Eine Hauptaufgabe der Museen ist es, Kunst zu sammeln und die Sammlung als visuelles Gedächtnis zu pflegen und zu erschliessen. Die Museen ergänzen ihre Bestände durch Neuankäufe, kommen aber auch in den Genuss von Leihgaben und Schenkungen. So wachsen die Sammlungen, beanspruchen immer mehr Raum in den Depots – und können denn auch längst nur mehr in kleiner Auswahl gezeigt werden. Meisterwerke, regional oder national Bedeutendes mag in den Ausstellungssälen verbleiben. Sehr viel aber bleibt im Magazin. Doch auch wenn nicht alles von jener künstlerischen Qualität ist, die eine ständige Präsentation unumgänglich macht, kann ein genaueres Durchforsten der Lagerbestände zu mancherlei Entdeckungen führen.
Verborgene Perlen
Die Museen gehen unterschiedlich um mit ihren Sammlungen und Magazinbeständen. Wer über Spitzenwerke verfügt, zeigt sie stolz – zum Beispiel Zürich oder Bern. Andere Häuser erschliessen ihre Sammlungen neu, machen, indem sie Bekanntes mit kaum je Gezeigtem mischen, Querverbindungen sichtbar und stellen so auch die Auswahlkriterien zur Debatte, überzeugt, dass sich, bei entsprechendem Umfeld, auch ein Blick auf vermeintlich oder wirklich Zweitrangiges lohnen kann.
So gelangen verborgene Perlen vors Publikum. Eine wichtige Begleiterscheinung solcher Konzepte: Das Aufmischen der eigenen Sammlung ist nicht nur spannend und fürs Publikum attraktiv, es absorbiert erst noch weit weniger finanzielle Mittel als Ausstellungen mit teuren Leihgaben. Von grossen „Blockbuster-Shows“ oder „Mega-Events“ können die kleineren Häuser wegen der horrenden Versicherungssummen ohnehin nicht mal träumen. Sie können das getrost der Beyeler-Stiftung oder allenfalls dem Kunsthaus Zürich überlassen.
Aarau und der Sammler Peter Suter
„In den Depots sind zahlreiche spannende Ausstellungen verborgen; man muss nur hingehen und sie zusammensuchen.“ So Madeleine Schuppli, Direktorin des Aargauer Kunsthauses in Aarau. Mit „Blinde Passagiere – Eine Reise durch die Schweizer Malerei“ zeigt sie einen Weg, wie die hauseigene Sammlung neu erschlossen werden kann.
Das Museum tut das gemeinsam mit dem Basler Sammler Peter Suter, der Schweizer Kunstwerke in grosser Zahl zusammenträgt, aus finanziellen Gründen aber nicht unbedingt in der ersten Liga investieren kann. Thomas Schmutz, Aarauer Sammlungskonservator, und Peter Suter durchforschten ihre Sammlungen und kuratierten eine Schau, die mehrheitlich dem zweiten Glied der Schweizer Künstlerinnen und Künstler vornehmlich der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt. Sie blickten ins Zwischendeck und fanden unter den blinden Passagieren manch Entdeckungswürdiges, das aber aus verschiedenen Gründen – Konvention, Kulturpolitik, Geschmack, Zeitgeist usw. – keine Berühmtheit erlangte.
Prüfung von Qualitätsvorstellungen
Die mit über zweihundert Werken bestückte Ausstellung, die wie ein Spaziergang der beiden Kuratoren durch die Malerei der Schweiz wirkt, kann manche Hitlisten fragwürdig erscheinen lassen. Sie zeigt aber auch, dass die von der Kunstgeschichte sanktionierten Qualitätsvorstellungen nicht immer auf Zufällen oder gar Vorurteilen beruhen. Einerseits gibt es, und das macht den Besuch der Ausstellung zum anregenden Erlebnis, auch für mit der Materie Vertraute echte Überraschungen (der Zürcher Karl Glaus, der Basler Fritz Paravicini, der Solothurner Oskar Tröndle zum Beispiel), und es gibt überdies spannende Gegenüberstellungen und Durchblicke.
Andererseits sind die Ränder eher schwammig, manche Entscheide für diesen oder jenen Künstler wirken beliebig. Trotz des Untertitels „Eine Reise durch die Schweizer Malerei“ bleibt vieles sehr am Rand, was zum Fortgang der Schweizer Kunst beitrug, die Konstruktiven zum Beispiel oder Informelles. Zudem sind in Peter Suters Sammlung und in jener des Aargauer Kunsthauses ganze Landesteile wie Tessin, West- oder Ostschweiz unterrepräsentiert. Ein Grund für solche Einseitigkeiten liegt sicher in der Ausrichtung der Sammlung Peter Suters, der schwergewichtig auf Figuratives und auf Landschaftsmalerei setzt. Einige Akzente überraschen trotzdem – etwa die starke Präsenz Hans Emmeneggers oder Guido Nussbaums.
