Fast alle publizieren diese Rötelzeichnung: Der Spiegel, NZZ-online, der Tages-Anzeiger, SRF-Online, Wikipedia, FAZ online, Keystone-SDA – und viele andere. Doch dieses Porträt stellt nicht Leonardo dar.
Zu diesem Urteil kommt einer der besten Renaissance- und Leonardo-Kenner. Der Historiker Bernd Roeck lehrte bis zu seiner Emeritierung im Februar an der Universität Zürich. Von 2009 bis 2011 war er Dekan der Philosophischen Fakultät. Sein 1304 Seiten dickes Buch „Der Morgen der Welt, Geschichte der Renaissance“ (2018) ist ein unverzichtbares Standardwerk für jeden Renaissance-Interessierten. Jetzt hat Roeck eine detaillierte, überraschende Biografie über Leonardo da Vinci vorgelegt. (Siehe Journal21.ch: „Finden Sie dieses Lächeln wirklich umwerfend?“) Mit Professor Roeck sprach Heiner Hug.
Journal 21: Herr Professor, Sie sind überzeugt, dass die berühmte Rötelzeichnung des alten Mannes, die sich in der Biblioteca Reale in Turin befindet, nicht Leonardo darstellt. Was führt Sie zu dieser Überzeugung?
Bernd Roeck: Es gibt keinerlei Beweise, dass dieses Bild von Leonardo selbst gezeichnet wurde, noch dafür, dass es ihn selbst darstellt. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass dieser Methusalem Leonardo ist.
Weshalb nicht?
Dieses Bild wurde erst im 19. Jahrhundert in der Turiner Biblioteca Reale entdeckt, und zwar von seinem grossen lombardischen Verehrer und Künstler Giuseppe Bossi. Er hat das Porträt bekanntgemacht. Der Kunsthistoriker Hans Ost behauptet sogar, Bossi hätte die Zeichnung selbst angefertigt. Wann dieses Bild entstand, ist völlig unklar. Es kann zwischen 1490 und 1515 entstanden sein oder gar erst um 1800.
Sie schreiben in Ihrem Leonardo-Buch, dass der Alte von Turin fast gleich aussieht wie die Hauptfigur auf einem Fresko des italienischen Malers Raffael.
Ja, der Alte auf der Turiner Rötelzeichnung hat einen Bruder. Raffael malte 1510/11 die berühmte „Schule von Athen“, die sich in der „Stanza della Segnatura“ im Vatikan befindet. Auf diesem Fresko ist der Philosoph Platon als Hauptfigur abgebildet. Er hat starke Ähnlichkeit mit dem Alten von Turin. Die Übereinstimmung ist frappierend.
Fast sicher ist, dass das Turiner Bild nach dem Raffael-Bild entstanden ist. Jemand hat Raffaels Platon kopiert und daraus das Turiner Porträt gemacht. Man braucht sehr viele Hilfshypothesen, um aus dem Turiner Leonardo einen Leonardo zu machen.
Kannten sich Raffael und Leonardo?
Das wissen wir nicht. Sie könnten sich zwischen Herbst 1504 und Frühjahr 1506 in Florenz begegnet sein.
Könnte also Leonardo nicht doch Raffael Modell für seinen Platon gestanden haben?
Das ist unwahrscheinlich. Sollten sie sich getroffen haben, was wir nicht wissen, wäre Leonardo zwischen 52 und 54 Jahre alt gewesen. Der Platon in der „Schule von Athen“ ist allerdings sehr viel älter. Es bedürfte waghalsiger Hypothesen, wollte man Raffaels Platon eine zweite Identität als Leonardo verpassen.
Also stellt weder der Alte von Turin noch Raffaels Platon Leonardo dar?
Plausibel ist, dass beide Werke, der Alte von Turin und Raffaels Platon, Idealbilder von Philosophen oder Gelehrten darstellen. Philosophen waren bärtig. Mit Leonardo hat weder der Turiner Alte noch Raffaels Platon etwas zu tun.
