Die IS-Kämpfer wissen, dass sie dem Tode geweiht sind. Doch sie gehen darauf aus, so viele ihrer Feinde wie möglich ebenfalls in den Tod zu reissen. Ihre Haltung ist eine Folge des unsymmetrischen Krieges, der die Guerilla-Kämpfer als Verbrecher einstuft – und, im Falle des IS, weil sich ja auch in der Tat viele von ihnen als Verbrecher verhielten. Es gibt keine Kriegsgefangenen in einem solchen Krieg, und das Sprichwort „Dem abziehenden Feind sollst du goldene Brücken bauen!“ gilt nicht. Das Schlimmste stehe noch bevor, heisst es in einem Uno-Bericht.
Wo al-Bagdadi sich als neuer Kalif vorstellte
Die angreifenden Iraker, unterstützt von amerikanischen Luftaktionen und Beratern, haben sich bis auf etwa 500 Meter an das berühmte schief stehende Minarett der historischen Nur a-d-Din Moschee vorgearbeitet. Diese Moschee, wo im Sommer 2014 al-Bagdadi sich als den neuen Kalifen vorstellte, gilt als das Zentrum der Innenstadt, und ihre Eroberung hätte symbolischen Wert.
Die IS-Verteidiger setzen nach wie vor Mörserbeschuss und Selbstmordbomben auf Lastwagen gegen die Truppe ein. Eine neue Variante dieser Kampfmethoden sind gepanzerte Bulldozer, wie die Lastwagen bis zum Rand mit Explosivstoffen angefüllt. Sie werden verwendet, weil die angreifenden Soldaten an den jeweils bestehenden Fronten Gräben und Erdwälle aufwerfen, um die Autobomben fernzuhalten.
Die Bulldozer stossen diese Erdwälle ein, bevor sie selbst zur Explosion gebracht werden. Die Angreifer müssen versuchen, die Fahrer der schweren Fahrzeuge zu erschiessen, bevor ihnen die Stahlungeheuer über alle Hindernisse hinweg buchstäblich auf den Leib rücken. Oder sie müssen Anti-Tankmunition gegen sie einsetzen, falls sie rasch genug über solche verfügen.
Heckenschützen können überall in und auf den zerschossenen Häusern verborgen sein, manchmal beginnen sie erst ihre Aktivität, nachdem die Fronten über die Verstecke hinaus vorgerückt sind, so dass sie die Angreifer in den Rücken schiessen.
Verzweifelte Lage der Zivilisten
In der Altstadt befinden sich nach den Schätzungen der Uno noch immer zwischen 400‘000 und 600‘000 Zivilisten. Etwa 180‘000 weiteren soll es gelungen sein, aus der Weststadt zu fliehen, seitdem der irakische Angriff am 19. Februar auf das westliche Tigris-Ufer begonnen hat. In den letzten zwei Wochen hat die Zahl der fliehenden Familien Tag für Tag zugenommen.
Dies geht darauf zurück, dass mehr Gebiete „befreit“ werden – oft unter Zerstörung sämtlicher Häuser. Aber auch darauf, dass immer zahlreichere der Bewohner auch aus den noch vom IS gehaltenen Teilen von Mosul entkommen, aus der Innenstadt und aus weiten Gebieten nördlich davon. Dies dürfte der Fall sein, weil die IS-Bewaffneten mit den Kriegshandlungen beschäftigt sind und ihnen die Mannschaften fehlen, um die ganze Stadtbevölkerung unter Kontrolle zu halten.
Die Flüchtlinge sagen, sie hätten seit Tagen nichts mehr gegessen. In der Stadt stünden die Märkte leer. Viele berichten, sie hätten die hölzernen Teile ihrer Wohnungen, Plastik-Stücke und sogar ihre nicht unbedingt benötigten Kleider verbrannt, um sich Wärme zu verschaffen. Sie hätten den Hungertod ebenso gefürchtet wie die Bomben. Man muss annehmen, dass die Lage der in der Stadt Verbliebenen unhaltbarer wird mit jedem Tag, der ohne die Ankunft der angreifenden Truppen vergeht.
Doch manche der diese kommandierenden Offiziere sprechen davon, dass die Kämpfe um Mosul noch Wochen oder Monate lang andauern werden.