Luzern: Thematische Verbindungslinien
Im Kunstmuseum Luzern geht Sammlungskonservator Heinz Stahlhut einen anderen Weg. Seit einigen Jahren legt er in der jährlich wechselnden Sammlungspräsentation thematische Verbindungslinien durch die hauseigenen Bestände, die – abgesehen von einigen Werken der Gegenwartskunst – mit Erstklassigem nicht sehr reich gesegnet sind, aber in den Zwischendecks über viele Werke verfügen, über die sich wichtige gesellschaftliche, politische und kulturelle Bereiche erschliessen lassen. 2017 lautete das Thema der jeweils rotierenden Sammlungs-Präsentation „Alltag von früh bis spät“, 2018 ist es „Karneval der Tiere“.
Die beiden Ausstellungen sind von Heinz Stahlhut ganz bewusst auf ein breites Publikum hin angelegt, das sich nicht primär für kunsthistorische Fragestellungen wie zum Beispiel Stilgeschichte interessiert, sondern eher für eine Kunst, die, meist aus inhaltlichen Gründen, ganz direkt in die eigenen Erlebniswelten eingreift – im Fall von „Alltag von früh bis spät“ in Arbeit, Freizeit oder Grossstadt-Atmosphäre.
Das Tier als Thema
Zu sehen waren da zum Beispiel Hodlers „Uhrmacherwerkstätte in Madrid“, Ankers „Vesperbrot“, Soutines „Zimmermädchen“, aber auch Beat Streulis Fotos aus New York oder die Video-Installation „Nächtliches Fussballspiel“ von Dias/Riedweg. In „Karneval der Tiere“ geht es nicht primär um gestalterische Probleme der Tierdarstellung in der Kunst, sondern um den Stellenwert des Tieres in unserer Gesellschaft, um die Leiden der Tiere, um Tier und Arbeit, um Fleischkonsum, um das Statussymbol Tier.
Beispiele sind Fleisch- oder Fisch-Stilleben (Robert Amrein, Auguste Baud-Bovy, Varlin), das Reiter-Bildnis (Jacques-Laurent Agasse), Tiere als Begleiter des Menschen, als Arbeitshilfe und als Lieferanten von Fleisch, Milch und Wolle (Rudolf Koller, Franz Elmiger) oder das Tier in Märchen- und Sagenwelt (Albert Welti, Franz Basler-Kopp, Josephine Troller). Diese thematischen Ausrichtungen bringen ein Publikum, dem sonst die Institution Museum eher fremd bleibt. Da sich anhand dieser Werke fruchtbare Diskussionen über aktuelle gesellschaftspolitische Fragen führen lassen, sind erfreulich viele Schulklassen Gäste des Hauses.
Doch es gibt auch Entdeckungen. Künstlernamen tauchen auf, die kaum jemand kennt, die aber in spannungsreiche und wechselvolle kulturgeschichtliche Zusammenhänge verweisen. Ein Beispiel ist der weitgehend vergessene Franz-Karl Basler-Kopp (1879–1937, Basel/Luzern), Glasmaler, Grafiker – ein Maler, der sich immer wieder geheimnisvollen, fantastischen oder düsteren Zwischenzonen widmete. Dass Basler-Kopp, in München ausgebildet, mit dem charismatischen deutschen Kunstvermittler und Lebensreformer Ferdinand Avenarius (1856–1923), Herausgeber der im ganzen deutschen Sprachraum verbreiteten Zeitschrift „Kunstwart“, befreundet war, verweist einerseits in die Lebensreformer-Szenen der Jahrhundertwend, andererseits – da der „Kunstwart“ zeitweise mit den Nazis in Konflikt geriet, später aber in einer regimetreuen Zeitschrift aufging – auch in unheilvolle politische Entwicklungen. Beachtet man solche Details, lassen sich interessante Spuren quer durch die europäische Kulturgeschichte legen.
2019, wenn die Kunstgesellschaft Luzern als Trägerin des Hauses ihr 200-Jahr-Jubiläum feiert, will das Luzerner Museum in der Sammlungspräsentation das thematische Feld verlassen und sich einer kunsthistorischen Fragestellung zuwenden – der Kunst der Zeit der Gründung der Gesellschaft und damit dem Übergang vom Rokoko zum Klassizismus.
