Eine wichtige Position hat sich aus der politischen Diskussionsarena verabschiedet. Sie ist nicht verschwunden, aber kaum noch sichtbar oder sie wird zum Teil von Stimmen vorgebracht, denen man nicht zuhören kann: der Konservatismus.
Seine Marginalisierung geht nicht allein auf das Konto einzelner Personen. Sie hat mit der eigentümlichen Denkstruktur zu tun, die zumindest den deutschen Konservatismus wieder und wieder scheitern liess. Wenn man weiter zurückreichende Stränge ausblendet, kann man im Konservatismus eine Reaktion auf die Französische Revolution und die folgenden Modernisierungsschübe erkennen. Schon dadurch ist der innere Widerspruch markiert. Denn der Konservatismus stellt sich gegen Entwicklungen, die er nicht pauschal ablehnen kann – jedenfalls so lange er seine Fähigkeit zum differenzierten Denken bewahrt.
Deutschlands Verspätung
Grundsätzlich gegen Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte zu sein, ist nicht konservativ, sondern reaktionär. Der rational argumentierende Konservative setzt an einem anderen Punkt an: Er fragt, ob Ideale, die allein auf Überzeugungen der Vernunft beruhen, in der Praxis nicht an Hindernisse stossen. Diese Hindernisse können in Traditionen liegen oder in regionalen Besonderheiten. Die Rationalisten der Revolutionen, aber auch die Verfechter der Wirtschaft und der Technik, haben für diese Besonderheiten keinen Sinn. Sie möchten jeweils ihr Kalkül durchsetzen.
In diesem Sinne hat einer der Vordenker des Konservatismus, der Engländer Edmund Burke, argumentiert. Er hatte den Vorteil, Bürger eines Landes zu sein, das mit seiner politischen Ordnung seine Argumente stützte. Die Konservativen in Deutschland wiederum hatten den Nachteil, in einer, wie Helmuth Plessner es nannte, «verspäteten Nation» zu leben. Deutschland hinkte Frankreich und England politisch hinterher.
Fallstricke und Abgründe
Dieses Problem ist in der politischen Literatur wieder und wieder beschrieben und analysiert worden. Vor 30 Jahren, 1991, hat sich ein deutscher Jurist und Politiker in einem schmalen Band (1) geistvoll und differenziert mit dem Konservatismus, seinen Fallstricken und seinem dramatischen Scheitern auseinandergesetzt. Sein Name: Alexander Gauland. In den drei Jahrzehnten danach stolperte er mehr und mehr in die Abgründe, die er einst so klug analysiert und vor denen er gewarnt hatte. Gauland ist damit einer derjenigen Protagonisten, die mit ihrem Scheitern dem Konservatismus den argumentativen Boden entzogen haben.
Ganz auf der Linie von Helmuth Plessner, Harry Pross, Martin Greiffenhagen, Christian Graf von Krockow und anderen beschrieb Gauland, wie der deutsche Konservatismus aus der Romantik entstanden ist und nach dem suchte, was das Wesen der Deutschen ausmachte und als Unterscheidungsmerkmal gegenüber den Demokratien insbesondere Frankreichs und Englands dienen konnte. Dabei schälten sich zwei Schlagworte heraus: Kultur und Zivilisation. Unter Zivilisation verstanden die deutschen Konservativen die in ihren Augen oberflächliche Massengesellschaft der Demokratien mit ihrer Dominanz der Wirtschaft und der aufkommenden Massenkommunikation.
Die Deutschen dagegen reklamierten für sich eine in die Tiefe gehende Kultur, man kann auch sagen: Innerlichkeit. Im Einklang mit anderen Kritikern romantisch-konservativen Denkens erwähnt auch Gauland die „Betrachtungen eines Unpolitischen“, mit denen Thomas Mann verzweifelt und vergeblich versucht hatte, im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg die Besonderheit des deutschen Wesens gegen die vermeintliche Oberflächlichkeit westlicher Zivilisation zur Geltung zu bringen.
