Als die Malerin Georgia O´Keeffe im Jahr 1917 Paul Strand in New York begegnete, schrieb sie danach an ihre Freundin Anita Pollitzer: „Er zeigte mir viele seiner Fotografien. Und ich habe wegen ihnen fast den Verstand verloren.“ Wohlgemerkt, das schrieb eine damals schon sehr bekannte Malerin, die im übrigen mit einem der berühmtesten Fotografen dieser Zeit in enger Verbindung stand: Alfred Stieglitz.
Im Modus der Langsamkeit
Offensichtlich förderten die Bilder von Paul Strand etwas zu Tage, was auch eine Malerin kurzzeitig aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Einige Jahre später schrieb Georgia O´Keeffe über Paul Strand im Zusammenhang mit seiner Frau Rebecca: „Rebecca war eine sehr lebendige, schlanke, junge Frau, und Strand war dick und langsam.“ - Es ist diese Langsamkeit, die zu der Methode Paul Strands gehörte. In diesem Modus erschloss er die Welt.
Er brauchte Zeit, um sorgfältig zu beobachten. Er brauchte Zeit, um das, was er beobachtete, in der ihm eigenen Gründlichkeit zu analysieren. Er las viel. Um aus seinen Beobachtungen und seinem Wissen Bilder entstehen zu lassen, die genau seinen Vorstellungen entsprachen, war wiederum viel Zeit erforderlich.
Das galt nicht nur für seine geradezu magischen Bilder von Pflanzen und Mineralien, von seinen Aufnahmen von New York oder von Landschaften, sondern auch für Portraits. Es konnte Stunden dauern, bis er endlich den Hintergrund, den Gesichtsausdruck und das Licht so arrangiert hatte, dass alles ein für ihn stimmiges Bild ergab.
Äusserste Sorgfalt
Damit war die Arbeit aber noch nicht getan. Denn nun ging es darum, die Bilder mit grösstmöglicher Sorgfalt herzustellen. Wie kaum ein anderer Fotograf hat Paul Strand an seinen Kopien gearbeitet und mit ihnen experimentiert. Es entstanden Unikate. Serielles Kopieren der Bilder wurde seinen hohen Ansprüchen an äusserste Sorgfalt nicht gerecht. 1949 führte er darüber einen Disput mit keinem Geringeren als Ansel Adams.
Forscher mit der Kamera: Zu einem richtigen Forscher gehört auch das unbeobachtete Beobachten. Das ist ein grosses Thema, wenn es um Menschen geht. Wie kann man sie beobachten und fotografieren, ohne dass sie es bemerken? Im Jahr 1916 setzte Strand auf seine Ensign-Kamera einen Prismensucher und brachte eine Tricklinse an. Auf diese Weise konnte er so tun, als fotografiere er etwas ganz anderes als die Menschen, die er über sein Prisma einspiegelte. Auch später, etwa bei seinen Bildserien in Luzzara, verwendete er ein Prisma, das er allerdings direkt auf dem Objektiv seiner Gaflex-Kamera anbrachte.
Das alles muss man nicht explizit wissen, um von der eigentümlichen Kraft, die von den Bildern Paul Strands ausgeht, in der Ausstellung im Fotomuseum Winterthur von Anfang an in den Bann geschlagen zu werden. Eine Besonderheit besteht darin, dass seine frühen Bilder sehr dunkel gehalten sind. Um die Kopien, die er selber angefertigt hat, zu schützen, herrscht in zwei Räumen der Ausstellung im Fotomuseum Winterthur stark gedämpftes Licht.
Paul Strand und der Film
Das ist gut für die Einstimmung, denn es erhöht die Konzentration bei der Begegnung mit diesem Urgestein der Fotografie. Der Weg ist dann lang: Von den ersten Anfängen führt er bis zu seinen letzten Bildern aus dem Garten seines Hauses in Orgeval, nahe Paris. Es handelt sich, wie das Fotomuseum Winterthur betont, um die erste gross angelegte europäische Retrospektive zum Werk von Paul Strand. Sie wurde durch die Neuerwerbung von 3000 Abzügen seitens des Philadelphia Museum of Art ermöglicht. Schon vorher hatte das Museum Bilder von Paul Strand erworben und ausgestellt.
Aber es werden nicht nur Bilder gezeigt. Zeitweilig hat sich Paul Strand dem Film verschrieben. Auch da ging er eigene Wege, die ihn zu wirklichen Innovationen führten. 1920 drehte er zusammen mit dem Maler und Fotografen Charles Sheeler einen Film über das Leben in New York City. Der Film trug den Titel „Manhatta“, was ebenso eigenwillig wirkt wie das Konzept.
