Aus heutiger Perspektive zeigen die Bilder nicht nur das Exotische, sondern auch das Versunkene. Man unternimmt also Zeitreisen in Länder, die damals überraschend und geheimnisvoll waren. Das Geheimnisvolle liegt heute nicht mehr im Geographischen oder Kulturellen, sondern in der Fremdheit, die sich aus dem zeitlichen Abstand ergibt. Darin liegt die Faszination des Bandes.
Schweres Gerät
Die Technik der Fotografie war gerade erst erfunden worden, aber sie etablierte sich erstaunlich schnell als Mittel der Darstellung und Dokumentation. Ein entscheidender Faktor war dabei, dass die französische „Société de Géographie“, die 1821 als erste Gesellschaft dieser Art gegründet wurde, seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts Fotografien in ihre Jahrbücher und Ausstellungen aufnahm.
Und so zogen die Fotografen mit ihren schweren und gar nicht so einfach zu bedienenden Aufnahmeapparaten los. Wie schwer und sperrig diese Ausrüstungen damals waren, zeigt die Tatsache, dass der Fotograf Désiré Charnay während seiner Reise durch Yucatán 1860 die Apparaturen auf Maultieren transportieren liess. Doch damit nicht genug: Anfangs mussten vor Ort teilweise in sengender Hitze wie in Ägypten oder bei klirrender Kälte wie zwischen den Eisbergen von Neufundland für die jeweilige Aufnahme eine Glasplatte präpariert werden, um sie anschliessend belichten zu können.
Vor Vergnügen erschaudern
Nach und nach wurde die Technik verfeinert, aber man sieht den frühen Aufnahmen an, dass sie jeweils besonderer Vorbereitungen und entsprechender Sorgfalt bedurften. Die Bildkompositionen sind dadurch beeinflusst, und die Bilder strahlen grosse Ruhe aus.
Der Herausgeber Olivier Loiseaux hat den Band nach den bereisten Regionen gegliedert. Daraus ergibt sich ein übersichtliches Inhaltsverzeichnis, aber von besonderem Reiz ist die darauf folgende Weltkarte mit den entsprechenden Eintragungen. Sie vermittelt den Zauber, der mit der damaligen „Entdeckung der Welt“ verbunden war. Dabei ging es nicht nur um das Kennenlernen fremder Länder, sondern auch um die immer weitergehenden Entdeckungen der wissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten, die die Erkundung der Welt erst ermöglichten.
Auf diesen Gesichtspunkt geht Freddy Langer, der den Reiseteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung leitet und ein ausgewiesener Kenner der Fotografie und ihrer Geschichte ist, in seinem Vorwort zu diesem Band ein. Der Reiz des technisch und geographisch Neuen müsse damals ungeheuer gross gewesen sein. Man könne sich auch heute noch vorstellen, wie es damals gewesen sei, „wenn die grossbürgerliche Familie beieinander sass und diese Aufnahmen durch Lupen bis ins Detail studierte. Die Fotografen waren die reisenden Stellvertreter ihres Publikums. Und die Menschen erschauderten vor Vergnügen.“
Für den heutigen Betrachter sind nicht nur die ganz alten Fotos von fremden Kulturen von Reiz. Faszinierend sind auch die Bilder, die um die Jahrhundertwende entstanden. Das Gewimmel im Hafen von Neapel zum Beispiel, Schwerindustrie in Europa und auf anderen Kontinenten, Eisenbahnen und natürlich immer wieder die Schifffahrt bieten Einblicke in eine Welt, die ebenfalls der Vergangenheit angehört und die wir uns auch nicht mehr so recht vorstellen können. Auch diese Bilder bereiten, wie Freddy Langer sagen würde, grosses Vergnügen.
Die Entdeckung der Welt – Frühe Reisefotografie von 1850 bis 1914. Herausgegeben von Olivier Loiseaux. Mit Texten von Gilles Fumey, Freddy Langer und Olivier Loiseaux, 240 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Prestel Verlag, München 2019, ca. 45 Euro