Der Ich-Erzähler ist ein Glaziologe. Er beschreibt sich selbst als einen etwas skurrilen Zeitgenossen. Er kann keinen Blick auf seine Mitmenschen werfen, ohne dass auch sie durch seine ironisch-distanzierte Haltung eingefärbt würden. Dazu verfügt der Ich-Erzähler über eine absolut präzise und gleichzeitig bildhafte Sprache. Man geniesst die literarische Kraft von Norbert Gstrein.
Brüche unter der Oberfläche
Der Glaziologe erzählt, dass er mit einer recht bekannten Schriftstellerin verheiratet ist. Die beiden haben neben ihrer Stadtwohnung in Norddeutschland ein kleines Sommerhaus. Die inzwischen bei einem Unfall gestorbene Zwillingsschwester seiner Frau – für ihn ein Zwilling im Geiste und in allen Emotionen – hatte die Idee, in dem Sommerhaus eine Flüchtlingsfamilie wohnen zu lassen.
Tatsächlich zieht eine syrische Familie dort ein. Die Frau des Glaziologen schlachtet dieses Ereignis als prominente Schriftstellerin in der Presse aus. Es gibt sogar eine Fernsehsendung. Für den Glaziologen eine einzige Peinlichkeit. Norbert Gstrein schildert mit seiner ganzen scharfen Beobachtungsgabe und seinem Sinn für das, was knapp unter der Oberfläche schon nicht mehr stimmt, warum sich der Glaziologe für diese Sendung schämt.
Das Fernsehdebakel
Was ist passiert? Die Frau des Glaziologen setzt sich als routinierte Schriftstellerin mit wohlgeordneten Sätzen in Szene, die Familie Farhi erscheint genau so, wie man sich eine vorzeigbare Flüchtlingsfamilie aus Syrien vorstellt, und der Glaziologe wird in der Sendung am Gartengrill gezeigt, wie er mit einer Flasche Bier in der Hand Würstchen und Steaks wendet. Also der perfekte Spiesser in einer vermeintlichen Vorzeigefamilie.
Nach der Ausstrahlung dieser Sendung fragt sich der Glaziologe bei allen Begegnungen, ob sein Gegenüber diesen Beitrag gesehen hat. Und eine Freundin von ihm macht sich über das Ganze nur noch lustig.
Die Entfremdung zwischen dem Glaziologen und seiner Frau hat viele Facetten und eine lange Geschichte. Seine Frau fühlt sich ihm kulturell und geistig haushoch überlegen. Wie um sie unfreiwillig zu bestätigen, gibt er mehr und mehr den Hanswurst.
Ständiges Gemurmel
Die Situation mit den Farhis spitzt sich nicht nur wegen des latenten Ehekonfliktes mehr und mehr zu. Nachbarn, speziell Jugendliche aus der Umgebung des Sommerhauses, versuchen, die Farhis durch ihr wiederholtes Auftauchen und provozierendes Gebaren einzuschüchtern. Und es entstehen die Gerüchte, dass Herr Farhi kein Ingenieur sei, sondern Oberst in der syrischen Armee war.
Der Roman besteht aus zahlreichen Handlungssträngen, die sich im Fokus des Ich-Erzählers bündeln. Dadurch entsteht eine nahezu bezwingende Logik und, noch besser, eine beständige Spannung. Der Roman ist an keiner Stelle langweilig. Und vor allem nicht belehrend. Das Abschmelzen des Eises in der Arktis und das Gletschersterben sind diejenigen Elemente, die das Bewusstsein gut situierter Deutscher besetzen, die sich zugleich Sorgen wegen der Flüchtlinge machen. Gstrein führt das immer wieder zusammen, aber seine grosse Kunst besteht darin, diese Elemente als ein ständiges Gemurmel von Gehirnen abzubilden, die zugleich durch allzu Persönliches abgelenkt werden. Wie kein Zweiter beschreibt er diese Mixtur aus Selbstgefälligkeit und Zukunftsangst.
Die Bruchlandung
Dazwischen Lichtblicke und neue Spannungen: Der Glaziologe hat eine Geliebte, die in Mexiko lebt und genauso wie er das ewige Eis liebt. Er ergötzt sich an ihren sarkastischen Kommentaren über seine Frau. Diese Geliebte spart aber auch nicht an Kommentaren über seine Mediokrität unter der Regie seiner Frau.
Dann erlebt er die Bruchlandung seiner Frau. Als Schriftstellerin fühlte sie sich dazu berufen, die Geschichte der Flucht von Herrn Farhi und seiner Familie aufzuschreiben. Bei einer öffentlichen Lesung in einer Bibliothek stellte sich aber heraus, dass sie aus dramaturgischen Gründen Herrn Fahri dazu verleitet hatte, einige Details anders darzustellen, als sie sich tatsächlich ereignet hatten. Eine Fragerin im Publikum spürte den wunden Punkt. Ein Desaster.
Das zweite Desaster
Das Buch endet mit einem zweiten Desaster. Der Glaziologe hatte aus Gründen, die Norbert Gstrein wiederum herrlich ironisch und verspielt schildert, eine uralte Pistole, die er in einem Schliessfach aufbewahrte. Er war so leichtsinnig, seiner Frau davon zu erzählen. Während er wieder einmal in Amerika weilte, fand sie den Schlüssel zum Schliessfach und holte diese Pistole, und Herr Farhi hatte genügend Kontakte aus seinem früheren Umfeld, um sich die passende Munition zu besorgen. Und als die lästigen Jugendlichen diesmal auftauchten, hat er drauflos geschossen.
Ob er ihn in Deutschland bei seinen Vorlesungen und beim Ausfüllen der Steuererklärung vertreten könne, fragt der Glaziologe vor diesem dramatischen Schluss Herrn Farhi. Deutschland sei kein Paradies. Aber sie könnten sich doch abwechseln: jeder einmal ein Deutscher. Peinliches Schweigen, geradezu vernichtend von seiner Frau.
Es ist sehr subtil, wie Norbert Gstrein deutsche Mentalitäten im Zusammenhang mit Flüchtlingen und der Umweltkrise schildert. Alle sind in einem Labyrinth. Jeder sucht einen Ausweg und sieht ihn jeweils dort, wo der andere keinen sehen oder erkennen kann. Und so drehen sich alle im Kreis. Ist das die Pointe, die dem Buch den Titel „Die kommenden Jahre“ gegeben hat?
Nobert Gstrein: Die kommenden Jahre. Roman. 285 Seiten. Carl Hanser Verlag, München 2018.