Die Fragen stellen sich aktuell im Fall Lukaschenko, und sie sind selbstverständlich umstritten. Noch immer bemüht sich die EU, ihre rasch angekündigten Strafen gegen das weissrussische Regime mit ausreichend Gewicht zu versehen, damit diese auch die angestrebte Wirkung erzielen können. Bisher ist man noch ziemlich weit davon entfernt. Indessen tut sich die Schweiz schwer, über politische Deklamationen hinaus europäische Sanktionen mitzutragen. Mit Stadler Rail und dem Elektrobus-Hersteller Hess sind immerhin zwei wichtige Schweizer Unternehmen stark in Belarus engagiert.
Es ist klar: Sanktionen sind nur sinnvoll, wenn sie wirken, also die Unterdrückung zurückdrängen und die Sache der Unterdrückten stützen – heisst in diesem Fall: wenn sie dem weissrussischen Volk helfen, seinen Diktator loszuwerden. Das Risiko, nur heisse Luft zu produzieren, ist erheblich. Wenn aber die Sanktionen wirken, so lösen sie möglicherweise Gegenmassnahmen aus, die Stadler, Hess und andere hierzulande treffen. Politische Strafaktionen kosten manchmal nicht nur die Sanktionierten etwas, sondern auch die Sanktionierenden.
Roger Köppel durchhaut diesen gordischen Knoten mit der Aussage, die Schweiz sei «keine moralische Anstalt der Aussenpolitik». Lukaschenko habe uns nichts zuleide getan, also hätten wir ihn in Ruhe zu lassen, so Köppel weiter. Mit dem Verweis auf Moral hat der SVP-Nationalrat tatsächlich das entscheidende Stichwort geliefert. Es geht bei all dem notwendig peniblen Abwägen von Chancen und Risiken politischer Druckversuche letztlich um eine moralische Frage. Sie lautet ganz einfach: Geht uns ein offenkundiges Unrecht, wie es seit Langem in Belarus geschieht, etwas an? Und sollen wir Nachteile in Kauf nehmen, um dort einen Befreiungskampf zu unterstützen?
Moral ist in der Politik – und erst recht in der Aussenpolitik – eine schillernde Grösse. Zum einen lassen dubiose Machthaber ihre Lügen gern moralisch kostümiert antreten. Zum anderen wird vor allem von rechts stets vor einer «Moralisierung» der Politik gewarnt. Moral diene auf diesem Feld bloss der Tarnung unausgesprochener Eigeninteressen, heisst es da. Oder noch einen Tick schärfer: Ethische Argumente seien im politischen Interessenkampf grundsätzlich sachfremd und stünden einer offenen, direkten Auseinandersetzung im Weg.
Politik als moralfreie Zone? Ist es nicht einfach realistisch, so zu denken und zu agieren? Von den 36 Strategemen des chinesischen Generals Tan Daoji bis zu Niccolò Machiavellis Fürstenhandbuch ist staatliches Handeln immer wieder als reiner Kampf beschrieben worden, bei dem der Zweck die Mittel bestimmt. Wenn es für den Staatszweck vorteilhafter ist, zur belarussischen Diktatur zu schweigen und sich mit Lukaschenko und seinem grossen Paten Putin zu arrangieren, so wird man das halt tun.
Genau so funktionieren die Beziehungen zwischen Staaten in den meisten Fällen. Aber eben nur in den meisten. Wo eklatantes Unrecht an die Öffentlichkeit dringt, löst dies manchmal eine moralische Reaktion aus. Es sind dann meist andere als die üblichen politischen Akteure, die so reagieren. Natürlich kann man ihnen vorwerfen, sie seien inkonsequent und «moralistisch». Gleichwohl schaffen sie ein Meinungsklima, das Druck erzeugt und irgendwann die offizielle Politik zu einer Reaktion zwingt, beispielsweise zu Sanktionen gegen Lukaschenko.
Moral mag der Politik fremd sein, aber sie lässt sich nicht völlig aus der Politik heraushalten. Sie kann sich zu Einflusskräften formieren, die genauso wie wirtschaftliche und machtpolitische Interessen die Dinge beeinflussen. Das heisst noch nicht, dass Moral immer zum Besseren wirkt. Gute Absichten können – wie alles menschliche Tun – ungewollt üble Wirkungen zeitigen. Das wissen auch jene, die eine Befolgung moralischer Grundsätze einfordern. Ihnen vorzuwerfen, sie würden sich als die Besseren, als Gutmenschen fühlen, ist verfehlt.
Wenn die EU es schafft, gegenüber Belarus ein wirkungsvolles Sanktionsregime einzurichten, soll die Schweiz mitziehen. So viel Moral müssen wir uns leisten.