns zu panischen Reaktionen veranlassen. Klopapier verkörpert und verheisst Sicherheit, Sauberkeit, System. Wo diese gefährdet sind – sei es durch eine Ölkrise oder Pandemie –, setzen wir Abwehrmechanismen in Gang.
Und hier kommt schliesslich die buchstäblich letzte Lage zum Vorschein – eine hässliche. Die Frage stellt sich nämlich: Welchen Preis zahlen wir für unser Bedürfnis nach Sicherheit, Sauberkeit, System? Der Konsum von Klopapier ist in „fortschrittlichen“ Ländern bekanntlich immens, und die Holzindustrie prosperiert. Der Holzverbrauch dürfte sich als weitaus desaströser herausstellen als das Coronavirus. Es ist zu hoffen, dass uns der planetarische grippale Schock die Augen öffnet für die eigentlichen Probleme, die vor uns liegen. Dazu gehört der Klopapierverschleiss. Und vielleicht wird uns dämmern, dass Hinternabwischen überhaupt erst zu diesen Problemen beigetragen hat.
Postskriptum: Klopapier für Bullshit und Klugschiss gibt es noch nicht, dabei wäre eine goldene Nase damit zu verdienen.
(1) Der Film wird am 5.April auf Sat 1 ausgestrahlt.