Auch in der dritten Region, wo Ende des Monats und in den ersten Januartagen gewählt werden soll, sind gleiche Ergebnisse zu erwarten.
Doch parallel zu den Wahlen dauern die Demonstrationen an. Sie haben über das vergangene Wochenende einen neuen blutigen Höhepunkt erreicht, weil die Sicherheitskräfte, Polizei und Militärpolizei, mehrmals versuchten, ein Protestlager zu stürmen, das die Demonstranten nicht mehr auf dem Befreiungsplatz, sondern nahe dabei, vor dem Sitz des Ministerpräsidenten, aufgerichtet und während drei Wochen bewohnt hatten. Die Sicherheitskräfte zerstörten das Lager, doch sie wurden dann von den kampferprobten Demonstranten zurückgeschlagen. Diese gelobten, sie würden ihren Protest vor dem Sitz des Ministerpräsidenten erst aufgeben, wenn dieser zurückgetreten sei. Er gilt ihnen als illegitim, weil er von den Militärs, nicht vom Volk ernannt worden war.
Schläge, Steine, Schüsse
Der Kampf schwankte Nächte lang zwischen den Sicherheitsleuten und den Demonstranten hin und her. Die Sicherheitstruppen, deren Zahl nun jene der Demonstranten weit übersteigt, haben offenbar Weisung erhalten, in erster Linie mit Schlagstöcken vorzugehen, im Notfall mit Tränengas und nicht mehr mit scharfer Munition. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass Demonstranten erschossen werden. Unter den Todesopfern befindet sich Ahmed Effat, ein bekannter 52-jähriger Scheich der berühmten Azhar-Moschee, der von Beginn an bei den Demonstrationen mitgewirkt hatte - nicht in seiner offiziellen Amtstracht, die ihn als Theologen kenntlich machte, sondern wie die anderen "in Zivil". Ihn traf ein Schuss ins Herz.
Wer scharf schiesst, bleibt unklar. Die Offiziere von SCAF (wie man die Hohe Militärische Führung abgekürzt nennt) versichern immer wieder, es sei nicht die Armee. Sie werde nie auf Ägypter schiessen. Sie behaupten, ausländische Kräfte versuchten, "Ägypten zu ruinieren". Ihre Propaganda unterscheidet sich nicht von jener, die das Regime Bashar al-Assads in Syrien verbreitet, und sie ist noch weniger glaubwürdig. In Wirklichkeit dürften es Geheimdienst-Elemente sein, die sich in Zivil unter die Demonstranten mischen und die auch die Soldaten begleiten und instruieren, wie man auf Fotos erkennen kann. Die Geheimdienste haben ihrerseits die sogenannten "Baltaghiya" als inoffizielle und daher nicht fassbare Mitarbeiter. Dies sind Kriminelle und Kleinkriminelle, die sie einsetzen können.
Soldaten, Polizisten und Kriminelle
Bei der Zerstörung des Protestlagers vor dem Sitz des Ministerpräsidenten wirkten Polizisten, Soldaten, Geheimdienstleute und "Baltaghiya" zusammen von den Dächern aus, in dem sie die Demonstranten mit Steinen und sogar mit geplünderten Möbeln bewarfen. Die Demonstranten antworteten mit Steinen und Molotow-Cocktails. Einer davon fiel in den hölzernen Dachstuhl des "Institut d'Egypte", das auf Napoleon zurückgeht. Auf dem Dach standen Sicherheitsleute. Der Dachstuhl fing Feuer. Die Feuerwehr kam zu spät. Die wertvolle Sammlung von seltenen Büchern und Manuskripten verbrannte weitgehend. Der Scheich von Sharjah (eines der Vereinigten Arabischen Emirate) meldete sich und versprach sofort, die Kosten der Restauration des Instituts und seiner verkohlten Dokumente zu tragen.
