Im Gegensatz zur Schweiz, deren Bevölkerung seit der Gründung des Bundesstaats 1848 über 600 Referenden und Volksinitiativen entscheiden konnte, haben nationale Referenden in Grossbritannien keine grosse Tradition.
Hauptmotiv – der Parteizusammenhalt
Zum zweiten Mal geht es dabei um den Verbleib des Landes in der Europäischen Union. Die britische Zurückhaltung in puncto direkte Demokratie liegt in erster Linie an der Parliamentary Sovereignty, gemäss der das britische Parlament die einzige gesetzgebende Institution ist.
Wenn in der britischen Geschichte das Referendum als politisches Instrument ins Spiel gebracht wurde, geschah dies denn auch kaum mit dem Ziel, die Rechte des Volkes zu stärken oder seine Einbindung in wichtige gesellschaftliche Entscheidungen zu stärken. Stattdessen ging es fast immer um Parteizusammenhalt und Wahlkampf.
Die Referendumsfrage tauchte in Grossbritannien zunächst wegen der Unruhen in Irland am Ende des 19. Jahrhunderts auf. Die Liberal Party unter ihrem Anführer William Gladstone schlug vor, den Iren Home Rule, also eine eigene Regierung und ein eigenes Parlament, zu gewähren. Dieses bedeutende Vorhaben generierte unter den Briten erstmals Aufmerksamkeit für das Konzept des Referendums.
Das „Veto des Volkes“
Die einflussreiche Zeitschrift National Review druckte sogar ein Symposium zum politischen Instrument des Referendums. Eingeklemmt zwischen „Notizen zu Tibet“ und „Irrlehren in der Lachsfischerei“ entgegnete der berühmte Verfassungsjurist und Oxford-Professor Albert Venn Dicey dem Staatsmann Lord Curzon, der ein Referendum für unangemessen hielt, dass es sich bei dem Instrument um das „Veto des Volkes“ handle. Die Nation sei souverän und möge wohl entscheiden, dass die Verfassung nicht ohne direkte Sanktionierung durch die Nation geändert werden solle. Mit der Wahl einer Konservativen Regierung im Jahr 1895, die Home Rule für Irland ablehnte, verschwand der Vorschlag eines Referendum zur irischen Selbstverwaltung vom politischen Parkett.
Als jedoch die Liberalen 1906 durch einen Erdrutschsieg bei den Parlamentswahlen zurück an die Macht kamen, entwickelte sich bald ein Konflikt zwischen dem Unterhaus (House of Commons) und dem Oberhaus (House of Lords). Die Konservative Mehrheit in letzterem begann nämlich damit, die von der Liberalen Mehrheit im Unterhaus verabschiedeten Gesetze aufzuweichen oder ganz zurückzuweisen.
Im Zuge dieser Verfassungskrise erklang erneut der Ruf nach dem Referendum. Während die Liberalen bei den Parlamentswahlen 1910 ganz auf eine Kampagne gegen die Sperrbefugnisse des im Oberhaus versammelten Hochadels setzten, konterten die Konservativen mit der Idee, dass jedes wichtige Gesetz, das vom Unterhaus verabschiedet, vom Oberhaus aber verworfen wurde, einem Referendum unterworfen werden sollte. Anstatt sich zu einer wenig attraktiven Verteidigung der undemokratischen Kompetenzen der Lords drängen zu lassen, konnte die Konservative Partei nun vernünftigerweise behaupten, sogar noch stärker als die Liberalen den Willen des Volkes zu berücksichtigen.
Balfours Schlachtruf „Trust the People!“
Der Politiker, der die wahlkampftaktische Genialität dieser Initiative als erster erkannte und sie voll ausschöpfte, war Arthur Balfour. Mehr als die Hälfte seiner wichtigsten Wahlkampfrede, gehalten am 29. November 1910 vor vollbesetzten Rängen in der Londoner Albert Hall, widmete der Anführer der Konservativen Partei der Diskussion des Referendums. Wie die Times tags darauf berichtete, genoss es Balfour sichtlich, den Ruf „Trust the People!“ von seinen politischen Gegnern zu stehlen.
