Im Westen herrscht Verwirrung: Bestimmen die Scharfmacher oder die Vermittler Chinas Haltung im Ukrainekrieg? Sucht China auf lange Sicht Verbündete, oder hat die Einverleibung Taiwans Priorität? Und werden die USA in diesem Fall eingreifen und den Nato-Bündnisfall ausrufen?
Ausgerechnet der ukrainische Vize-Aussenminister Andrij Melnyk, bekannt vor allem wegen seiner oft als masslos empfundenen Forderungen (der Westen müsse zehnmal mehr Waffen liefern, hatte er noch vor wenigen Tagen gesagt), meinte am Wochenende in einem Interview für die deutsche Funke Mediengruppe, er halte es nicht für unrealistisch, dass China eine Vermittlerrolle im Konflikt mit Russland spielen könne. Ist das ein erstes Anzeichen, dass die Ukraine Gedanken zu wälzen beginnt, mit dem Aggressor Russland doch einen territorialen Kompromiss zu schliessen?
Melnyk stellte das auf nicht ganz klare Weise in Abrede. «Für Kiew ist der Abzug aller russischen Truppen aus den besetzten Gebieten eine conditio sine qua non», betonte er, um anzufügen, der Teufel liege im Detail. Aber worin können Details denn bestehen, wenn nicht doch in einer Einigung über Territorien? Zur Strategie Chinas sagte er: «Die Chinesen verfolgen natürlich ihre eigenen Interessen», aber er glaube, «dass eine gerechte friedliche Lösung und das Ende der Kampfhandlungen den Interessen Pekings mehr entsprechen als dieses gewaltige, nicht enden wollende Erdbeben für die gesamte Weltordnung».
Gegensätzliche Signale Chinas
Wenige Tage vorher hatte Chinas Herrscher Xi Jinping mehr als eine Stunde lang mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj telefoniert. (Worüber können vielbeschäftigte Politiker so ausführlich reden, wenn nicht über Alternativen zum Krieg?) Aber noch ein paar Tage weiter zurück hatte Chinas Botschafter in Frankreich, Lu Shaye, die Rechtmässigkeit der Souveränität nicht nur der Ukraine in Frage gestellt, sondern jene aller Staaten, die nach dem Zerfall der Sowjetunion (1991) ihre Unabhängigkeit erlangt haben. Also der drei baltischen Staaten, jener in Zentralasien und im Kaukasus plus Moldawien. Lu Shayes Statement löste Irritationen in den Hauptstädten der Länder der früheren UdSSR und auch in ganz Europa aus. Worauf die Führung in Peking sich um Richtigstellungen bemühte: Es sei alles nicht so gemeint, konnte oder sollte die Welt den in der chinesischen Hauptstadt geäusserten Erklärungen wohl entnehmen.
War es wirklich nicht so gemeint? Da herrscht Uneinigkeit. Die Chinaspezialistin des Thinktanks Chatham House, Yu Jie, meint, China sei sich «des Schadens bewusst, den die «Wolfskrieger»-Diplomatie angerichtet hat und durch den die angespannten Beziehungen zum Westen noch verschärft» würden.
Worum geht es beim Schlagwort «Wolfskrieger»? Sogenannte «Wolfskrieger»-Serien produziert die chinesische Filmindustrie in grosser Zahl. Bei diesen geht es oft um Attacken ausländischer Söldnertruppen auf chinesische Einheiten, die logischerweise damit enden, dass die Ausländer erledigt werden. Abgeleitet von diesem Filmgenre prägten westliche Medien den Begriff der chinesischen Wolfskrieger-Diplomaten – nicht zu Unrecht, denn Xi Jinping selbst hatte seine Botschafter im Ausland dazu aufgerufen, «ihr Schwert zu zeigen und Verantwortung für Themen zu übernehmen, die wesentliche Interessen Chinas berühren». Sie sollten es auch wagen «zu kämpfen».
Sucht China Alliierte auch in Europa?
