Es gehört zur Nachkriegsrhetorik des 20. und 21. Jahrhunderts, dass sich exzessive Gewaltausbrüche nicht wiederholen dürften. Die Abgründe, die sich aufgetan haben, werden mit Worten zugeschüttet. „Nie wieder“ sollen die Gespenster der Vergangenheit zurückkehren.
Verpönte Körperstrafen
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und die Gegenwart lehren etwas anderes. Die Gewalt ist nicht zurück gegangen, im Gegenteil. Massenvernichtung und Massaker bestimmen zahlreiche Tagesordnungen - allem Gedenken und Mahnen zum Trotz. Aber die Gewalt bleibt ein Skandal, mit dem sich „zivilisierte“ oder „kultivierte“ Menschen nicht abfinden können. Sie darf nicht sein.
Denn sie gehört nicht zu unserer Kultur, jedenfalls nicht zu der Kultur, wie sie sich „zivilisierte“ und „kultivierte“ Menschen denken. In ihren Augen zeichnet sich Kultur durch den immer weitergehenden Verzicht auf Gewalt aus. Gewalt ist verpönt. Wer schlägt, hat Unrecht. Auch der strafende Staat setzt im Rahmen seiner Justiz keine Körperstrafen mehr ein.
Zivilisation als Illusion
Es gäbe also eine relativ einfach zu erzählende Geschichte: Früher waren die Menschen grob, ihre Umgangsformen rau, und von Zeit zu Zeit warfen sie alle Hemmungen ab und richteten Massaker an. Ganze Völker vernichteten sich gegenseitig. Aber die Vernunft setzte sich mehr und mehr durch, das Kriegsrecht wurde in Paragraphen gegossen und Konflikte werden zunehmend gewaltlos gelöst. Das ist, grob vereinfacht, die These von Norbert Elias, die er in seinem „Prozess der Zivilisation“ breit entfaltet hat.
Diese Geschichte ist zu schön, um wahr zu sein. Denn der Mensch ist bei genauer Betrachtung längst nicht so „zivilisiert“ und „kultiviert“, wie er glauben möchte. Das ist die These des grossen Gegenspielers von Norbert Elias, dem Soziologen Zygmund Bauman. Er sieht in der Moderne ein Ungeheurer, das bloss so tut, als sei es gewaltfrei. Dabei schimmert die Gewalt überall durch und von Zeit zu sein bricht sie sich ungehemmt Bahn. Ganz auf dieser Linie hat der schwedische Friedensforscher Johan Galtung mit dem Begriff der „strukturellen Gewalt“ in den 1960er und 70er Jahren Furore gemacht. Auch für ihn ist die Gewalt nicht verschwunden, sondern hat sich in Strukturen sedimentiert, die den Menschen unterdrücken und lenken.
Gewalträume
Historiker, Sozialwissenschaftler, Psychologen und Vertreter anderer Wissenschaften beissen sich am Phänomen der Gewalt die Zähne aus. Sie bleibt ein Skandal, für den es bis heute keine schlüssige Deutung gibt. Der Historiker und Philosoph Jörg Baberowski hat jetzt einen Band mit Essays unter dem Titel, „Räume der Gewalt“, vorgelegt. Baberowski lehrt osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin und hat sich mit mehreren Büchern über den Terror der Sowjetunion grosse Anerkennung erworben. Auch der jetzige Band wird von den meisten Kritikern sehr gelobt.
Er setzt sich mit Elias, Bauman und Galtung auseinander und bleibt allen gegenüber skeptisch. Sein Grundgedanke besteht darin, dass sich Gewalt immer in bestimmten Räumen abspielt beziehungsweise sich ihre Räume schafft. In diesen Räumen gelten im Zeichen der Gewalt ganz andere Gesetze als im zivilen Leben. Was zuvor undenkbar war oder unter schwerer Strafe stand, wird nun zum Mittel im Kampf ums Überleben. Gewalträume verändern die Menschen zur Unkenntlichkeit.
Verstörende Frage
Baberowski schildert diese Vorgänge in aller Ausführlichkeit. Wie wenn er mit einer Lupe ausgerüstet wäre, schaut er in die Räume der Gewalt und kann dennoch genau so wenig wie andere Autoren die Bruchlinie überwinden, die das zivile Leben von den Gewaltexzessen trennt. Das Grauen lässt sich schildern und betrachten, aber kann man es wirklich begreifen?
Es gibt keine Frage, die verstörender ist. Denn wenn die Gewalt ihr vorläufiges Ende findet, kehren diejenigen, die sie ausgeübt und überlebt haben, heim. Zumeist nehmen sie wieder die Plätze ein, die sie vorher schon hatten. Unter den Heimkehrern gibt es Traumatisierte, für die ein bürgerliches Leben nicht mehr möglich ist. Manche begehen Suizid. Aber die Mehrheit lebt weiter, als wäre nichts geschehen. Wie aber ist die Normalität zu deuten, wenn unter ihrer Oberfläche von Zeit zu Zeit und von Raum zu Raum alles zusammenbrechen kann, worauf ein normaler Mensch vertraut?
Heimlicher Voyeur?
In dem ausführlichsten Kapitel seines Buches versucht Baberowski eine „Anthropologie der Gewalt“. Wieder und wieder ringt er mit dem Unfassbaren und sucht nach einer Antwort. Dabei spielen die Bücher des Soziologen Wolfgang Sofsky die zentrale Rolle. Denn Sofsky beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Gewalt und er schildert sie exzessiv. So exzessiv, dass ihm manche Kritiker vorwerfen, ein heimlicher Voyeur zu sein. Der entscheidende Punkt aber ist, dass Sofsky die Gewalt vom Menschen nicht abspalten kann. Er sieht keinen Zivilisationsprozess, in dem die Gewalt nach und nach verschwindet.