Viele Flüchtlinge durch Luftangriffe getötet?
Seit dem vergangenen Freitag sind alle neuen Offensiven eingestellt, zuerst hiess es wegen des Wetters. Es herrsche Nebel und die Kampfflugzeuge der Amerikaner und ihrer Koalition könnten nicht eingesetzt werden. Daher fänden auch keine neuen Offensiven statt. Dies wies überdeutlich darauf hin, wie sehr die irakischen Angreifer auf Unterstützung aus der Luft durch ihre ausländischen Freunde und Helfer angewiesen sind.
Doch dann meldeten sich weitere Stimmen zu Wort. Die kurdische Nachrichtenagentur, Rojava, berichtete als erste. Ein Luftschlag der amerikanischen Koalition habe Flüchtlinge getroffen und gegen 200 von ihnen getötet. Die Amerikaner bestätigten, dass an dem angegebenen Ort „ein Schlag auf IS-Kämpfer“ stattgefunden habe. Sie sagten aber auch, der Vorfall werde untersucht.
Ein Sprecher der irakischen Föderalen Polizei, deren Einheiten zu den Elitetruppen gehören, die als Frontsoldaten kämpfen, erklärte, es fänden keine Angriffe mehr statt wegen der hohen Zahl der zivilen Verluste, die man in der Zukunft unbedingt vermeiden wolle. Von den eigenen Verlusten sprach er nicht. Doch sie müssen ebenfalls sehr hoch, vielleicht unerträglich hoch, geworden sein.
Neue Taktik der Angreifer?
Ein amerikanischer Brigadegeneral, John Richardson, der als Stellvertretender Kommandant der amerikanischen Koalition wirkt, sagte Reuters, die Lösung liege vielleicht in einer taktischen Änderung, indem eine zweite Front im Norden der Stadt eröffnet werde, um die Altstadt zu umzingeln und sie erst dann zu stürmen.
Der Vorsitzende des Provinzrates der Provinz Ninive, deren Hauptstadt Mosul ist, erklärte, die westliche Stadt sei voll von Ruinen, in deren Resten Leichen von Zivilisten lägen. Das „Menschenrechtsobservatorium“ von London, das über Vorfälle im Irak berichtet, schätzte, seit dem Beginn der Offensive gegen West-Mosul vom 19. Februar seien rund 700 Zivilisten getötet worden. Die Uno erklärte sich tief besorgt.
Rückkehrer in Ost-Mosul
Auf der seit Ende Januar befreiten östlichen Hälfte der Stadt beginnt Kritik laut zu werden. Zahlreiche Familien sind in ihre mehr oder weniger zerstörten Häuser zurückgekehrt. In einer Hauptstrasse gibt es schon wieder improvisierte offene Läden. Doch die Preise sind hoch und die wenigsten der Heimkehrer haben noch Geld. Die Schulen wurden wieder geöffnet. Die Lehrer arbeiten in drei Schichten täglich, um möglichst viele der Kinder zu unterrichten. Die irakische Regierung hat Hilfe für den Wiederaufbau versprochen, doch bisher ist nichts davon sichtbar geworden. Es gibt Berechnungen, nach denen die gesamte Stadt mindestens zwei Milliarden Dollar benötigen werde, um wieder einigermassen funktionsfähig zu werden. Diese Gelder jedoch fehlen zunächst. Ob und wie die Regierung sie sich verschaffen und auch vermeiden kann, dass sie weitgehend im Sumpf der endemischen Korruption versickern, ist unklar.
In Ost-Mosul gibt es noch keine Elektrizität, ausser jener, welche die Benützer für sich selbst mit Benzingeneratoren hervorbringen. Auch das Trinkwasser fehlt in fast allen Quartieren. Die Polizei geht von Haus zu Haus, um festzustellen, wer mit dem IS zusammengearbeitet habe. Solche Leute werden gefangen genommen. Sie kommen in Lager und in Gefängnisse. Schon geht das Gerücht um, wer bezahlen könne, sei frei von Verfolgungen.
