Von Dieter Imboden (Text) und Norbert Bruggmann (Bilder)
Als ich aus der Unterführung die Treppe hochsteige, wartet Norbert, der Künstler und Fotograf, auf dem Bahnhofvorplatz. Noch im Zug habe ich mir ihn vorzustellen versucht, doch das Bild unserer letzten Begegnung vor mehr als zehn Jahren lässt sich erst in jenem Moment wiederbeleben, da ich ihn vor mir sehe.
Einmal im Frühling haben wir zusammen den Flugplatz Samedan umrundet, zumindest virtuell, weil das Virus damals mehr nicht erlaubt hat. Doch nun ist die Zeit reif geworden für eine wirkliche Begegnung. Die Idee ist denkbar einfach: Ich würde ihn für zwei Tage besuchen, hatte ich Norbert geschrieben, er möge das Programm nach eigenem Gutdünken bestimmen.
Wir haben uns kaum begrüsst, da weist mich Norbert schon auf ein erstes „sprechendes Bild“ hin: zwei nebeneinander liegende Brücken, welche vom Bahnhofplatz zum Fuss des Hügels führen, auf dem das Hotel Palace thront. Die beiden Brücken stehen symbolisch für den Wandel der Zeit.
Die rechte geleitet den Ankömmling in einen goldenen Tunnel und weiter in ein gigantisches Parkhaus, das irgendwo auf dieser Welt stehen könnte und irritierend kontrastiert zu den Bildern, welche der Eintretende mit sich trägt, sei es das Bild des banalen Bahnhofplatzes oder dasjenige der sprachlosen Majestät der Berge, welche das Hochtal einrahmen.
Die linke ist von grobem Kies bedeckt, auf dem verloren ein rostiges Stück Geleise liegt. Sie endet an einer Art Tunneleingang, der durch ein Lüftungsgitter versperrt ist. Ein bisschen Grün spriesst zwischen den Steinen, verziert vom Gelb eines Löwenzahns. Man muss sich in der lokalen Geschichte auskennen, um zu verstehen, was sie uns erzählt:
Das Engadin, heute Tempelberg der Reichen, wo alles endet, weil es, hat man die Spitze erreicht, nur noch abwärts gehen kann, bedeutete einst – für Menschen und Waren – eine Verbindung zwischen Nord und Süd, Ost und West. Als im Jahre 1904 die Bahnstrecke Celerina–St.Moritz als letztes Stück der Albulalinie in Betrieb ging, gab es Pläne für eine Fortsetzung der Bahn nach St. Moritz Bad und weiter über den Malojapass und durch das Bergell hinunter nach Chiavenna, wo seit 1886 ein Seitenast der Veltlinbahn die Verbindung nach Lecco und Mailand herstellte.
Dass man die Brücke, welche einst als Fortsetzung der Bahnlinie gedacht war, im Rahmen des eben erst abgeschlossenen Totalumbaus des Bahnhofs von St. Moritz als letzte Erinnerung an diesen Traum stehen gelassen hat, mutet wie eine Art Beschwörung jener Zeit an, als das Engadin mit den sich tief eingegrabenen Tälern der Lombardei eine wirtschaftliche und kulturelle Einheit bildete. Berge trennen nicht, sie verbinden. Das gilt übrigens auch für die östlichen Nachbarn von Graubünden: Die Linie der Rhätischen Bahn nach Scuol-Tarasp hätte, so die einstigen Pläne, bis nach Landeck zur Arlberglinie weitergeführt werden sollen, doch auch dieser Traum blieb unerfüllt.
Machen wir uns also, wie einst die Handelsleute, Zuckerbäcker und Söldner, aus dem Engadin auf die Reise ins Land, wo die Zitronen blühen, vorbei an den Seen und am Dorf Maloja, wo Giovanni Segantini die letzten Jahre seines Lebens verbrachte, und stürzen wir uns auf der kurvigen Passstrasse in den gähnenden Abgrund des Bergells, das im lokalen Dialekt Val Bargaia heisst und Heimat berühmter Menschen war. „Nur ein paar Leckerbissen können wir anschauen“, sagt Norbert, sonst wären wir erst in einer Woche in Chiavenna.