Dieser Film hatte es in sich. Er lebte ganz von den Impressionen des Fotografen, der seine ikonographischen Bilder behutsam in Bewegung versetzte und dazu Verse aus Walt Whitmanns Gedichtband, Leaves of Grass, einblendete. Er erfasste die Schwingung dieser Stadt, ohne damit eine romantische Harmonie zu verbinden. Dieser Film war Avantgarde, aber er konnte mit Erfolg wieder und wieder aufgeführt werden.
In der Ausstellung sind noch Ausschnitte zweier anderer Filme zu sehen, Redes, 1936, und Native Land, 1942. Redes ist ein Spielfilm und handelt von Fischern in Veracruz, die für bessere Löhne streiken. Und Native Land handelt von den Versuchen in den USA, die Gewerkschaften zu zerschlagen. Strand hat ganz ähnlich wie Robert Frank aus der Praxis des Fotografen heraus die ästhetischen Möglichkeiten dieses neuen Mediums ausloten wollen. Und es gab massive wirtschaftliche Gründe, die ihn nach lukrativen Verdienstmöglichkeiten suchen liessen.
Entzg des Passes
Denn er lebte in schwierigen Zeiten. Die Wirtschaftskrise machte ihm schwer zu schaffen. Und auf seinen Reisen, zum Beispiel nach Mexiko, erlebte er das Elend der Arbeiter. Sein Herz schlug links, wobei er sich aber nicht politisch klar für die eine oder andere Richtung entscheiden konnte. Aber den amerikanischen Behörden war er suspekt genug, so dass ihm während eines mehrjährigen Aufenthalts in Frankreich Anfang der 1950er Jahre der Pass entzogen wurde. Man muss sich klarmachen: Im Jahr 1945 war er noch zu einem Essen im Weissen Haus von Präsident Roosevelt eingeladen worden.
Paul Strand war viel auf Reisen. Länder und Gesellschaften erkundete er wie vorher seine Pflanzenformationen, Mineralien und Städtelandschaften. Daraus entstanden zahlreiche Fotobücher. Einen wesentlichen Einfluss haben dabei auch seine Frauen gespielt: In zweiter Ehe war er mit Virginia Balch verheiratet, in dritter Ehe bis zu seinem Tod mit Hazel Kingsbury. Seine Frauen waren seine Musen. Aber wie es bei einem kreativen Menschen wohl unvermeidlich ist, gab es Wegbiegungen. Dort blieben Gefährten zurück. So war es mit mit seinem Ko-Produzenten von Manhatta, Charles Sheeler, und mit Alfred Stieglitz, der ihn gefördert hatte, dem er viel verdankte, aber mit dem er schliesslich brechen musste.
Aber seine Bilder sind von überwältigender Harmonie. Es ist, als hätte er in das Innerste der Dinge und der Menschen geschaut, um sie in ihrem eigentlichen Wesen hervortreten zu lassen. Deswegen wird man seine Bilder nie vergessen. Und in Bezug auf die Ausstellung kann man von einem doppelten Glücksfall sprechen:
Der Begleitband
Das Fotomuseum Winterthur hatte das Glück, sich auf die Sammlung des Philadelphia Museum of Art stützen zu können. Und zusätzlich hat das Philadelphia Museum einen Begleitband herausgegeben, der im Umfang, Format und mit seinen Begleittexten das Beste ist, was man sich zu dieser Ausstellung wünschen kann. In den hervorragenden Texten von Peter Barberie und Amanda N. Bock kann man über die pointierten Einführungen des Fotomuseums Winterthur hinaus noch einmal gründlich nachlesen, wie es war mit dem Pictorialismus, der Paul Strand um 1910 so stark beschäftigte, wie er vom Kubismus beeinflusst war und welchen grossen Einfluss 1913 die International Exhibition of Modern Art, besser bekannt als „Armory Show“, nicht nur auf ihn, sondern auf die gesamte amerikanische Kunst hatte.
Vieles bleibt unauslotbar. Paul Strand hat mit grossformatigen Kameras, zum Teil auch mit der Gaflex, einer Mittelformatkamera, gearbeitet. Zeit seines Lebens hat er sich auf diese schwerfälligen Techniken – auch noch bei seinen letzten Aufnahmen in Orgeval – gestützt. Langer Atem, Geduld, Demut gegenüber den Dingen: So tritt Harmonie hervor. Das gibt zu denken.
Paul Strand. Fotografie und Film für das 20. Jahrhundert, Fotomuseum Winterthur, 7. März 2015 bis 17. Mai 2015
Begleitband: Paul Strand. Master of Modern Photography, hg. vom Philadelphia Museum of Art und Yale University Press in Zusammenarbeit mit der Findación MAPERE, 374 Seiten, im Museumsshop 69 CHF