Die PISA-Rankings machten sie möglich, die Bildungs-Wallfahrten in den Hohen Norden. Das Akronym PISA steht für „Programme for International Student Assessment“. Die Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD vergleicht das Können 15-jähriger Schüler in den Fächern Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Anhand einer Punkteskala werden die Ergebnisse erfasst und in Kompetenzstufen aufgegliedert.
Die erste Bildungsstudie im Jahr 2000 sah Finnland auf dem europäischen Spitzenplatz. Wie seine Langläufer erreichten auch Suomis Schüler Weltruhm – und schufen so einen Mythos. Der PISA-Primus galt danach als Vorbild in Sachen Bildung und – mehr noch – der Bildungspolitik. In der Schweiz dagegen lösten die Resultate einen eigentlichen Schock aus. Das Land Pestalozzis konnte und wollte es nicht glauben: Die Schweizer Jugendlichen schnitten in der Lesefähigkeit relativ schlecht ab. Einer von fünf Jugendlichen verstand kaum einen einfachen Text. Wie war das möglich?
Keine Korrelation zwischen Bildungserfolg und Schulstruktur
Die Erklärungen waren schnell zur Hand: Das Bildungsmusterland habe eine Gesamtschule. Von der ersten bis zur neunten Klasse gingen alle Kinder in eine selektionsfreie Schule. Länger gemeinsam lernen, heisse das Prinzip. Es elektrisierte die Bildungswelt. Was liegt da näher, als den Erfolgsfaktor in der integrierten Gesamtschule zu sehen? Doch auch Norwegen hat – wie andere Länder – die gleiche Schulstruktur; allerdings resultierten aus den PISA-Tests wesentlich schlechtere Resultate. Am System konnte es nicht liegen.
Bei der Suche nach Finnlands pädagogischem Erfolgsgeheimnis stiess man auf die finnische Lesetradition, die geringen Klassengrössen oder die gesellschaftliche Homogenität des Landes. Eine detaillierte Analyse nannte auch die individuellen Fördermassnahmen sowie die Personaldotation und die Autonomie der einzelnen Schulen. Sichtbares Merkmal sei zudem das hohe Sozialprestige der Lehrerinnen und Lehrer. Unterrichten gehört zu Finnlands populärsten Professionen. Die Zahl der Studienplätze reicht nicht aus für die grosse Schar interessierter Bewerber. Nur die Besten eines Maturandenjahrgangs können diesen Beruf ergreifen.
„Kann man finnische Schulen kaufen?“
Die Grundlagen der finnischen PISA-Erfolge weckten das internationale Interesse. Der Bildungstourismus boomte. Heerscharen von Fachleuten und Politikern wollten diese schöne neue Schulwelt kennenlernen. Die Copy & Paste-Hoffnung gipfelte in der Frage eines Bildungsexperten aus dem Nahen Osten, „ob man finnische Schulen kaufen könne“. Die Antwort ist klar: Schulsysteme kann man nicht importieren wie eine erfolgreiche Trainerin oder einen famosen Fussballspieler. Der schulische Erfolg gründet in spezifischen soziokulturellen Grundlagen und hängt von besonderen Umgebungsfaktoren ab. Ein Systemtransfer funktioniert nicht. Übertragen lassen sich allerhöchstens einzelne Reformelemente.
Das ist allerdings nicht unproblematisch. Die Teile und das Ganze stehen in einem subtilen Verhältnis. Einfach ein Rädchen ersetzen geht nicht, einfach eine zeit(geist)gemässe Methode einführen wirkt nicht oder mindestens nicht in der gewünschten Zielrichtung. Zu kompliziert ist die Vielfalt wechselseitiger Abhängigkeiten innerhalb des Ganzen und zwischen den Teilen, die das Ganze eines Bildungssystems ausmachen.
Eine andere Wirklichkeit
Auch den Schreibenden zog Finnlands Mythos wie ein Magnet an. 2003 reiste er ins Mekka des Bildungserfolges. Doch er sah im hohen Norden nicht, was er in der Schweiz hörte und las, was Bildungsexperten predigten und postulierten: Lehrer, die sich als Lerncoach verstehen und nicht referieren, Lehrerinnen, die Gruppenarbeiten moderieren und nicht unterrichten, Lehrkräfte, die selbstorientiertes Lernen organisieren und nicht kollektiv ins Thema einführen. Kein Deut von Lernen ohne Lehrer LOL, keine Spur von konsequent individualisiertem Unterricht.
Der aufmerksame Beobachter erlebte in allen besuchten Schulen geleiteten Frontalunterricht – konzentriert und prägnant vorgetragen, mit Rückfragen und Diskursteilen aufgelockert, aber stringent geführt. Daran schlossen sich Übungsteile an – mit präzisen Aufgaben. Lehrerassistenten unterstützen die Kinder und trainierten mit ihnen. Entspannt im Ton, intensiv im Tun, in einigen Teilen fast drillmässig. Keine Schülerin, kein Schüler wurde sich selbst überlassen.
