Seit der Einführung des Kindle 2007 sind speziell für digitale Bücher geschaffene E-Book-Reader auf dem Markt. Und so lange dauert schon die erregte Debatte über kulturelle Verluste und Gewinne dieser «Revolution». Bislang zeichnet sich keine diskursive Beruhigung ab, im Gegenteil. Die einen werden nicht müde, den Teufel einer absoluten Amazon-Herrschaft an die Wand zu malen. Andere machen die Warner lächerlich, sie seien uneinsichtige Fortschrittsverweigerer, die zudem die herkömmliche Buchkultur unzulässig schönredeten.
In den vielstimmigen Diskussionen haben beide Seiten beeindruckende Arsenale von Argumenten in Stellung gebracht. Es ist nicht leicht, in dieser Auseinandersetzung eine standfeste Position zu erlangen. Das folgende ist ein persönlicher, ein subjektiver Beitrag. Er ist nicht so vermessen, den Kampf der Meinungen mit einem lucky punch entscheiden zu wollen, sondern gibt lediglich Bericht von ein paar eigenen Erfahrungen.
Tolle Errungenschaft
Das E-Book ist eine feine Sache: Ich habe Dutzende oder, wenn ich will, Hunderte von Büchern auf einem handlichen Gerät bei mir; der Reader hilft bei Bedarf mit Wörterbüchern; ich kann Passagen markieren und auf den Computer übertragen; der Text ist auf einem E-Book-Reader bei allen Lichtverhältnissen angenehm lesbar; Bücher kaufen ist mit ein paar Klicks erledigt; der Akku hält erfreulich lange durch. Toll!
Ein weiteres verlockendes Argument für den Einstieg in die digitale Bücherwelt ist der leichte Zugang zu immer mehr älteren Titeln. Sind die Rechte daran erloschen, so können sie gratis oder zu sehr günstigen Preisen publiziert werden. Voller Begeisterung habe ich nach der Anschaffung meines Kindle eine Reihe literarischer und philosophischer Klassiker heruntergeladen.
Klassiker à discretion
Allerdings war das Lesen dann keine ungetrübte Erfahrung. Die kostenlosen E-Books sind in vielen Fällen unkorrigierte Digitalisate voller maschineller Lesefehler und ohne jegliche Navigationshilfen. Der Versuch, in Hegels «Phänomenologie des Geistes» bestimmte Abschnitte nachzuschlagen, war in dem unstrukturierten Bandwurm, als den das E-Book Hegels Text präsentiert, ein ziemlich frustrierendes Unterfangen.
Besser erging es mir mit literarischen Klassikern. Ich packte die Gelegenheit beim Schopf, endlich Johann Gottfried Seumes «Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802» zu lesen. Nicht nur hat diese E-Book-Ausgabe ein Inhaltsverzeichnis mit anklickbaren Kapiteln, sie bietet auch einen nicht von Fehlern entstellten Text. Begeistert von diesem Autor, las ich auch noch die urheberrechtsfreie Ausgabe von Seumes «Mein Leben» – für mich eine Entdeckung!
E-Book oder Print?
Seither habe ich auch etliche Gegenwartstitel und Neuerscheinungen als E-Books gekauft und auf dem Kindle gelesen. Weil die digitale Ausgabe bei neuen Büchern meist nur wenig billiger ist als die gedruckte, fällt der Entscheid, ob E-Book oder Print, immer etwas schwer. Angesichts des meist geringen Preisunterschieds stört mich beim E-Book der Abschied vom Besitz eines Buches: Ich kaufe in der digitalen Form kein Objekt, sondern lediglich ein Nutzungsrecht. Zwar kann ich, wenn ich will, die E-Book-Datei auf meinem Gerät speichern. Wechsle ich das Gerät, so kann ich die Datei entweder in der Cloud weiter nutzen oder erneut herunterladen. Heisst es. Ob dieses Versprechen auch in zehn Jahren noch gilt und was beim Wechsel zu einer nächsten Technologie passiert, weiss natürlich niemand.
Doch solche Bedenken sind eher grundsätzlicher Art. Beim Kaufentscheid für ein konkretes Buch kommen andere Überlegungen ins Spiel. Will ich den sofortigen Zugriff? Spielt beim entsprechenden Titel das Medium eine Rolle? Soll das Buch als Nullgewicht der Reiselektüre beigefügt werden? – Was den Ausschlag gibt, ist nicht immer ganz klar, und vor allem wird er durch die jeweils wieder neuen Leseerfahrungen beeinflusst.
Experiment Petrowskaja
Zum aufschlussreichen Experiment ist für mich die Lektüre von Katja Petrowskajas Roman «Vielleicht Esther» geworden. Voller Erwartung lud ich mir das mit dem Bachmann-Preis 2013 ausgezeichnete und von der Kritik begeistert aufgenommene Buch auf den Kindle. Positiv voreingenommen las ich die ersten paar Kapitel, legte den Kindle weg, vergass das Buch, wollte irgendwann weiterlesen – und da war nichts mehr, woran die Lektüre hätte anknüpfen können. Null, keine Erinnerung. Also wieder von vorn, die ersten paar Kapitel. Und wieder: Kindle weggelegt, Inhalt verblasst. Nach dem dritten, genau gleich verlaufenen Versuch gab ich auf – und kaufte das gedruckte Buch.