Der gewiefte Balfour schlug mit der Referendums-Klappe gleich noch eine zweite Wahlkampfs-Fliege. Indem er zusagte, die von ihm angeregte, antiliberale Zollreform dem Volk vorzulegen, konnte er eine gefährliche Konfrontation in der eigenen Partei abwenden, in deren Reihen das Vorhaben, vergleichbar mit dem aktuellen EU-Referendum, für heftigen Streit sorgte.
Mehrheitswechsel im Unterhaus
Trotz der Euphorie, welche die Aussicht auf Referenda entfacht hatte, führten die Wahlen von 1910 schliesslich zu einer knappen Mehrheit für die Liberal Party, die im neuen Parlament über genügend Stimmen verfügte, um ein Gesetz voranzutreiben, welches die Machtfülle des Oberhauses beschränken sollte. Im Frühjahr 1911 regierte die Konservative Opposition, indem sie ein Amendement zu dieser sogenannten Parliament Bill der Regierung einführte. Dieser Gesetzeszusatz sah für bestimmte, wesentliche Verfassungsänderungen ein Referendum vor.
Als Balfour im Unterhaus forderte, „dieses grossartige demokratische Triebwerk in Gang zu setzen“, sprach er zwar auch vom positiven Effekt auf die politische Bildung des Volkes und die demokratische Kultur im Allgemeinen. In erster Linie sahen er und seine Konservativen das Referendum aber als Schutzvorrichtung für die Verfassung. Bislang habe das Oberhaus dafür gesorgt, dass keine grundlegenden Verfassungsänderungen bloss aufgrund kurzfristiger politischer Mehrheiten und ohne ausgiebige Erörterung und Zustimmung durch die Gesellschaft durchgesetzt werden konnten. Da das Oberhaus mit der Parliament Bill diese Funktion nicht mehr wahrnehmen könne, habe man Anrecht auf einen gleichwertigen Ersatz in der Form des Referendums.
Wer repräsentiert den Willen des Volkes?
Mit ihrer Forderung nach einer Volksabstimmung für grundlegende Verfassungsänderungen befanden sich die Tories im Westminster Palace allerdings allein auf weiter Flur. Die Leader der jungen Labour Party verbündeten sich, genauso wie die Gewerkschaftsführer, mit der Liberalen Regierung gegen den Vorschlag der Konservativen.
Die folgende Referendums-Debatte drehte sich um eine zentrale Frage: Wer repräsentiert eigentlichen den wahren Volkswillen? Die bemerkenswerte Diskussion enthüllt einen politischen Elitismus, der sich im Vereinigten Königreich in seinem Kern bis heute erhalten hat.
Argumente gegen Volksentscheide
So argumentierte etwa der Chef der Labour-Abgeordneten und spätere Premierminister Ramsay MacDonald: „Wir erkennen, dass der wahre Volkswille die Angelegenheit des Staatsmanns ist, der weiss, wie sehr vom Volk ausgedrückte Wünsche nicht seinem wahren Anliegen entsprechen; der versteht, dass er auszusprechen hat, was im Herzen, aber nicht auf den Lippen des Volkes liegt und der das tut, was das Volk wirklich will.“
Neben diesem antiquiert wirkenden Elitismus wurde die Referendumsdebatte aber auch durch die sehr zeitgemässe Frage geprägt, welche Form der Demokratie stärker gefährdet ist, durch Kapitalinteressen manipuliert zu werden. Die direkte Demokratie kam erneut nicht gut weg. Der fabianische Sozialist Clifford Sharp etwa erntete breite Zustimmung für seine eloquent dargelegte Überzeugung, dass wohlhabende Kapitalinteressen, welche die Presse kontrollieren und als Propagandamaschine instrumentalisieren, die Stimmbürger stets viel leichter beeinflussen könnten als jedes halbwegs ehrliche und sozial gesinnte Parlament. Erstaunlicherweise war Sharp als erster Herausgeber des New Statesman selbst ein Medienmacher.
