Wir kennen Fliegen als Tiere von ziemlich beschränktem Verhaltensrepertoire. Wie sie da stur und unbelehrbar wiederholt an die Fensterscheibe bumsen, erscheinen sie uns als bedauernswerter Ausbund eines natürlichen Automaten, der nicht aus seinem programmierten Verhaltenskäfig ausbrechen kann. Und wir gratulieren uns, mit freiem Willen ausgestattet, unendlich erhaben zu sein über den immer gleichen Anläufen dieses dummen Insekts.
Womöglich tun wir der Fliege Unrecht. Sie agiert viel spontaner und variantenreicher als ein natürlicher Automat. Dies zumindest fand ein Team um den Zoologen und Neurobiologen Björn Brembs vor rund zehn Jahren heraus. Mit ihren Forschungsresultaten könnten sie der Diskussion um die biologischen Grundlagen des freien Willens einen neuen Dreh geben.
Der freie Wille und die Neurobiologie
Mit dem freien Willen hat die Neurobiologie ihre Mühe. Sagen wir es so: Es gibt Neurobiologen, welche die Existenz des freien Willens rundweg leugnen. Ihr Argument lautet: Wir finden mit unseren Methoden im Gehirn keinen empirischen Beleg für den freien Willen. Nun steckt in dieser Gedankenführung eine Prämisse, die das Resultat bereits vorwegnimmt: Der freie Wille lässt sich mit wissenschaftlichen Methoden im Gehirn entdecken. Und wenn man keine Evidenz für seine Existenz findet, bedeutet dies Evidenz für seine Nicht-Existenz.
Das ist ein patenter Fehlschluss, mit dem man alles Unliebsame wegeskamotieren kann. Er verrät auch eine ironische Rückbezüglichkeit. Diese Neurowissenschafter nehmen sich selbstredend die Freiheit (also ihren freien Willen) heraus, den freien Willen so zu definieren, dass er in ihrem Weltbild keinen Platz findet. Sie tun so, als ob sie nicht auch in dieses Weltbild gehörten.
Ein solches methodische Als-ob mag sogar bis zu einem gewissen Grad gerechtfertigt sein. Denn der naturwissenschaftliche Standardblick auf die Natur erkennt in ihr nur zufallsgesteuerte und determinierte Ereignisse. Wie es der philosophierende Molekularbiologe Jacques Monod auf die prägnante Formel brachte: Zufall und Notwendigkeit. Für alles dazwischen hat der Standardblick einen blinden Fleck.
Experimente im Verhaltenskäfig
Und genau für dieses Dazwischen interessieren sich Brembs und sein Team. Ihr ausgeklügeltes Versuchsarrangement ist von der Anlage her recht einfach zu verstehen. Sie klebten eine Taufliege mit dem oberen Teil des Kopfes via Kupferhäkchen an ein Drehmoment-Messgerät. Die Insekten-Probandinnen flogen also an Ort, aber sie konnten sich nach links oder rechts richten (sie sollten sich, laut Experimentatoren, nicht allzu „gestört“ fühlen). Das Messgerät zeichnete diese Links-Rechts-Bewegungen auf.
Hinzu kam, dass sich die Fliegen in einer völlig reizlosen Umgebung befanden, in einem Zylinder mit weissen Wänden, die quasi ein weisses Rauschen darstellten. Es gab keinen herausstechenden äusseren Input für das Insektenverhalten, im Besonderen auch nicht so etwas wie positives oder negatives Feedback. Die Anfangserwartung der Forscher war natürlich, dass sich die Fliege in ihrem experimentellen Gefängnis zufallsgesteuert verhalten würde. Das heisst, das vom Messgerät registrierte Muster sollte einem bekannten statistischen Muster („Verteilung“) ähneln, das man erhält, wenn man auf dem Computer Zufallsprozesse simuliert.
Zu ihrer Überraschung stellten die Forscher fest, dass das Muster der Fliegenbewegung mit keinem der computergenerierten Zufallsmuster übereinstimmte. Eher erinnerte es an die Suchprozesse beim Auffinden rarer Resourcen, wie man sie von anderen Arten kennt. Als ob die Fliege auf der Suche nach einem raren Reiz „von selbst“ eine Strategie entwickeln würde. Die Biologen interpretierten dies so, dass die Taufliege fähig ist zu einem spontanen – nicht von aussen bewirkten – und nicht-zufallsgesteuerten Agieren: zwei Merkmale, die man einem „freiwilligen“ Verhalten zubilligt.