Die Druckausgabe enthält den gleichen Text, ist aber ein anderes Buch. Für mich jedenfalls, denn: ich kann es lesen. Ich lese es langsam, aber in einem Zug. Und ich finde wieder, was die Kritiker zum Schwärmen gebracht hat. Was ist anders? Beglückt vom schönen gebundenen Buch glaubte ich erst, der für mich so unzugängliche E-Book-Text sei halt eine lieblos abgefüllte Datei gewesen. Beim Nachschauen im Kindle stellte ich jedoch fest, dass dem durchaus nicht so ist. Vielmehr ist gerade dieses E-Book der Printausgabe formal recht nahe. Nach diesem Befund beschäftigt mich die Frage um so mehr, was in diesem Fall bei mir den Unterschied ausmacht.
Das «bei mir» im letzten Satz ist vermutlich wichtig. Ich nehme nämlich die Äusserungen von Leuten ernst, die von sich sagen, sie würden alles digital lesen. Wenn sie zudem behaupten, die elektronische Form habe ausschliesslich Vorteile und ihr gehöre deshalb zweifelsfrei die Zukunft, so glaube ich ihnen auch das – für ihre Lesepraxis. Für die meine glaube ich es vorderhand nicht.
Langsamkeit und Ungeduld
Deshalb nochmals die Frage: Zu welchem Aspekt, welcher Dimension meiner Lesepraxis hat die digitale Form des Buches von Katja Petrowskaja nicht gepasst? Mir ist klar: Ich gerate da auf dünnes Eis. Sei’s drum, ich versuche eine Antwort.
Es kommt mir vor, als hätten digitale Geräte eine Aura der Ungeduld, als drängte stets der gesamte virtuelle Kosmos auf den Bildschirm. Lese ich auf dem Smartphone, dem Tablet, dem Notebook, so warten Tausende von Informationen, die relevanter, interessanter, unterhaltender sein könnten. Mich dem gerade offenen Dokument zu widmen, ist ein Risiko. Es könnte vergeudete Zeit sein. Für die Situation am Bildschirm ist die Diagnose, wir lebten in einer Multioptions-Gesellschaft, längst eine krasse Verharmlosung. Es gibt da nicht bloss ein paar überblickbare Möglichkeiten, aus denen ich auszuwählen gezwungen wäre. Vielmehr habe ich ein Universum in Griffnähe, das sich andauernd in rasendem Tempo erweitert und verändert.
Obschon ich mir diese Grenzenlosigkeit des Virtuellen weder vorstellen kann noch will, erzeugt ihr schlichtes Vorhandensein eine permanente Unruhe. Sie schleicht sich wie eine unterschwellige Vibration ins elektronische Lesen. Suche ich im Netz nach aktuellem Stoff, so ist dieser Stimulus ganz wunderbar. Will ich mich jedoch auf eine komplexe Geschichte einlassen, mich mit einem langsamen Text synchronisieren, so stört mich das Wispern der hinter dem nächsten Klick ungeduldig wartenden Stimmen.
Experiment Knausgård
Anscheinend gibt es Bücher, die den Leser gegen das Andrängen der Welt in einer Art immunisieren können, dass weder Umgebungslärm noch der digitale Kosmos eine Chance haben. So ein Fall war bei mir der Roman «Sterben» von Karl Ove Knausgård. Diesen ersten von sechs Bänden der Lebensbeschreibung Knausgårds mit total 3'600 Seiten las ich auf dem Kindle schlank weg. Der Autor erzählt forsch drauflos und entwickelt einen erzählerischen Sog, der mich genau wie die versammelte Literaturkritik in ihren Bann geschlagen hat.
Ein Kriterium beim Entscheid für E-Book oder Print ist meine Intuition, ob ich mir das zu kaufende Buch ins Regal stellen möchte oder nicht. Traue ich ihm zu, dass es die Gewichtigkeit und Perennität annehmen wird, um einen Platz zu bekommen zwischen all den Bücherrücken, bei denen ich schlendernd immer mal wieder drüberfahre mit Blicken und Fingern, um die eine und andere dieser Lektüren wieder (oder endlich einmal) herauszugreifen und anzublättern? Petrowskaja gehört für mich zu diesen Büchern, Knausgård nicht.
Das ist ein bisschen irrational, ich weiss. Es sind nicht viele Bücher, die ich je wiederlese, und nur eine Handvoll von ihnen lese ich alle paar Jahre von neuem. So gesehen könnte ich meine Sammlung vielleicht auf ein einziges Regal reduzieren. Sollte ich mal wegziehen müssen, hätte ich eine grosse Erleichterung. Zudem ist es ja schwierig, Wohnungen mit Grundrissen zu finden, die in grösserem Umfang Bücherwände zulassen.
Schleppende Revolution
Die Vorteile der digitalen Entmaterialisierung sind offensichtlich und werden die bis jetzt eher schleppend verlaufende «Revolution» zweifellos weiter voranbringen. Deren Tempo zieht zwar an, hat aber bis jetzt nur für die Eroberung einer kleinen Nische gereicht. Im deutschen Buchmarkt betrug im Jahr 2013 der Anteil der E-Books 3,9 Prozent (für die Schweiz gibt es keine entsprechenden Zahlen). Vergleichbare «Revolutionen» wie die CD und die Digitalfotografie kamen doch wohl etwas schneller vom Fleck.
Trotzdem glaube ich, dass in Buchkultur und Buchmarkt eine grosse Veränderung begonnen hat. Sie wird sich beschleunigen, sobald sich in der Welt der digitalen Bücher allgemeine Standards durchsetzen und die Handhabung der E-Books weiter verbessert ist. Gedruckte Bücher wird es jedoch noch lange geben. Sie haben viel bessere Überlebenschancen als gedruckte Zeitungen und Zeitschriften. Hoffentlich.