Eine entblösste Frau wird geschlagen
Doch noch mehr Aufsehen erregte ein Video, das eine junge Frau zeigt, die von den Sicherheitsleuten auf offener Strasse entblösst, auf den nackten Bauch geschlagen und mit Stiefeln getreten wird. Die Bilder gingen im Nu um die Welt. Sogar die der Opposition nahestehenden Zeitungen in Kairo wagten nicht, sie in ihrer ganzen Krudität nachzudrucken. Der entblösste Bauch erschien dort gepixelt. Doch eines der oppositionellen Blätter, "ash-Sharuq", griff zu einem Kunstgriff: Das Blatt zeigte das Bild unretouchiert auf der ersten Seite und setzte darüber als Schlagzeile: "Dieses Bild erschien in der New York Times!" Trotz offiziell bestehender Pressefreiheit müssen die Zeitungen vorsichtig sein, denn wer die "Armee beleidigt", kommt vor ein Militärgericht und muss mit mehrjährigen Gefängnisstrafen rechnen.
Das Werk "der Feinde Ägyptens"
Die Generäle sahen sich gezwungen, über den Vorfall zu sprechen. Sie taten dies in gewohntem Stil, indem sie versicherten, ägyptische Soldaten könnten unmöglich eine solche Tat gegen ägyptische Frauen begangen haben. Das Ausland müsse dahinter stecken. Der Vorfall werde untersucht werden. Doch am nächsten Tag demonstrierten mehrere Tausend aufgebrachter Frauen und forderten, wie es nun alle Demonstranten tun, die Militärführung müsse sofort zurücktreten und einer zivilen Führung das Feld räumen.
Eine kleine Minderheit der Ägypter
So sensationell und aufregend solche Vorkommnisse und deren Abbildungen sein mögen, muss man doch festhalten, dass die Demonstrationen sich nur in wenigen zentralen Strassen von Kairo abspielen, die nun Schlachtfeldern gleichen. In den Provinzstädten sind sie selten geworden. Ein grosser Teil der Bevölkerung sympathisiert nicht mehr mit den Demonstrationen. Die wirtschaftliche Lage Ägyptens verschlimmert sich rasch, und viele ägyptische Bürger erkennen, dass die Unruhen weitgehend schuld daran sind. Man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die Grosszahl der Ägypter zur Normalität zurückzukehren wünscht, die ihnen erlaubt, ihr Leben fortzuführen und sich womöglich bessere Lebensbedingungen zu erarbeiten. Sie hofft, dass ein kommendes demokratisches Regime endlich die dazu notwendigen Rahmenbedingungen schaffe.
Ist Demokratie vereinbar mit SACF?
Proteste und Aufrufe zu Demonstrationen werden übers Internet lanciert. Doch nicht alle Ägypter sitzen vor dem Computer. Die riesige Mehrzahl hat erstens keinen Zugang, zweitens keine Zeit, weil sie ihr knappes Brot verdienen muss und drittens in vielen Fällen nicht die nötige Vorbildung, um sich im Netz zu tummeln. Das staatliche Fernsehen, das die Meinungen und die Propaganda der Offiziersführung verbreitet, erreicht dagegen viele Millionen.
Die Brüder: Priorität für die Wahlen
Einer der Gründe für die viel geringere Zahl der Demonstranten ist heute, neben der unvermeidlichen Ermüdung und Abnützung, der Umstand, dass die Muslimbrüder sich gegen die Demonstrationen aussprechen. Sie erklären all ihren Anhängern, die Wahlen hätten Priorität. Sie möglichst reibungslos und entschieden durchzuführen, sei das Wichtigste, was man in der heutigen Lage tun könne.
Es gibt viele Kritiker der Muslimbrüder, die den Verdacht äussern, es bestehe bereits eine "heimliche Übereinkunft" zwischen den Brüdern und den Militärs. Sie ziele darauf ab, den Brüdern und ihrer Partei die Bühne des Parlaments zu überlassen und den Militärs, wie nun schon seit 60 Jahren, die wirkliche Macht in den Kulissen. Dies würde, so sagen sie, auf eine Wiedererstehung des Regimes Mubarak hinauslaufen, nur mit dem Unterschied, dass die Partei der Brüder die Rolle der bisherigen Staatspartei des früheren Präsidenten übernähme.