Casaccia, das Bergeller Dorf auf der obersten Talstufe, wo der von Bivio kommende Septimerpass einmündet, lassen wir schweren Herzens rechts liegen, trotz der spannenden Hausinschriften, die es hier zu entdecken gäbe. Der Septimer war übrigens seit römischer Zeit oder früher einer der wichtigsten Übergänge über die Alpen. Als 1473 die Route durch die Viamala eröffnet wurde, erhielt er vom Splügenpass Konkurrenz. Im Jahr 1820 wurde dann die Julierstrasse eröffnet. Der Verkehr in die Lombardei nahm künftig die Route über Julier- und Malojapass, und die Strasse über den Septimer verfiel. Doch das änderte vorerst nichts an der zentralen Bedeutung von Chiavenna, wo sich all diese Routen vereinen. Erst als sich das Projekt einer Gotthardbahn gegenüber dem Splügenbahnprojekt durchsetzte, verlor die Stadt für den Transitverkehr an Bedeutung. – Doch über Chiavenna später, im nächsten Beitrag zu „Unterwegs“.
Wir fahren jetzt durch die engen Gassen von Vicosoprano, von wo aus im Mittelalter der Warentransport über den Septimer organisiert worden war („tausend Dinge zu sehen, aber ein andermal“, sagt Norbert) und überqueren bei Stampa auf einer schmalen Brücke die Maira, die in Chiavenna Mera hiesst und dort mitten durch die Altstadt fliesst, was bei Hochwasser ein ziemlich beängstigender Anblick sein muss.
Wer würde dem meist harmlos daherkommenden Fluss seine schlummernde Stärke ansehen, seine subversive Kraft, welche vor Jahrhunderttausenden seinem Bruder, dem En bzw. Inn, bei Maloja buchstäblich das Wasser abgegraben hat, so dass das Val Maroz, einst oberster Teil des Engadins, zum Quellgebiet der Maira geworden ist. Seither erinnert der stolze Inn, der nun seinen Anfang im Lagh dal Lunghin nimmt, an einen schwanzamputierten Hund.
Im Schritttempo schleichen wir durch die enge Gasse von Coltura und stehen plötzlich vor dem überraschend bescheidenen Eingang des Palazzo Castelmur, dessen Fassade dringend eine Rennovation nötig hätte.
Der Palast wurde 1723 von der Familie Redolfi erbaut und später von Baron Giovanni de Castelmur, der als Zuckerbäcker wohlhabend geworden war, erweitert. Über dem Portal steht eine lateinische Inschrift:
Deo dante nihil valet invidia, deo non dante nihil valet labor, ergo soli deo gloria. Amen. Zu Deutsch: Wenn Gott gibt, vermag der Neid nichts, wenn Gott nicht gibt, vermag die Arbeit nichts. Also Gott allein sei Ruhm. Amen.
Ein ziemlich fatalistisches Bekenntnis am Haus eines fleissigen Zuckerbäckers! – Leider ist der Palazzo geschlossen. Durch eine Seitenpforte gelangen wir wenigstens in den Garten, an der Westfassade vorbei, wo Wasserschäden ein bizarres Fresko geschaffen haben.
Der Garten wird durch eine hohe Mauer eingefasst, welche dem Betrachter einen tiefen Frieden vermittelt: alte Bäume, Vogelgesang, über der Mauerkrone weisse Bergspitzen. Von der Fassade eines Nebengebäudes scheint uns zwischen Arkaden die Sonne Italiens entgegen. – Freie Sicht aufs Mittelmeer – die Fantasie der Maler hat sie schon damals zur Wirklichkeit gemacht.
Aber der Friede kann auch trügerisch sein. Mächtige Felsbrocken, die überall auf den Wiesen liegen, zeugen von der Unberechenbarkeit der Natur.