Der redselige Künstler-Biograf, der Toskaner Giorgio Vasari, weiss nichts davon, dass Raffael Leonardo abbilden wollte.
Das ist ein weiteres Argument, dass Raffaels Platon nicht Leonardo darstellt. Vasari kennt „Die Schule von Athen“ und beschreibt sie. Er gibt auch verschiedene Personen an, die auf dem Bild verschlüsselt sind. Hätte Raffael seinen Platon mit der Physiognomie Leonardos ausgestattet, hätte Vasari das gewusst. Vasari war ein glühender toskanischer Patriot. Er hätte sicher mitgeteilt, dass Raffael seinem Helden, dem Toskaner Leonardo, eine solche Ehre erwiesen hätte.
Also: Der Methusalem von Turin stellt wahrscheinlich nicht Leonardo dar. Ein anderes Porträt hingegen könnte Ihrer Meinung nach den richtigen Leonardo darstellen.
Auf Schloss Windsor befindet sich eine mit Leonardo Vinci angeschriebene Rötelzeichnung. Sie wird seinem Schüler Francesco Melzi zugeschrieben. Melzi war lange mit Leonardo zusammen und hat alle seine Zeichnungen geerbt. Im Katalog der Royal Collection in Schloss Windsor steht: „Dies ist das einzig zuverlässige Porträt Leonardo da Vincis (1452–1519), das erhalten ist.“ Ganz sicher ist natürlich auch das nicht. Doch man kann vorsichtig sagen, es ist am wenigsten unwahrscheinlich, dass das Bild Leonardos tatsächliche Physiognomie überliefert. Das Bild entstand vermutlich um etwa 1510, als Bärte wieder Mode wurden.
Auch Vasari selbst hat Leonardo porträtiert.
Ja, aber er kannte ihn ja nicht, Leonardo war schon Jahrzehnte tot, als ihn Vasari darstellte. Vasaris Fresko und Holzschnitt haben mit Leonardos Aussehen nichts zu tun. Vasari wollte den Typus des weisen alten Gelehrten darstellen, ähnlich einer Zeichnung Michelangelos.
Wie reagieren die Turiner, wenn an der Echtheit „ihres“ Leonardo gezweifelt wird?
Die Turiner werden beim Teufel nicht zugeben, ihre Rötelzeichnung stelle nicht Leonardo dar. Man sollte ihre Rötelzeichnung einer chemischen Analyse unterziehen. Vielleicht wüsste man dann mehr. Aber die Turiner wehren sich gegen eine solche Analyse – vielleicht haben sie Angst vor der Wahrheit.
Sie wollten auch wissen, wie Leonardo heute ausgesehen haben könnte und sind auf abenteuerliche Wege gegangen.
Wir wollten wissen, wie Leonardo etwa als 40-Jähriger ausgesehen haben könnte. Dabei half uns das Forensische Institut der Zürcher Kriminalpolizei. Mit modernsten Methoden liessen wir dort ein Phantombild erstellen. Wir rasierten Melzis Leonardo und verjüngten ihn. Leonardo wurde ja als schöner, wohlproportionierter Mann mit vollem langem, schönen, gekämmten Haar beschrieben. Den Bart liess er sich erst später wachsen. Bärte waren erst nach 1500 Mode geworden. Mit der Rekonstruktion wollten wir Leonardo aus Fleisch und Blut darstellen – und nicht als Mythos, wie er heute gesehen wird.
Bernd Roeck: Leonardo. Der Mann, der alles wissen wollte. Biographie. C. H. Beck, 2019, 430 Seiten
Bernd Roeck: Der Morgen der Welt, Geschichte der Renaissance. C.H. Beck, 2018, 1302 Seiten
Auch erschienen: „Die Suche nach Arkadien“ (2004), „Mörder, Maler und Mäzene: Piero della Francescas ‚Geisselung’“ (2010)