Short Stories in Basel
Das Kunstmuseum Basel verfügt natürlich über einen weit potenteren Fundus an Werken und über ein kulturhistorisch sehr viel ertragreicheres Umfeld als die beiden zuerst erwähnten Häuser. So kann Josef Helfenstein, Direktor des Hauses seit September 2016, auch viel weiter ausholen. Die Ausstellung „Basel Short Stories – von Erasmus bis Iris von Roten“, die fast ausschliesslich auf der eigenen Sammlung beruht, greift in neun Abteilungen unmittelbar in Basels Geschichte und Gegenwart ein. Ausgangspunkt war hier ein Blick statt ins Zwischendeck in die Gefriertruhe (so Helfenstein), also ein breites Erforschen der eigenen Sammlungsbestände.
Eine übergreifende Struktur gliedert, was da zutage gefördert wurde, in neun „Kurzgeschichten“, die teils Basler Persönlichkeiten, teils historischen Ereignissen, in einem Fall auch einem einzelnen Bild gewidmet sind. Das einzelne Bild ist eines der berühmtesten Gemälde des Hauses überhaupt, Holbeins „Toter Christus“, dessen Nachwirkung bis zu Böcklin, Johann Melchior Wyrsch, bis zu Fotografien (aus der Sammlung Peter Herzog) oder Ferdinand Hodler und bis in die unmittelbare Gegenwart (Rosemarie Trockel, Heiner Kielholz) dokumentiert wird.
Historisches verbunden mit Gegenwartskunst
Eine der Persönlichkeiten, um die sich Geschichten ranken, ist Maria Sibylla Merian, die trotz Basler Wurzeln nie in Basel lebte, aber mit ihrer naturkundlichen Pionierarbeit, die in wunderbare Kunstwerke mündete, und mit ihrem weltweiten Aktionsradius – sie reiste 1699 zu Forschungszwecken nach Surinam – für Basel als Kunststadt und Forschungsplatz mit globaler Ausstrahlung steht. Kombiniert wird Merians Schaffen mit brasilianischen Landschaften von Frans Post und – besonders neckisch – mit einer kolorierten Litho Warhols, die Käfer und Schmetterlinge zeigt, sowie mit einem ebenfalls pionierhaften ethnologischen Film Felix Speisers aus Brasilien. Die Künstlerin Silvia Bächli stellt Sibylla Merians kleinmeisterlich-präzisen Stichen grossformatige Gouachen gegenüber – ein Beispiel für die Art, wie „Short Stories“ immer wieder Historisches mit Gegenwartskunst verbinden.
Verwundern mag, dass auch Iris von Roten, Autorin des damals höchst umstrittenen Buches „Frauen im Laufgitter“ (1958), eine „Short Story“ gewidmet ist. Dass Iris von Roten grossformatige bunte Blumenbilder malte, ist nur einer der Gründe für diese Wahl. Die Ausstellungsmacher – Josef Helfenstein standen Patrick Düblin und Maja Wismer zur Seite – nehmen Iris von Roten vielmehr zum Anlass, dem Thema „Zweites Geschlecht“ Ausdruck zu geben: mit Pipilotti Rist, Rosemarie Trockel, Katharina Fritsch, Maria Lassnig.
Nietzsches Nachwirkungen
Ein Seitenblick gilt den Museums-Ankäufen amerikanischer (Männer-)Malerei jener 1950er Jahre: Franz Kline und Mark Rothko. Und da ist schliesslich Friedrich Nietzsche, der lange in Basel lebte und arbeitete. Den ihm und seinen Nachwirkungen gewidmeten Raum gestaltete der Künstler Not Vital, dessen monumentales Wachs-Objekt „Nietzsches Schnauz“ wie eine Ikone an der Wand prangt. Weitere Themen sind Jacob Burckhardt, der Basler Friedenskongress 1912 (u. a, mit Robert Gobers „Geschmolzenem Gewehr“) oder der LSD-Entdecker Albert Hofmann (u. a. mit dem Tonobjekt „Dr. Hofmann auf dem ersten LSD-Trip“ von Fischli/Weiss aus „Plötzlich diese Übersicht“.
„Basel Short Stories“ sind wunderbar erzählte Geschichten über Basel und darüber hinaus, eine vielschichtige, sich weit verzweigende Ausstellung, die das Museum in der Region verankern kann, aber durchaus nicht nur für Baslerinnen und Basler gedacht ist. Sie lädt die Besucher ein, selber nach Querverbindungen und Entdeckungen zu suchen und verspricht einen erlebnisreichen Museumsbesuch. Man ist geneigt, von einer geradezu beispielhaften und kenntnisreichen Aufbereitung der Sammlung zu sprechen – und von einer Ausweitung des (mitunter auch hübsch ironischen) Blicks über die Kunst hinaus.
Blinde Passagiere, Aargauer Kunsthaus Aarau, bis 15.04.2018
Karneval der Tiere, Kunstmuseum Luzern, mit einigen Wechseln bis Ende 2018
Basler Short Stories – von Erasmus bis Iris von Roten, Kunstmuseum Basel Neubau, bis 21. Mai 2018