Nach den Solothurner Filmtagen von Ende Januar und vor der Verleihung der Schweizer Filmpreise am 21. März ist ein Blick zurück auf die Anfänge des neuen Schweizer Films besonders anregend. Mit ihnen setzt sich Thomas Schärer, Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste und an der Universität Basel, in seinem Buch "Zwischen Gotthelf und Godard" auseinander.
"Gotthelf" steht stellvertretend für den alten Schweizer Film mit den Adaptionen Franz Schnyders und "Godard" für den neuen, obwohl der französisch-schweizerische Regisseur Jean-Luc Godard zu den Grössen der Nouvelle Vague gehört und das einheimische Schaffen lediglich von aussen her beeinflusste. Die stabreimige Einprägsamkeit des Titels ging vor der historischen Hochpräzision.
Gleichzeitigkeit von Alt und Neu
"Der cineastische Aufbruch Ende der Sechzigerjahre", stellt Thomas Schärer fest, "war von Menschen geprägt, die sich nicht um alte Strukturen und ums Know-how scherten, autodidaktisch lernten und Techniken und Praktiken neu erfanden." Die "leichtere und erschwinglichere Technik begünstigte die Erneuerung entscheidend." Spätestens in den Siebzigerjahren habe die alte Garde ihren Einfluss verloren. Der Übergang dauerte Jahre, verlief fliessend und lässt sich nicht auf den 1. Januar 1963 datieren, den Tag, an dem das Bundesgesetz über das Filmwesen mit seinen erstmaligen Fördermöglichkeiten in Kraft trat.
Die Gleichzeitigkeit von Alt und Neu arbeitet Thomas Schärer anschaulich heraus mit dem Verweis auf Kurt Früh und Henry Brandt. Sie gehörten mit Jahrgang 1915 bzw. 1921 zwar der nämlichen Generation an, entschlossen sich aber für je einen anderen Filmweg: der etwas ältere Regisseur fürs Bewahren, der etwas jüngere fürs Erneuern.
Prekäre Verhältnisse
Die Förderung durch den Bund vereinfachte den Einstieg in einen Filmberuf, garantierte indessen kein individuell kontinuierliches Arbeiten. Die Produktions- und Lebensbedingungen der künstlerisch Tätigen blieben misslich. Besser waren die Verhältnisse für Schauspielerinnen und Schauspieler, für die Auftragsproduzenten und die Laborbetriebe. Bis Mitte der Siebzigerjahre blieb der Schweizer Film "eine ausgesprochene Männerbastion."
Erinnerung mit Erkenntnisgrenzen
Thomas Schärers Buch basiert auf einundvierzig ausführlichen Gesprächen mit Zeitzeugen, die beim Aufbruch und während der ersten Jahre des neuen Schweizer Films in verschiedenen Funktionen - Produktion, Regie, Technik, Förderung, Vermittlung, Kritik - eine Rolle spielten. Der älteste Befragte wurde 1916 geboren, die jüngsten beiden 1949. Vier Interviewte sind Frauen, fünf stammen aus der lateinischen Schweiz, neun verstarben inzwischen.
Mit der Methode der Oral History ist ein monologisches Kaleidoskop persönlicher Ansichten und Einsichten entstanden. Das wirkt authentisch. Doch Erinnerungen können trügerisch sein, verzerrt, lückenhaft, schönfärberisch. Es ist also kühn, aus ihnen eine Epoche mit dem Anspruch auf Gültigkeit zu erhellen. Auch deswegen, weil aus zahlreichen massgebenden Bereichen die Stimmen fehlen, z. B. von politischen Entscheidungsträgern, von Förderexperten, von jenen, die der Entwicklung des Schweizer Films bewusst Steine in den Weg legten - oder von Kulturschaffenden, die mit Neid die strukturierte staatliche Unterstützung des Films registrierten.
Unglückliche Zweiteilung
"Zwischen Gotthelf und Godard" ist der erste Band des filmgeschichtlichen Oral-History-Projekts der Zürcher Hochschule der Künste sowie der Universitäten Zürich und Lausanne. Der geplante zweite Band befasst sich mit dem Filmschaffen in der Westschweiz von 1960 bis 1970.
Die sprachregionale Aufteilung ist unglücklich. Denn der Schweizer Film bildet, bei allen Unterschieden zwischen der Romandie und der Deutschschweiz, ein Ganzes. Er entstand unter vergleichbaren Rahmenbedingungen. Von Hüben nach Drüben gab es Brückenschläge. Das wäre im Gesamtüberblick zu beleuchten.
Offenlegung: Der Verfasser dieser Rezension war von 1972 bis 1984 Chef der Sektion Film im Eidgenössischen Departement des Innern und in dieser Eigenschaft einer der Befragten fürs Buch von Thomas Schärer.
Thomas Schärer, "Zwischen Gotthelf und Godard - Erinnerte Schweizer Filmgeschichte 1958-1979", Limmat Verlag, Zürich 2014, ISBN 978-3-85791-653-3, 702 Seiten, mit einer DVD, CHF 81.90