Kult der Willkür
Die eigentliche Katastrophe des konservativen Denkens aber lag darin, dass der Philosoph Martin Heidegger, der Schriftsteller Ernst Jünger und der Staatsrechtler Carl Schmitt Theorien entwickelten, die in Anschluss an einen einseitig interpretierten Friedrich Nietzsche einen nihilistischen Kult der Willkür und der rücksichtslosen Dominanz zur Folge hatten. Das war die geistige Basis für den Nationalsozialismus und den damit einhergehenden Zivilisationsbruch. In aller Schärfe hat sich Gauland damit in seinem Buch von 1991 auseinandergesetzt.
Dagegen hat Gauland 1991 für einen Konservatismus plädiert, der sich an der Kultiviertheit eines Edmund Burke orientiert und nicht den Irrweg des blindwütigen Nationalismus betritt. Ein solcher Konservatismus versucht, die Schäden der Dominanz von Massenkultur, Technik und Wirtschaft im Zeichen der Regionen und Traditionen zu benennen und einzudämmen. Dieses Vorgehen ist höchst rational und argumentativ.
Entkernung der CDU
Von 1973 bis 2013 war Alexander Gauland Mitglied der CDU und bekleidete verschiedene Ämter. In der CDU sah Gauland eine Partei, die in ihrem Ursprung konservativ ist, aber schon unter Helmut Kohl diese Orientierung zugunsten des tagespolitischen Pragmatismus mehr und mehr verlor, wie er 1991 diagnostizierte.
Gauland war nur einer im Chor der Kritiker, die in den folgenden Jahren beklagten, dass die CDU ihren konservativen Kern aufgab. Die Währungspolitik bekam in dieser Debatte ein ganz entscheidendes Gewicht. Denn entgegen den ursprünglich beschlossenen Regeln wurde während der Griechenlandkrise ein Mitgliedsstaat von der EU finanziell «gerettet». Das war die Stunde von Bernd Lucke, der zusammen mit einigen Mitstreitern gegen diese Entscheidungen vor Gericht zog. In gut konservativer Manier pochten sie darauf, dass sich politische Instanzen an die Regeln halten, auf deren Basis sie tätig sind.
Da dieses Anliegen aber weder von der CDU noch von anderen Parteien im Bundestag vertreten wurde, kam es schliesslich zur Gründung der AfD. Damit begann ein Drama, dessen Pointe in der Wiederholung konservativen Scheiterns liegt.
Der Zauberlehrling
Dabei spielte Bernd Lucke die Rolle des Zauberlehrlings. Er wurde die Geister, die er rief, nicht mehr los, und am Ende triumphierten sie über ihn. Denn auf seinen Zug der Einforderung von fiskalpolitischen Regeln auch im nationalen Interesse sprangen jene auf, die das nationale Interesse mit purem Nationalismus verwechselten und von Europa sowieso nichts wissen wollten.
Indem Lucke aus der Partei herausgeekelt wurde, konnte er sich – anders als Gauland – einen Teil seiner Integrität wahren. Aus welchen charakterlichen oder anderen Gründen auch immer aber hatte Gauland den Nationalisten nichts entgegen zu setzen und geriet prompt auf die Pfade, die er vorher als Irrweg beschrieben und intellektuell abgesperrt hatte. Dass er 2018 den Nationalsozialismus als «Vogelschiss» in einer ansonsten grandiosen 1000-jährigen Geschichte Deutschlands bezeichnete, markiert den Tiefpunkt eines Mannes, dem einst von Intellektuellen auch anderer Ausrichtung grosser Respekt gezollt wurde.
Politische Heimatlosigkeit
Die Auflösung des konservativen Kerns der CDU und das Scheitern konservativer Ansätze wie von Lucke und Gauland hat die politische Heimatlosigkeit jener zur Folge, die traditionelle Werte noch längst nicht abgeschrieben haben. Entsprechend sind sie auch kein Thema im laufenden «Wahlkampf».
Die Vermutung liegt nahe, dass die Zeit für solche Auseinandersetzungen abgelaufen ist. Aber das wäre ein Irrtum. Schon an der Oberfläche zeigen sich unerledigte Probleme. So hat Bernd Lucke zusammen mit Peter Gauweiler und anderen mit Erfolg im März dieses Jahres einen Eilantrag vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Zustimmung des Bundespräsidenten zu einem neuen Corona-Fonds der EU eingebracht.
