Das wichtigste Merkmal moderner Kriege besteht darin, dass sie nicht förmlich erklärt werden. Kriege haben daher keinen definitiven Anfang. Und es ist auch schwer zu entscheiden, ob es sich in einer bestimmten Konfliktsituation um einen Krieg handelt oder nicht.
Kriegssplitter
Hinzu kommt, dass die Methoden der Kriegsführung und die Waffen vielfältig sind. Nicht alles, was einem Land oder einer Gesellschaft Schaden zufügt, ist Krieg. Aber manches, was sie schwächt und beeinträchtigt, kann, zumindest im Rückblick, als ein Mittel der Kriegsführung betrachtet werden. Herfried Münkler nennt das Kriegssplitter.
Zu dieser Unübersichtlichkeit gesellt sich ein ethisches Dilemma. Wenn Kriege förmlich erklärt und die Kämpfer als solche kenntlich gemacht sind, gelten Regeln, wie sie zum Beispiel in der Haager Landkriegsordnung von 1899 festgelegt sind. Zu diesen Regeln gehört unter anderem der Schutz der Zivilbevölkerung.
Menschen als Waffen
Mit den Bombenkriegen wurde schon im vergangenen Jahrhundert von allen kriegführenden Parteien gegen diese Regel verstossen. Inzwischen ist dieser Prozess weitergegangen. Die Grenze zwischen Zivilisten und kämpfenden Soldaten wird verwischt. Auch die Grenze zwischen Waffen und Menschen. Denn der Mensch kann selbst zur Waffe werden, zum Beispiel als Selbstmordattentäter. Er tötet sich selbst, indem er den Feind tötet. Der „klassische“ Soldat träumte davon, am Ende des Krieges heimzukehren. Der moderne Selbstmordattentäter träumt allenfalls vom Paradies.
Aber die Entwicklung geht noch weiter. Inzwischen können auch jene Menschen als Waffen gebraucht werden, die selbst überhaupt keine kämpferischen Absichten haben. Die hohe Zahl von Flüchtlingen, die nach Europa strömen, hat jetzt schon zu einer Destabilisierung geführt. Die Europäische Union könnte innerhalb kürzester Zeit auseinanderfallen. Werden die Flüchtlinge strategisch eingesetzt? Diese Vorstellung ist der pure Albtraum. Denn dann wären diejenigen, denen unser ganzes Mitgefühl und unsere ganze Hilfe gebührt, verdeckte Feinde. Die Wirkung ist furchtbar:
Barberei als Strategie
Die Polarisierung innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten nimmt dramatisch zu. In Deutschland positioniert sich die Pegida-Bewegung als eine Art Bürgerkriegspartei. Ihre übelste Exponentin, Tatjana Festerling, ruft dazu auf, mit Mistgabeln auf Politiker, Richter, Journalisten und andere missliebige „Eliten“ loszugehen.
Umgekehrt hat der „Islamische Staat“ gegenüber Europa eine klare Terrorstrategie. Einer der wichtigsten Strategen, Abu Bakr Naji, hat schon 2004 – damals noch für al-Qaida auf Arabisch - minutiös dargelegt, wie in den Gesellschaften Europas Angst und Schrecken verbreitet werden sollen, so dass sie gewissermassen implodieren. Diese Schrift, die auch im Internet kursierte, wurde 2006 übersetzt und kann im Internet unter dem Titel, The Management of Savegery - "Die Verwaltung der Barberei" - abgerufen werden.
Angiff auf die kulturelle Identität Europas
Der „Islamische Staat“ ist aber nur einer von mehreren Angreifern. Wenn man die Augen nicht ganz fest verschliesst, muss man in Russland einen weiteren Gegner erkennen. Auch wenn man in der Einschätzung grösste Vorsicht walten lassen möchte, lässt sich als sicher voraussetzen, dass ein Interesse Russlands an der Schwächung Europas besteht.
Der „Islamische Staat“ übt Terror in den umkämpften Regionen des Nahen Ostens aus. Putin lässt in Syrien die Zivilbevölkerung bombardieren. Seit Monaten schwellen die Flüchtlingszahlen in einem bislang ungekanntem Masse an. Auch wenn man es nicht wahrhaben möchte, lässt sich der Gedanke nicht abweisen, dass Flüchtlinge als Waffe gegen Europa verwendet werden.
Dieser Gedanke ist so ziemlich das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Denn er bedeutet nicht nur eine akute Gefährdung Europas in einem politisch-materiellen Sinn. Vielmehr zielt diese Taktik darauf, die kulturelle Identität Europas zu zerstören. Diese kulturelle Identität besteht in weitestem Sinne in dem, was wir mit den Menschenrechten verbinden.