Für Wolfgang Sofsky ist der Mensch von der Frühzeit bis in die Gegenwart grundsätzlich gewaltbereit, und es sind lediglich äussere Zwänge, die ihn an der Ausübung hindern. In dieser Hinsicht gibt es keinen Fortschritt. Hierin sieht Baberowski die Schwäche Sofskys: „Sofsky Kultur aber hat keine Zeit und keinen Raum, sie ist nichts weiter als ein Instrument der inneren Repression, das die Gelüste im Zaum hält.“
Doch zwei Seiten später schreibt Baberowski: „Menschen, die mit Gewalt umzugehen verstehen oder sich an das Töten gewöhnt haben, überschreiten die Hemmschwellen im Nu, und irgendwann wird die Gewalt zu einem Begleiter, den sie nicht wieder loswerden. Gewohnheit und Sozialisation machen Menschen zu Mördern.“
Kampfmaschinen
Das ganze Ringen mit Wolfgang Sofsky führt nicht zu dessen Widerlegung. Es bleibt Baberowskis Einwand, dass Sofsky die kulturellen Rahmungen zu wenig berücksichtige, aber diese Kritik wirkt letztlich rein akademisch in Anbetracht der Tatsache, dass Gewalt ein universelles Phänomen ist.
Aber sie lässt sich nicht wirklich begreifen. Der Mensch werde als Soldat im Kampf zum Körper, schreibt Baberowski, der nur als Tötungsmaschine überleben könne. Solange wir selbst nicht zu einem solchen Körper geworden sind, ist er für uns buchstäblich ein „Fremdkörper“. Wir können uns ihm nur asymptotisch nähern. Baberowski unternimmt dies und fährt schaudernd zurück.
Obszönität und Gewalt
Er ist nicht der Erste und der Einzige, dem es so ergeht, und er wird ganz gewiss nicht der Letzte sein. Daran lassen sich einige Vermutungen anknüpfen. Es könnte sein, dass es eine Art Tabu in der Betrachtung von Gewalt gibt. Diese Art Tabu ist durchaus mit jenen Tabus zu vergleichen, die mit der Sexualität zusammenhängen. Der Ethnologe Hans Peter Duerr hat diesem Thema eine breit angelegte Untersuchung gewidmet: "Obszönität und Gewalt", Suhrkamp 1993. Die Lust, die die Gewalt bereitet, darf nicht sein und wird deshalb mit einem Tabu eingehegt. Nur zu besonderen Zeiten und an besonderen Orten durfte sich die Lust Bahn brechen.
Entsprechend wurde sie in früheren Zeiten den rohen Massen zugestanden, wenn sie sich in den Arenen und auf öffentlichen Plätzen an Quälereien und Hinrichtungen ergötzten. Das darf unserem Selbstverständnis nach heute aber nicht mehr sein, zumindest nicht, wenn man sich als kultiviert versteht. Entsprechend wird die Darstellung abgründiger Gewalt in Filmen und auf Fotos stets mit dem Zweck der „Aufklärung“ bemäntelt, damit sich „das niemals wiederholt“. Man kann das auch Heuchelei nennen.
Fragliche Verantwortung
Aber es ist nicht allein die verpönte Lust, die es nötig macht, die Gewalt mit einem Tabu zu umgeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben amerikanische Sozialpsychologen die Frage untersucht, wie es möglich ist, dass ganz unauffällige und normale Menschen zu Quälereien fähig sind, die sie sich normalerweise nicht einmal vorstellen können. Berühmt geworden ist ein Experiment, das Stanley Milgram zuerst 1961 und dann wiederholt in den Folgejahren durchgeführt hat und das als „Atombombe der Psychologie“ bezeichnet wurde. In diesem Experiment lieferte er den Nachweis dafür, dass die meisten Menschen bereit sind zu foltern, wenn eine Autorität es ihnen befiehlt.
Auf dieser Linie liegt auch das Stanford-Prison-Experiment von Philip Zimbardo. 1971 liess Zimbardo Studenten in einem simulierten Gefängnis Wärter und Gefangene spielen. Schon nach kürzester Zeit kam es zu Übergriffen der Wärter. Zimbardo ist der Meinung, damit den Nachweis dafür geführt zu haben, dass Individuen unter dem Druck von Gruppen nicht mehr in der Lage sind, eigenständig Verantwortung zu übernehmen und ihrem Gewissen zu folgen. Mit diesem Argument hat er später einzelne Delinquenten im Abu-Ghraib-Skandal verteidigt, aber zugleich gefordert, die amerikanische Regierung vor Gericht zu stellen, weil sie in unverantwortlicher Weise eine Konstellation wie in Abu Ghraib herbeigeführt habe.
Es ist also nicht so, dass die „Räume der Gewalt“ mehr oder weniger fernab liegen, sondern sie befinden sich in allen Gebäuden unserer Zivilisation. Gewalt ist jederzeit mit erstaunlich geringem Aufwand aktivierbar. Baberowski geht auf diese sozialpsychologischen Experimente nicht ein. Darin ähnelt er zahlreichen Autoren, die um diese Erkenntnisse einen weiten Bogen machen. Offenbar sind sie noch bedrängender als jene Gewalt, zu der man wenigstens einen gewissen zeitlichen und räumlichen Abstand hat.
Jörg Baberowski, Räume der Gewalt, S. Fischer, Frankfurt/M 2015