Die FAS (Sonntagszeitung der FAZ) zitiert im Zusammenhang mit diesen Direktiven und besonders mit der Infragestellung der Souveränität der früheren UdSSR-Länder durch Chinas Botschafter in Frankreich eine Recherche, die auf einige besonders krasse Diplomaten-Äusserungen aufmerksam macht. «Du wirst ausgemerzt wie ein Virus», habe ein chinesischer Generalkonsul in Indien einem Kritiker chinesischer Corona-Massnahmen entgegengeschleudert. Und der erwähnte Botschafter Chinas in Paris habe einen kritischen französischen Wissenschafter als «verrückte Hyäne» bezeichnet.
Sollten die Diplomaten Chinas nun ihre Rhetorik, so wie die Expertin Yu Jie vermutet, doch wieder mässigen, dann aufgrund der Erkenntnis, dass Xi Jinpings Strategie mit Zielrichtung einer so genannt multipolaren Weltordnung nicht nur den globalen Süden als Alliierten braucht, sondern auch ein Europa, das sich zumindest in Teilbereichen von der Politik der USA abgrenzt. Anzeichen für eine gewisse Emanzipation von der Geopolitik Washingtons bot vor allem Frankreichs Präsident Macron mit seinen Äusserungen auf dem Rückflug vom letzten Besuch in Peking. Nicht überall, so Macron, seien die Interessen Europas deckungsgleich mit jenen der USA. Die Worte des französischen Staatschefs lösten zwar spontane Kritik durch zahlreiche Regierungen aus, aber niemand kann bestreiten, dass wir in Europa zumindest in einzelnen Bereichen andere Interessen verfolgen als die USA.
Amerikanisches und europäisches Lavieren bei Taiwan
Für Washington wurde die Taiwan-Frage zu einer innenpolitischen Priorität. Je näher der nächste Wahlkampf um die Präsidentschaft rückt, desto vehementer bringen sich Politikerinnen und Politiker durch Statements zugunsten Taiwans und gegen Peking in Stellung. Besuche in Taipeh steigern die Popularität von Kongressabgeordneten, Empfänge für hochgestellte Besucherinnen und Besucher aus Taiwan in den USA ebenso. Eine Gruppe von Mitgliedern des Abgeordnetenhauses in Washington profilierte sich eben durch eine Vorlage, die per Gesetz Regierungen anderer Länder bestrafen will, die anstelle von Taiwan künftig Peking als Alleinvertretung Chinas anerkennen.
Honduras war der letzte Überläufer. Jetzt sind es nur noch zwölf, die eine Botschaft in Taipeh betreiben. In Paraguay droht ebenfalls ein Seitenwechsel, sollte die Opposition die Wahlen am heutigen Sonntag gewinnen. Irreal ist die Vorlage der amerikanischen Kongressabgeordneten, weil die USA ja 1979 (unter der Präsidentschaft von Jimmy Carter) selber Peking anstelle von Taipeh anerkannten – und damit die so genannte Ein-China-These akzeptierten, die letzten Endes besagt, dass Festland-China auf das gesamte chinesische Territorium, also auch auf Taiwan, Anspruch erheben könne.
Seither lavieren die US-Präsidenten hin und her zwischen halbherziger Unterstützung Taiwans für den Fall eines Falls, also einer militärischen Attacke durch China, und der Bestätigung der Ein-China-These (letztes Mal durch Donald Trump).
Jetzt, in der Präsidentschaft Joe Bidens, setzen sich mehr und mehr Konzepte durch, die Taiwan für diesen Fall des Falls aktive militärische Hilfe direkt durch die USA versprechen. Die europäischen Regierungen jedoch hüllen sich dazu in Schweigen – und lassen erkennen: In einen Krieg mit China wollen wir uns auf keinen Fall verwickeln lassen.
Nur, wie wäre es dann, wenn die USA wegen Taiwan in einen bewaffneten Konflikt geraten würden, mit der im Zusammenhang mit der Ukraine immer wieder beschworenen Nato-Beistandspflicht?
Keine Regierung wagt sich so weit vor, diesen «worst case» offen zu debattieren. Man fokussiert noch auf den Konflikt auf europäischem Boden, hofft auf China als Vermittler und will nicht sehen, dass dieser potentielle Friedensstifter allenfalls auch der Brandstifter in Fernost sein könnte. Und bei der Frage, ob und wie man die Rhetorik Washingtons bremsen und gleichzeitig den Eindruck vermeiden könne, der Westen liesse sich spalten, bleibt man ratlos.