Schwarze Bomben
Jahrhundertelang hat Europa mit sich gerungen, um die Freiheit, die Gleichheit und die Würde jedes einzelnen Menschen zum Fundament aller staatlichen und rechtlichen Ordnungen zu machen. Aber wir erleben jetzt schon, wie diese Grundsätze von populistischen Bewegungen angegriffen werden. Und das ist erst der Anfang.
Denn der Flüchtlingsstrom wird nicht abreissen. Er wird anschwellen. Europas Feinde werden auf diese Waffe nicht verzichten. Dafür wirkt sie zu gut. Und sie hat eine weitere verteufelte Logik: Dem Westen wird buchstäblich heimgezahlt. Denn auch nach der eigentlichen Kolonialzeit hat sich der Westen bemüssigt gefühlt, sich in die "inneren Angelegenheiten" anderer Länder einzumischen, um seine politischen Grundsätze dort durchzusetzen - oder auch nur wirtschaftliche Interessen. Muammar al-Ghadhafi wird das Wort zugeschrieben, der Westen habe es für richtig gehalten, sein Land zu bombardieren, also werde man dem Westen viele schwarze Bomben schicken.
Das moralische Pendel
Man kann das auch den Fluch der bösen Tat nennen. Thomas Mann hat nach der Bombardierung seiner Heimatstadt Lübeck in einer BBC-Rede an die Deutschen gefragt, ob sie denn wirklich geglaubt hätten, dass nach ihren Bombardierungen von Warschau, Rotterdam und Coventry „das moralische Pendel der Weltgeschichte“ nicht eines Tages zurückschlagen würde. Jetzt wird die Arroganz des Westens mit einem kaum lösbaren Problem bestraft.
Denn es gibt keinen Ausweg. Bleibt Europa seinen ethischen Grundsätzen treu, kann es Flüchtlinge nicht einfach abweisen. Dadurch werden sich aber in den Ländern Spannungen ergeben, die auf Dauer zu Bürgerkriegen führen. Wir sehen jetzt schon, wie rasend schnell sich die Gewaltbereitschaft ausbreitet.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Die andere Möglichkeit wird mit „Grenzen sichern“ schöngeredet. Dahinter steckt das knallharte Abweisen von Flüchtlingen. Am Geld wird das nicht scheitern, denn wenn den Politikern die Kosten der Aufgabe des Schengenraums bewusst werden, kann Erdogan fordern, was er will: Das ist immer noch billiger. Aber es stellt sich ein anderes Problem der „Sicherung der Aussengrenzen“:
Wenn die griechische Kriegsmarine Menschen nicht mehr aufnimmt, sondern schlicht und einfach im Wasser lässt, können nach dem bisherigen europäischen Recht die Verantwortlichen wegen „unterlassener Hilfeleistung“ vor Gericht gebracht werden. Wenn in der Türkei, aber natürlich auch an anderen Grenzen Europas, Gewalt zur „Grenzsicherung“ eingesetzt wird, kann es schnell einmal zu einer Anklage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ kommen. Das wissen die Verantwortlichen.
Dritte Wege
Man müsste also die ethisch-rechtlichen Grenzen Europas niederreissen, um die Aussengrenzen zu „sichern“. Die Folgen wären immens, denn dann wird man auch in einzelnen Ländern gewisse „Anpassungen“ vornehmen. Schon jetzt herrscht in Frankreich nach den Anschlägen von Paris der Ausnahmezustand und soll dem Vernehmen nach um weitere drei Monate verlängert werden.
Wie tief Europa moralisch fallen kann, haben der 1. und der 2. Weltkrieg gezeigt. Ein erneuter Fall ist keine vage Spekulation, sondern hat eine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit. Es ist wichtig, sich das klarzumachen und laut und deutlich zu äussern. Denn nur dann kann es vielleicht gelingen, jene Kräfte zu mobilisieren, die in irgendeiner Weise „dritte Wege“ erkunden. Wir brauchen keinen Plan A2 oder B, wir brauchen „dritte Wege“ in vielerlei Hinsicht: sozial, politisch, wirtschaftlich, rechtlich und militärisch.
Das wäre ein gewaltiger Kraftakt, zu dem sich Vertreter der Politik, der Wirtschaft, der Kultur, der Wissenschaft und anderer Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen in Netzwerken zusammenschliessen müssen. Wenn in diesem „Cross-over“ nicht wirklich neue Lösungen gefunden werden, hat die abschüssige Bahn Europas kein Ende.