Suche nach IS-Anhängern
In den anderen Städten, die zuvor vom IS befreit wurden, wie Falluja und Ramadi, war die Bevölkerung so gut wie vollständig geflohen, bevor die Kämpfe ihren Höhepunkt erreichten. Dies machte es leichter für die irakischen Behörden, die Mitarbeiter von IS auszusondern. Alle Zivilisten dieser Städte wurden befragt und geprüft, bevor sie Erlaubnis erhielten, in ihre Städte zurückzukehren. Die Verdächtigen kamen in Sonderlager, und über die dortigen Vorgänge kam es zu berechtigten Klagen.
Doch in Mosul sind viele der Bewohner verblieben. Nun geht es darum, sie in ihren Häusern und Notunterkünften in IS-Gegner und Anhänger zu scheiden. Viel für das Prestige des irakischen Staates hängt davon ab, ob diese Vorgänge einigermassen gerecht und zutreffend gehandhabt werden, oder ob sie zu brutalen Erpressungsmanövern ausarten. Flüchtlinge aus der Oststadt, welche die irakischen Linien erreichen, werden zuerst in ein Auffanglager transportiert, um dort untersucht zu werden. Ermittelt wird, wer dem IS anhing und wer nicht.
Wer die Untersuchung besteht, kommt in Flüchtlingslager, die bereits jetzt überfüllt sind. Die Nahrung sei ebenfalls knapp geworden. Irakische Journalisten merken an, dass es noch immer keine lokale Polizei in Ost-Mosul gebe. Die Ordnungshüter seien Ortsfremde aus den Sondereinheiten der Zentralen Polizei von Bagdad oder ebenfalls ortsfremde Armeeinheiten.
Nujaifi – nun Chef einer sunnitischen Miliz
Der frühere Gouverneur der Provinz Ninive, Provinzhauptstadt ist Mosul, Atheel an-Nujafi, aus einer sehr bekannten lokalen, sunnitischen Grossfamilie, floh mit den Armeegenerälen, als Mosul am 14. Juni 2014 vom IS überfallen und in Besitz genommen wurde. Er fand Zuflucht in der kurdischen Hauptstadt Erbil. Die Regierung von Bagdad entliess ihn. Er hat aber dennoch eine Miliz aus lokalen Freiwilligen um sich gesammelt, Sunniten wie er selbst.
Er wollte mit diesen Anhängern, die er „Ninive Wache“ nennt in die befreite Oststadt einziehen. Die Regierung von Bagdad verbot es ihm. Als er es dennoch versuchte, wurde ein bereits gegen ihn vorliegender Haftbefehl erneuert. Er war über ihn verhängt worden, weil er angeklagt ist, türkischen Truppen Einlass in Baschiqa, Nordirak, am Rande der kurdischen Besetzungszone, verschafft zu haben. Wo diese Truppen, Sunniten, bis heute stehen.
Der für Ost-Mosul zuständige irakische General erklärte, er werde Nujaifi festnehmen, falls er erneut in dem befreiten Stadtteil auftauche. Dennoch gibt es Berichte, nach denen seine, sunnitische, Miliz in sunnitischen Dörfern nahe bei Mosul „die Sicherheit gewährleiste“.
Solche Schritte und Gegenmassnahmen sind unheilvoll, weil sie im Licht der Gegensätze zwischen Schiiten („die in Bagdad regieren“) und Sunniten („die in Mosul unter ihnen zu leiden haben“) gesehen werden und dadurch die destruktive Kluft zwischen den beiden Religionszweigen vertiefen.
Unerfüllte Versprechen Bagdads
Allgemein lässt sich festhalten, in West-Mosul beginnen die Schwierigkeiten aufzutreten, die nach der Eroberung der Stadt zu gewärtigen sind. Die Regierung in Bagdad hatte zwar ein gutes Jahr Zeit, währenddem der Grossangriff auf Mosul vorbereitet wurde, um die Nachkriegszeit für die zweite Stadt des Iraks zu planen. Doch dies scheint nicht wirklich geschehen zu sein. An der finanziellen Front ist durch das Sinken der Erdölpreise jede Rechnung, die zuvor aufgestellt wurde, ungültig geworden. Vor dem Absinken des Erdölpreises war der Staat wohlhabend, doch seitdem der Erdölpreis um die Hälfte absank, ist das Geld in ganz Irak knapp geworden, und alle zuvor laut eingegangenen Hilfszusagen gelten nicht mehr.