Noch ist es erst wenige Jahre her, dass die Bewohner von Bondo, nur drei Kilometer talabwärts, diese Erfahrung machten: Im August 2017 verschütteten Felsabbrüche am Pizzo Cengalo acht Berggänger und lösten im Val Bondasca Muren aus, welche mehrmals die Evakuation von Bondo am Talausgang nötig machten.
Doch an Bondo fahren wir vorbei, und auch das gegenüber auf einer Sonnenterrasse liegende Soglio müssen wir uns für einen späteren Besuch aufsparen. Hinter Castasegna stehen wir unvermittelt an der Grenze zu Italien. – Was soll diese Grenze hier, mitten im engen Tal der Maira bzw. Mera, das doch topografisch eine Einheit bildet?
Tatsächlich könnte man sich auch einen andern europäischen Geschichtsverlauf vorstellen, bei dem es diese Grenze nicht gäbe und das Valchiavenna und das Veltlin einen zusätzlichen Schweizer Kanton bildeten. Doch die Bündner, welche damals diese Täler besetzt hielten, waren nicht bereit, ihren Untertanen Selbständigkeit zuzubilligen. Als dann die napoleonischen Truppen anfangs des 19. Jahrhunderts in der Lombardei zum Rechten schauten, war der Traum vom Schweizer Veltlin zu Ende. Die Grenze zwischen dem Bistum Chur und Mailand, welche unterhalb Castasegna das Bergell durchschnitt, wurde zur Staatsgrenze. Vergessen ging dabei die jahrhundertelange enge Beziehung zwischen Chiavenna und der heutigen Schweiz, vergessen auch, dass einige berühmte Schweizer Familien, die Salis, Pestalozzis, ja auch die Basler Werthemanns aus Chiavenna stammen. Auch darüber später.
Staatsgrenzen, die wir in Europa dank Schengen überwunden zu haben meinen, sind heute zu Covid-19-Grenzen geworden. Zum Glück kennt der italienische Zöllner Norberts Auto. Wir werden freundlich durchgewinkt und erreichen kurz danach jenen Ort, der im 17. Jahrhundert durch einen gewaltigen Bergsturz zerstört worden ist: Piuro, zu deutsch Plurs.
Hier fanden am 4. September 1618 rund tausend Menschen den Tod, als ein durch den intensiven Abbau von Speckstein ausgelöster Felssturz eines der reichsten Dörfer der Umgebung verschüttete. Wohlhabend geworden durch Handel und Bergbau hatten in Piuro berühmte lombardische Familien ihre Paläste und Parkanlagen gebaut, unter ihnen auch die Familie der Vertemate. Letztere hatten insofern Glück im Unglück, als dass sie bereits im 16. Jahrhundert auf der andern Talseite, in Cortinaggio, ein Sommerhaus errichtet hatten und dieses nach dem Bergsturz zu ihrem Hauptwohnsitz machten.
Der Palazzo Vertemate Franchi ist einer der schönsten Paläste in der Provinz Sondrio. Ein Besuch stand von Anfang an ganz oben auf Norberts Liste. Doch wir stehen vor verschlossener Tür. Ein Schild grinst uns hämisch an: Mercoledi chiuoso. Vielleicht auch meint es die Vorsehung gut mit uns: Es ist ohnehin spät geworden, wir haben Hunger. So fahren wir direkt nach Dona, einem kleinen Weiler oberhalb von Chiavenna ins „Rustico“ von Norbert und seiner Frau Barbara.
Über einem köstlichen Nachtessen weckt Norbert meine Neugierde für den kommenden Tag. Zu entdecken wären prähistorische Felszeichnungen, die Altstadt von Chiavenna, der Palazzo der Vertemate Franchi – nebst seiner Beziehungen zu Zürich, Basel und gar zum fernen Seattle im Nordwesten der USA – und schliesslich eine Fahrt über den Comersee.
Vielleicht, liebe Leserin, lieber Leser, sind sie dann wieder dabei – so etwa in zwei Wochen.