Drohende Spaltung unter den Konservativen
Nach der Verabschiedung der Parliament Act wurde das Referendum erst im Jahr 1930 wieder zum politischen Thema. Wie schon 1910 ging es dabei erneut darum, eine Spaltung der in die Opposition verbannten Konservativen Partei zu verhindern und ihre Aussichten in einer bevorstehenden Parlamentswahl zu verbessern. Im ersten Jahr nach dem Börsencrash an der Wall Street war die wirtschaftliche Situation auch in Grossbritannien schwarz. Die Arbeitslosigkeit stieg an.
Manch einer glaubte, die Antwort auf diese Malaise liege in einer protektionistischen Politik, die als „Empire Free Trade“ bekannt wurde: Die eigenen Kolonien und Dominions sollten die Industrieprodukte der britischen Fabriken abnehmen, während Grossbritannien im Gegenzug einen geschützten Markt für Nahrungsmittel und Rohstoffe aus dem Imperium anbietet.
Diese Idee erhielt enthusiastische Unterstützung von Lord Rothermere und Lord Beaverbrook, die mit der Daily Mail und dem Daily Express die beiden auflagestärksten Zeitungen des Landes ihr Eigen nannten. Andere führende Konservative glaubten dagegen, dass es sowohl falsch als auch politisch desaströs sei, Einfuhrzölle auf Nahrungsmittel einzuführen zu einem Zeitpunkt, zu dem Hunger für viele Briten eine reale Gefahr darstellte. Die Entscheidung war wichtig und der Streit darüber bitter.
Im Februar 1930 kündigte Lord Beaverbrook an, seinen Kreuzzug für Empire Free Trade mit einer neuen Partei, der United Empire Party, zu führen und bei den nächsten Parlamentswahlen mit eigenen Kandidaten anzutreten. Die altehrwürdige Konservative Partei lief in diesem Moment Gefahr auseinanderzubrechen. Dabei hatten die parteiinternen Spaltungen über Empire Free Trade durchaus gewisse Ähnlichkeiten mit den Erschütterungen, welche die Frage der europäischen Integration 1975 der Labour Party und heute wiederum den Tories bescheren sollte.
Baldwins „magischer Effekt“
In jenem kritischen Moment im Frühjahr 1930 verkündete der Konservative Parteiführer Stanley Baldwin die Unterstützung seiner Partei für ein Referendum über Nahrungsmittelzölle. Diese Ankündigung zeitigte einen magischen Effekt. Lord Beaverbrook liquidierte umgehend seine neue Partei und kehrte in den Schoss der Konservativen zurück.
Die Magie war jedoch von kurzer Dauer. Baldwin selbst hatte sich nicht zu Nahrungsmittelzöllen bekehrt, sondern das Referendum lediglich aus wahltaktischen Überlegungen ins Spiel gebracht, um eine Debatte über die entzweiende Frage vor den nächsten Wahlen zu umgehen. Andere Konservative Spitzenpolitiker wie Neville Chamberlain lehnten ein Referendum aus Prinzip ab. Bereits im Oktober 1930 beerdigten Baldwin und Chamberlain das Referendumsversprechen, das bald vergessen war.
Ein Mittel von Diktatoren und Demagogen?
So kam es im Vereinigten Königsreich erst im Juni 1975 zum ersten nationalen Referendum, als zwei Drittel der Briten für einen Verbleib ihres Landes in der Europäischen Gemeinschaft, der Vorläuferin der heutigen EU, votierten. Allerdings lässt sich die Premiere nicht auf einen grundlegenden Meinungsumschwung der politischen Elite zurückzuführen. Eine überwiegende Zahl von Politikern und Intellektuellen war dem Referendum gegenüber eigentlich noch immer kritisch eingestellt.
Edward Heath, Premierminister von 1970-1974, lehnte es als legitimes Verfahren rundweg ab. Margareth Thatcher, die im Februar 1975 Heath als Anführer der Konservativen Partei ablöste, sprach gar von einem „Mittel von Diktatoren und Demagogen“. Wieso also fand im Juni 1975 trotzdem das erste nationale Referendum statt?