Politisches Gewicht durch den Wahlsieg
Doch dieser Verdacht ist nicht zwingend richtig. Die Handlungsweise der Brüder lässt sich auch anders erklären. Sie können sich sagen, dass eine direkte Konfrontation mit den Armeespitzen, wie sie die Demonstranten betreiben, leicht dazu führen könnte, dass diese die Wahlen annullieren und die Macht definitiv übernähmen. Die Strategen der Bruderschaft wissen, dass ihre eigene Position gegenüber den Militärs sehr viel stärker sein wird, wenn sie als die Sieger aus echten Wahlen hervorgehen und dadurch einen Grad von Legitimität erwerben, den sie heute nicht besitzen. Heute sind sie eine Partei unter Dutzenden, über deren wirklichen Rückhalt im ägyptischen Volk man sich streiten kann. Morgen, so können sie hoffen, werden sie die nachweisbar grösste und gewichtigste Partei von Ägypten sein. Diese Chance wollen sie wahrnehmen. Wenn es nach den Wahlen zu Zusammenstössen mit der Militärführung kommt, sind sie nach einem Wahlsieg viel besser dafür gerüstet.
Die Übergangszeit belastet die Wirtschaft
Allerdings wird auch immer deutlicher, dass die chaotische Übergangszeit in Ägypten nicht immer andauern kann. Die Wirtschaft leidet schwer und die Leidenschaften werden so stark aufgepeitscht, dass Ruhe und Ordnung überall in Gefahr sind. Wenn dies zu lang andauert, wird mittelfristig die Folge davon sein, dass nicht eine Demokratie zustande kommt, sondern dass vielmehr ein Führer-Regime von starken Männern die Macht übernimmt, um das zusammenbrechende Land zu retten. Dieses würde wahrscheinlich wieder einmal ein Militärregime werden. Aus diesem Grund ist Eile geboten. Und vielleicht aus dem gleichen Grund hat SCAF keinerlei Eile. Angesichts dieser Tatsachen schmieden viele Politiker und politisch interessierte Ägypter Pläne, wie die immer gefährlicher werdende Übergangsperiode abgekürzt werden könnte.
Unter Druck sind Konzessionen erwirkbar
Die Erfahrung zeigt, dass die Offiziersführung unter Druck der Bevölkerung zwar ihre Macht nicht aufgibt, jedoch taktische Konzessionen eingeht und zulässt, dass ihre Aktionspläne dem Volkswillen teilweise angepasst werden. In diesem Sinne üben die unentwegten "hard line"-Demonstranten eine positive Wirkung aus. Ohne sie hätte SCAF die Übergangsfrist und mit ihr die Periode der eigenen Machtausübung bis ins Jahr 2013 hinausgeschoben - oder vielleicht noch viel länger.
Rasche Ablösung durch einen Präsidenten?
Eine Hoffnung wäre, dass nach den Wahlen für das Parlament, die am 5. Januar oder mit einigen Tagen Verspätung abgeschlossen sein sollen, möglichst rasch eine Präsidentenwahl stattfinden könnte und damit ein legitimes ziviles Regime entstünde. Die Generäle könnten darauf in ihre Kasernen resp. in ihre Luxusvillen zurückkehren.
Reduktionsmöglichkeiten der Übergangsfrist
Laut dem bereits mehrfach revidierten Fahrplan von SCAF müssten nach den Parlamentswahlen mit der gleichen umständlichen Prozedur noch Senatswahlen stattfinden. Dann wäre, sagen die Offiziere, "in Eile" eine Verfassung zu formulieren, bei deren Entstehung sie mitwirken wollen. Schliesslich wäre ein Präsident zu küren.
Dies wäre, falls das ganze Programm unwahrscheinlich rasch abliefe, nach SCAF bis im kommenden Sommer zu bewältigen. Die Gegenvorschläge aus den Politiker-Kreisen unterstreichen, dass der Senat, der bloss beratende Funktionen besitzt, nicht unbedingt nötig ist. Manche glauben auch, dass eine Präsidentenwahl sofort nach der Inauguration des Parlamentes stattfinden könnte. Möglicherweise im Rahmen einer vorläufigen Verfassung, auf die sich die Parteien rasch einigen könnten und deren Ausarbeitung später erfolgen müsste.