„Stell dir vor, es ist Schule, und alle gehen hin.“ So hiess das Leitthema des diesjährigen literarischen „Bund“-Wettschreibens. Der gesellschaftliche Dauerbrenner Schule bewegte: Ans Schreiben gegangen sind mehr als 200 Autorinnen und Autoren. Und rund 400 Gäste drängten zum feierlichen Abschluss in der Dampfzentrale Bern; gebannt hörten sie dem Preisgewinner zu. Mit seinem Essay „Überhör keinen Baum und kein Wasser“ überzeugte der legendäre Lehrer Sigi Amstutz.[1] Die Jury setzten den Text auf den ersten Platz.
Was wird aus der Welt der Kinder, wenn sie Lernstoff wird?
Amstutz, während vieler Jahre an der mehrklassigen Schule Turbach bei Gstaad tätig, führt uns mitten hinein ins Kernproblem des Schullernens – nämlich ins Spannungsfeld zwischen konkretem jugendlichem Erfahrungsraum und abstraktem Raum. Und was passiert mit der Welt der Kinder, wenn sie Lernstoff wird? Das fragt sich der alte Lehrer Z. in Amstutz‘ Essay. Er denkt zurück an verschwitzte und verschmutzte „Kinder, seine Schulkinder, die am Bach nie genug mitbekommen konnten“.
Diese Kinder, so sagt er, „sie spielten Arbeit, es war ihnen ernst, sie schwitzten, diskutierten, wiesen einander zurecht, beratschlagten, stimmten ab, suchten Lösungen. Sie spielten Wirklichkeit, ihre Wirklichkeit.“ Daran erinnert sich Lehrer Z. leise. Und er erzählt weiter: „Zusammenhalten und Wegdrängen, Integration und Isolation, es wurde gelebt, erfahren – und viel verhandelt und ausgehandelt.“
Die Welt der Kinder als vielfältiges Erfahrungsfeld
Wenn Z. an diesem Bach und an den Baustellen seiner Kinder vorbeikam, das Geschehen beobachtete und den jungen Menschen zusah, fand er bestätigt, „was er eigentlich schon vorher gewusst hatte: Lernen fand auch ausserhalb des Schulzimmers statt.“
Es war ein lebendiges Lernen: "Einer Strömung trotzen, Schwierigkeiten überwinden. Das Wilde in sich ausleben. Eigenschaften des Holzes erfahren. Das Verhalten der Tiere kennenlernen usw.“ Es sind einmalige Erfahrungsspuren aus der persönlichen Lebenswelt dieser Kinder. Es sind ihre Erlebnisse. Das freie Spiel bildet sie, und das Wissen um diese Dinge macht sie reich. Lehrer Z. erinnert sich an den Verhaltensforscher Konrad Lorenz: „Der Kontakt mit dem Lebendigen entwickelt das Gehirn, die Vielfalt draussen erzeugt die Vielfalt drinnen.“
Kennen die Pädokraten diese Welt?
Dass sich die technisierte Welt immer weiter von der Natur entfernt, ist auch für Lehrer Z. kein Geheimnis. Er weiss es. Doch Schule und Bildung hätten auch gegenhaltende Kräfte zu entwickeln und müssten darum Gegenläufiges betonen. Dazu gehöre das freie Spiel, diese wichtige Form von Bildung. Davon ist er überzeugt. „Würden die Lehrbuchmacher die Sicht der Kinder ernst nehmen, sähen die Lehrbücher, ihre Fragen, Antworten und Arbeitsanweisungen wohl ganz anders aus,“ sagt er, und die Kinder träfen nicht auf „zeitgestoppte Vergleichsarbeiten, absurde Aufgaben, […] zersägte Inhalte, messbare Kompetenzen, asphaltierte Emotionen“, erfunden von hochgeschulten Bildungsexperten, „Pädokraten eben“.
Und er fügt bei: „Ich habe es beobachtet, wie begeistert die jüngsten Kinder am Bach alles sammelten, was sie auf ihren Entdeckungsreisen fanden: Steine, Früchte, Samen, Rinde, Hölzer, Schilf. Schöpferisch gingen sie damit um. Jedes Kraut, jedes Blatt war kostbar, inspirierte zu Gestaltungen, Formen und Bildern, heute „LandArt“ genannt. Das ist der Weg: von der Natur zur Kultur.“ Und Lehrer Z. kommt ins Schwärmen: „Diese wunderbar wilden, neugierigen, dreckigen Kinder!“
Bauklötze, Steine, Naturelemente
Eine heile Heidi-Welt à la Johanna Spyri? Keineswegs. Mit Alltagsdingen sollten Kinder spielen können, fordert auch die renommierte Kulturwissenschaftlerin Donata Elschenbroich. Während Jahrzehnten hat sie am deutschen Jugendinstitut die Kindheit erforscht. Kinder müssen sich mit unprogrammierten Rollen und Als-ob-Spielen beschäftigen, mit Bauklötzen, Steinen und Naturelementen usw. Das bestätigt auch die Begabungsförderungsspezialistin Margrit Stamm in einer Studie.[2]
Im unstrukturierten und selbstinitiierten Kinderspiel liege die Basis zu den späteren kulturellen Leistungen Erwachsener, sagen beide. Rollenspiele zum Beispiel sind Vorgänger von Literatur und Theater; aus dem Spiel mit Bauklötzen wachsen Kunst und Architektur. Die Hände – und das wusste schon Aristoteles – sind der äussere Verstand. Das Begreifen führt übers Greifen. Das Spiel wird darum zum Königsweg des Denkens und Problemlösens. Kinder brauchten diese freie (Spiel-)Zeit. Nur so könnten sie in ihrem eigenen Tempo die Dinge und damit die Welt für sich erschliessen – die „Welt“ als Metapher für das Fremde, um es mit Wilhelm von Humboldt zu sagen, und Bildung als Wechselwirkung zwischen Ich und Welt.
Schule als Rückbindung auf die ganz persönliche Erfahrung
Rückbindung an die konkrete Erfahrung, das ist der Anker. Hier liegt der archimedische Punkt. So beschreibt es der Kognitionspsychologe und frühere Hochschullehrer der Universität Bern, Hans Aebli, in seinem wichtigen Werk „Denken, das Ordnen des Tuns“. „Wenn sie nicht ständig an die Basis konkreten Handelns und Sehens zurückgebunden werden, beginnen die Mühlen der Zeichensysteme bald leer zu drehen.“
Dieser einfache Satz wird heute zum anspruchsvollen pädagogischen Imperativ. Darum bleibt er Programm und Auftrag. Für Lehrer Z. und seine Kinder war Hans Aeblis Erkenntnis gelebter und darum belebender Alltag. Ihnen widmet Sigi Amstutz einen ergreifenden Essay.
[1] Die ersten drei Texte des literarischen Wettbewerbs finden sich unter www.essay.derbund.ch. Amstutz’ Essay-Titel ist ein Peter Handke-Zitat aus dessen dramatischem Gedicht „Über die Dörfer“, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981.
[2] „Frühförderung als Kinderspiel. Ein Plädoyer für das Recht der Kinder aus das freie Spiel“. Bern 2014. Margrit Stamm, emeritierte Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Freiburg i.Üe., ist Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education in Bern. Sie fungierte auch als Jurypräsidentin des „Bund“-Essay-Wettbewerbs.