Nachdem die Konservativen die Referendumsfrage fast ein Jahrhundert lang monopolisiert hatten, kam die Premiere auf Initiative der Labour Party zu Stande. In ihren Parteiprogrammschriften zu den beiden Parlamentswahlen des Jahres 1974 versprach Labour im Falle eines Wahlsiegs eine Neuverhandlung der Bedingungen der britischen EG-Mitgliedschaft sowie, nach Abschluss der Verhandlungen, eine Volksabstimmung.
Mitten in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg galt der Anfang 1973 vollzogene Beitritt zur EG als eine der wichtigsten Leistungen der Konservativen Regierung Edward Heaths. Ihr Frontalangriff auf die von Heath ausgehandelten Beitrittskonditionen war, in Kombination mit der Kritik, eine solch weichenstellende Entscheidung für das Land nicht dem Volk vorgelegt zu haben, ein erfolgsversprechender Wahlkampfschachzug der seit 1970 in die Opposition verbannten Labour Party.
Kitt für die zerstrittene Labour Party unter Wilson
Noch wichtiger für das Referendumsversprechen war jedoch die Spaltung von Labour in der Europafrage. Ein grosser Teil des an der Parteibasis einflussreichen linken Flügels um Tony Benn, Michael Foot und Peter Shore wandte sich mit wirtschaftspolitischen Argumenten gegen die britische EG-Mitgliedschaft und damit gegen die Parteiführung unter Harold Wilson. Für Wilson war das Referendum damit ein Werkzeug, das polarisierende und die Partei entzweiende Geschäft zurückzustellen und dann, nach den Wahlsiegen, ans Volk zu delegieren.
Wie Peter Keller, BBC-Journalist und Präsident einer Meinungsumfrageorganisation, 2010 vor einem Oberhausausschuss nicht ganz zu Unrecht kommentierte, „ging es bei der Entscheidung, das EG-Referendum von 1975 abzuhalten, einzig darum, die Labour-Partei zusammenzuhalten".
Camerons Rückgriff auf Wilsons Taktik
Mit wenigen Ausnahmen wie der Debatte zur Parliament Bill im Jahr 1911 wurde die Durchführung eines Referendums also stets als Wahlkampfstrategie oder zur Förderung des Parteizusammenhalts vorgeschlagen. Auch wenn sich die Umstände des bevorstehenden EU-Referendums nur beschränkt mit der Situation von 1975 vergleichen lassen, wiederholte sich heuer doch weitgehend das historisch eingespielte Muster.
Zunehmend unter Druck von den Euroskeptikern in der eigenen Partei und mit einer drohenden Wählerabwanderung zur aufstrebenden UKIP konfrontiert, versprach Premier David Cameron im Hinblick auf die General Elections von 2015, im Falle einer Wiederwahl das Arrangement der britischen EU-Mitgliedschaft neu zu verhandeln und dann das Volk darüber entscheiden zu lassen.
Ausserdem nutzte auch Cameron, genau wie einst Harold Wilson, der seine Unterstützung für einen Verbleib in der EG vom Verhandlungsausgang abhängig machte, das Damoklesschwert des Brexits, um Brüssel zu Zugeständnissen zu bewegen. Nur um danach wie Wilson mit minimalen Nachbesserungen die Wahlkampftrommel zu rühren.
Unterschiede zum Referendum 1975
Im Gegensatz zu 1975, als das Labour-Narrativ von erfolgreichen Neuverhandlungen in der Referendumskampagne grosse Überzeugungskraft entfaltete, wurde Camerons Verhandlungserfolg von weniger obrigkeitshörigen Medien und einer besser informierten Öffentlichkeit wesentlich kritischer durchleuchtet. So könnten die von Europamüdigkeit und einem Verlangen nach Stärkung der nationalen Identität geschüttelten Briten am Donnerstag sogar erstmals vom „Veto des Volkes“ Gebrauch machen.
*Adrian Hänni ist Historiker und Postdoctoral Fellow Lecturer for Political History an der Universität Leiden.