„Freies“ Verhalten als Evolutionsvorteil
Das allein ist schon eine bemerkenswerte Beobachtung, legt sie doch nahe, dass Fliegen nicht blosse Verhaltensautomaten sind. Hier kommt aber auch der evolutionäre Gesichtspunkt ins Spiel. Nicht-Prognostizierbarkeit ist zum Beispiel bei Fluchtmechanismen vital. Der Hase, der vor dem Fuchs im zufälligen Zickzack weghoppelt, hat eine grössere Fluchtchance als jener, der sich auf eine vorhersehbare Weise bewegt.
Man hat zum Beispiel Wasserschlangen beobachtet, die auf der einen Seite des gejagten Fischs Wellen erzeugen und den Reflex des Fischs, nach der anderen Seite auszuweichen, nutzen, indem sie ihn genau auf dieser Seite erwarten. Zeigte der Fisch eine gewisse Variabilität in seinem Fluchtverhalten, erhöhte sich seine Überlebenschance. Eine Hypothese von Brembs lautet: Diese Variabilität entsteht in der Natur durch Ausprobieren und allmähliches Aussortieren von lebensdienlichem Zufallsverhalten. So entsteht, wie Brembs das nennt, eine „Grauzone“ des Verhaltens, ein „Mittelding zwischen Determinismus und Freiheit“.
Durch Evolution zum freien Willen?
Nun kann man sagen, das seien typische „Just-so-Storys“, wie sie Evolutionsbiologen gerne erzählen, um bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten einer Tierart plausibel zu machen. Das ist allerdings durchaus solides wissenschaftliches Vorgehen, stellt doch das Paradigma der natürlichen Selektion den grossen Erklärrahmen zur Verfügung, in den die Biologen die Naturphänomene hineinstellen. Warum also nicht auch den freien Willen?
Man muss hier indes semantische Vorsicht walten lassen. Die Forscher im Taufliegen-Experiment schreiben: „Die Konsequenzen unseres Resultats sind tief und könnten auf Anhieb widersprüchlich erscheinen: Obwohl im Ganzen deterministisch, falsifiziert unser Initiator das Konzept des Verhaltensdeterminismus (...) Er zeigt, dass echte Spontaneität sogar in Fliegen ein biologisches Charakteristikum darstellen.“
Der Ausdruck „Initiator“ kann leicht missverstanden werden: als ob die Fliege aus eigenem Antrieb ihre Aktionen initiieren würde. Genau genommen aber hat er mit besonderen Prozessen im Fliegenhirn zu tun, die man weder als rein zufällig noch als rein deterministisch einordnen kann – obwohl sie ein bestimmtes Ordnungsmuster manifestieren. Auch oder vielleicht gerade in einem sensorischen Vakuum arbeitet das Gehirn. Das ist tatsächlich eine Entdeckung mit womöglich weitreichenden Folgen: Bereits im Tierreich findet sich die Basis zu einer Spontaneität des Verhaltens, die man beim Menschen in der kultivierten Form als „freien Willen“ bezeichnet. Umgekehrt gesagt: Was wir „freien Willen“ nennen, scheint schon biologisch vorbereitet zu sein.
Den Mund zu voll genommen
Die experimentellen Resultate zeigen nicht, dass Fliegen einen „freien Willen“ hätten, wie dies erwartungsgemäss medial aufgepeppt wurde. Die Resultate weisen lediglich darauf hin, dass wir natürliches Verhalten auf einer reicheren Palette ansiedeln sollten, nicht bloss als Gegensatzpaar von Zufall und Notwendigkeit.
Die Physik lehrt uns seit über hundert Jahren, dass die Welt nicht streng deterministisch ist. Das heisst, in jedem System gibt es Hintergrundrauschen, sei es auf thermische oder auf Quanteneffekte zurückzuführen. Das setzt der exakten Prognose und Kalkulation eine natürliche Grenze. Brembs und sein Team glauben Hinweise gefunden zu haben, „dass das Gehirn dieses Hintergrundrauschen nutzt und je nach Bedarf verstärken kann. Wie das funktioniert, wissen wir bisher nicht, aber ich stelle es mir im Prinzip als eine Art Zufallsgenerator mit regelbarem Verstärker vor.“
Das ist eine faszinierende Aussicht für die Neurowissenschaften, bleibe auch dahingestellt, was sie alles noch herausfinden werden. Eine Lektion können wir aus den Resultaten aber schon jetzt lernen. Die Diskussion über die Nichtexistenz des freien Willens tritt in eine neue Runde. Und die vollmundigen Verkündigungen seines „Endes“ könnten sich als das herausstellen, was sie in Wirklichkeit sind: Äusserungen von Wissenschaftern, die den Mund zu voll nehmen und ihren beschränkt-naturalistischen Horizont zum allgemeinverbindlichen Mass dessen erklären, was existiert. Nicht der freie Wille gehört entzaubert, sondern diese Entzauberer des freien Willens.