Ob darin Finnlands Geheimnis lag und sein Spitzenrang in der ersten OECD-Bildungsstudie? Das fragte sich der Schreibende auf dem Rückweg von der Pilgerstätte. Er sah vieles von dem, was der renommierte neuseeländische Bildungsforscher John Hattie einige Jahre später in seiner Studie „Visible Learning – Lernen sichtbar machen“ als lernwirksame Unterrichtsfaktoren herauskristallisierte.
Der Erfolg liegt in der Vergangenheit
Doch das finnische Wunder war nicht von langer Dauer. Zwischen 2003 und 2012 verlor das Land insgesamt 25 PISA-Punkte. „Das entspricht dem Lernerfolg eines ganzen Schuljahres“, schreibt Christine Sälzer, nationale Pisa-Koordinatorin an der TU München. Noch immer liege es in Mathematik zwar über dem OECD-Durschnitt, doch die Fallhöhe sei bemerkenswert, fügt die Wissenschafterin bei.
Auch die London School of Economics and Political Science LSE interessierte sich für diesen Rückgang im PISA-Ranking. Der schwedische Bildungsforscher Gabriel Heller Sahlgren erklärt Finnlands Erfolge mit dem alten Schulsystem: starke Lehrerpersönlichkeiten, die Einfluss nehmen und führen, geleiteter und klar strukturierter Unterricht, eher traditionelle Methodik. Dann änderte das Land sein Credo. Das System setzte auf einen Pädagogen, der die Rolle des Lerncoachs übernimmt und als „Lehrkoordinator“ den Fokus auf den einzelnen Schüler statt die Klasse legt. Nun greifen die Reformen. Dazu braucht es 10 bis 15 Jahre, sagt die Bildungsforschung. Entsprechend schwächer schnitt Finnland in den Tests ab. „Die [PISA-]Noten werden genau dort schlechter, wo die Reformen anfangen zu wirken“, schreibt Gabriel Heller Sahlgren.
Ausbildung ist etwas Ganzheitliches
Sahlgrens Analyse provozierte Widerspruch. Auch von Andreas Schleicher, dem OECD-Koordinator und Schöpfer der PISA-Test. Doch er konnte Sahlgrens Resultate weder entkräften noch widerlegen. Der schwedische Bildungsforscher weist aber darauf hin, dass Schulen immer in einem Zielkonflikt stünden, sozusagen im Dilemma zwischen dem Fördern von Kreativität und dem Erlernen von kognitivem Wissen und Können. Ein gutes Schulsystem müsse beides stärken. Denn Ausbildung sei etwas Ganzheitliches. Europa, so sein Schluss, habe sich in den letzten 15 Jahren „etwas zu sehr für die Kreativität und zu wenig für die Leistung interessiert“. Er verweist auf die geistige Elite des Silicon Valley. „Ihre Vertreter waren sehr gut in der Schule – und sie sind ausgesprochen kreativ in dem, was sie erschaffen.“
Finnlands Reformen schwächten die Lernleistung, förderten aber die Freude an der Schule, lautet ein weiterer Befund der Studie. „Mit mehr Spass kam weniger Leistung“, titelte darum der Tages-Anzeiger (3. Jan. 2016). Trendwende hin zur Spasspädagogik? Gar nichts dagegen. Nur, der Spass steht nicht am Anfang, er kommt erst danach oder mit der Zeit. Wer einer jungen Geigerin zusieht, weiss das. Jahrelang muss sie üben und das Violinspiel über ihre akuten Launen und Interessen stellen. Sie hat sich der Logik dieses schwierigen Instruments zu unterwerfen. Nur so wird aus dem Gekratze dereinst Musik. Üben heisst das Zauberwort. Das gilt für alle Bereiche.
Bildung zielt auf das Sowohl-als-auch
Schule und Unterricht sind darum keine Entweder-oder-Institution. Ein solches Polaritätsdenken gibt es nur bei einem martialischen 0815-Typ, beim preussischen Pauker oder bei chinesischen Müttern wie der Yale-Professorin und Buchautorin Amy Chua. Bildung ist auf das Sowohl-als-auch ausgerichtet. Das ruft nach Lehrerinnen und Lehrern, die zielgerichtetes Unterrichten mit mitmenschlichem Einfühlungsvermögen oder humanistische Grundverpflichtung mit unnachgiebigem Fördern verbinden können. Kinder und Jugendliche wollen ein menschliches Gegenüber, eine charmante Autorität, die sie weiterbringt und ihnen wichtige Inhalte und Werte vermittelt.
John Hatties empirische Befunde zeigen es überdeutlich: Eine wirksame Bildungspolitik müsste mehr an den Menschen glauben und weniger an Systeme und Strukturen. Gute Lehrerinnen, gute Lehrer mit humaner Energie und fachlicher Leidenschaft sind der Kern der Schule. Sie zu finden muss man nicht nach Finnland pilgern. Es gibt sie in jedem helvetischen Schulhaus.