Themen für Konservative
Und auch das Schuldenmachen auf nationaler Ebene löst Unbehagen aus. Aber selbst in der CDU sind die Kräfte, die eine konservative Wirtschaftspolitik fordern, nicht stark genug, um einen Friedrich Merz zum Parteivorsitzenden zu wählen. Hier zeigt sich, dass eine alte Warnung an konservative Politiker nach wie vor aktuell ist: Wirtschaftspolitik allein ist für ein konservatives Profil zu wenig. Lebensweltliche Werte müssen hinzutreten. Aber sind die heute überhaupt noch ein Thema?
Sie sind es, und zwar in einer kaum je gekannten Heftigkeit. Dabei geht es um Lebensformen, die mit Homosexualität und Geschlechtsumwandlungen und damit verbundenen Orientierungen zusammenhängen. Niemand dürfe, so die Parole, wegen seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden. Jede Lebensform sei gleich hoch zu schätzen. Mit dieser Forderung verbinden sich massive Eingriffe in die deutsche Sprache.
Konservative Skepsis
Das Thema der Lebensform führt in den konservativen Kernbereich: die Familie. Im konservativen Denken ist die Familie die Keimzelle der Gesellschaft. Und das Familienbild war traditionell klar auf Eltern, Kinder und genetisch verzweigte Verwandtschaft festgelegt. Deswegen spielte der besondere Schutz von Ehe und Familie in konservativen Parteiprogrammen eine herausragende Rolle und fand seinen Niederschlag zum Beispiel im deutschen Grundgesetz.
Schon 1971 hat der Politikwissenschaftler Christian Graf von Krockow Deutschland einen „fehlenden Konservatismus“ attestiert. (2) Dabei hätte dieser mit seiner „Skepsis als einer bestimmenden Grundhaltung“ eine wichtige Aufgabe im Hinblick auf die radikalen Veränderungen der Lebenswelten zu erfüllen. Aus heutiger Sicht würde dazu gehören, sich nicht in die Falle moralischer Bewertungen treiben zu lassen, sondern zum Beispiel zu fragen, ob diese neuen Lebensformen nun auch wie die herkömmlichen Familien mit Nachwuchs gesegnet sein müssen, der nur auf der Basis hochtechnisierter In-vitro-Fertilisation und der Leihmütterindustrie möglich ist. Fragen dieser Art zielen nicht auf moralisch unterfütterte Verbote, sondern markieren Unterschiede dort, wo sie bisweilen übergangen werden.
Fehlende Fragen
Zum Kernbereich konservativen Denkens gehört auch die Sprache. Sie ist etwas Gewachsenes und eng mit der Heimat verbunden. Zwar wandelt sich die Sprache, aber das bedeutet nicht, dass damit jeder mutwillige Eingriff schon abgedeckt ist. Konservative Skepsis würde sich auf die Bestrebungen richten, sprachlich in jedem Ausdruck mindestens zwei, wenn nicht sogar mehr Geschlechtszugehörigkeiten zum Ausdruck zu bringen. Über die viel diskutierte grammatische Problematik hinaus liesse sich fragen, ob damit nicht eine masslose Überschätzung des Geschlechtlichen zum Ausdruck kommt, wie wir sie bislang hauptsächlich – mit umgekehrtem Vorzeichen – von der katholischen Kirche kennen.
Die Diagnose des gescheiterten Konservatismus durchzieht die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Der Versuch, ihn wieder zu etablieren, schlug fehl, wie das abschreckende Beispiel der AfD, aber auch der Misserfolg von Friedrich Merz zeigen, wobei es sich bei ihm eher um einen auf Wirtschaft reduzierten Konservatismus handeln würde. Und so findet der Wahlkampf ohne die Würze grundsätzlicherer Fragen statt.
(1) Alexander Gauland: Was ist Konservatismus? Streitschrift gegen die falschen deutschen Traditionen. Westliche Werte aus konservativer Sicht. Eichborn Verlag, 1991.
(2) Christian Graf von Krockow: Der fehlende Konservatismus – eine Gegenbilanz. In: Gering, Greiffenhagen, von Krockow, Müller: Konservatismus – eine deutsche Bilanz. Serie Piper, München, 1971.