Es war still geworden in den vergangenen Jahren um Egon Bahr. Fast schien es so, als habe das 21. Jahrhundert ausgerechnet dem Mann die Zugangstür in die neue Zeit verschlossen, der doch noch wenige Jahre zuvor ganz entscheidend die Weichenstellungen der (west)deutschen Ost- und Deutschlandpolitik mitbestimmt hatte. Das war freilich noch in der so genannten „Bonner Republik“. In Berlin sitzen inzwischen andere Generationen an den Schaltknöpfen von Politik und Medien. Dort gilt der Blick zurück, vielleicht verbunden gar mit der Frage nach historischen Zusammenhängen, eher als überflüssig – als vertane Zeit. Da gerät so jemand wie Egon Bahr schnell in Vergessenheit.
Eine politische Lebensgemeinschaft
Tatsächlich war der 1922 im westthüringischen Städtchen Treffurt an der Grenze zu Hessen geborene Egon Bahr in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine der bedeutendsten, aber auch schillerndsten Figuren auf der politischen Bühne in Westdeutschland. Dabei stand er nie in der ersten Reihe, sondern spielte seine Rolle sozusagen in den Kulissen. Vor allem während der 60er und 70er Jahre zählte er zu den einflussreichsten Akteuren sowohl (und besonders) in Bonn wie in Berlin.
Das war die Zeit der ersten Grossen Koalition (1966-69), in der die Sozialdemokraten in der Regierung Kiesinger/Brandt noch Juniorpartner von CU/CSU waren und anschliessend des Sozialliberalen Bündnisses Brandt/Scheel (1969-82). Bahr war damals vor allem für die Ost- und Deutschlandpolitik nicht nur der mit Abstand wichtigste Berater von Willy Brandt. Er war in Wirklichkeit der Vordenker, Formulierer und – nicht selten – auch deren Umsetzer. Aber all das wäre nicht möglich gewesen ohne die Rückendeckung seines grossen Idols, Willy Brandt. Brandt und Bahr – das war eine politische Lebensgemeinschaft, von der es hiess: „Bahr denkt, Brandt lenkt“.
Egon Bahr ist nicht zu Unrecht oft als „Architekt“ der Brandt´schen Ostpolitik bezeichnet worden. Begriffe wie „Wandel durch Annäherung“ und „Politik der kleinen Schritte“ fanden Eingang in die politischen Wörterbücher. Seine Qualitäten als scharfsinniger Analytiker und kluger Stratege sind immer unbestritten gewesen. Ganz im Gegensatz allerdings zu den Methoden und den Umständen, mit denen „tricky Egon“ häufig zu Werke ging.
So fiel zum Beispiel der damalige Aussenminister, Vizekanzler und FDP-Vorsitzende, Walter Scheel, einmal aus allen Wolken, als ihn ein Journalist darüber informierte, dass Egon Bahr mit dem Segen Brandts in geheimer Mission nach Moskau gereist sei, um dort gerade weitere Details zu dem geplanten „Moskauer Vertrag“ auszuhandeln. Das Ergebnis waren natürlich lang anhaltende und tief gehende Trübungen des Bonner Koalitionsklimas.
Und geradezu ein innenpolitisches Beben lösten die durch gezielte Indiskretion in der Illustrierten „Quick“ veröffentlichten „Bahr-Papiere“ aus, die sich rasch als bereits weitgehend fertiggestellte Vertragstexte erwiesen – ausgehandelt von Bahr und dem seinerzeitigen sowjetischen Aussenminister Andrej Gromyko. Grund für die besonders bei der Opposition von CDU und CSU herrschende Empörung war vor allem die Tatsache, dass in dem Dokument jeglicher Bezug zum Berlin-Status und zur deutschen Frage fehlte. Der Vorwurf an die Regierung Brandt lautete deshalb nicht zufällig, hier solle ganz offensichtlich die von Moskau massiv verlangte Zweistaatlichkeit Deutschlands und die Sonderrolle West-Berlins völkerrechtlich anerkannt werden.
Eine entscheidende Verfassungsklage
Entgegen der Stimmung der öffentlichen, besonders jedoch der veröffentlichten Meinung in der Bundesrepublik klagte die Union damals vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe – und bekam Recht. Der seinerzeitige CSU-Chef, Franz Josef Strauss, höhnte gegenüber Egon Bahr, der habe nichts „ausgehandelt, sondern uns ein gewaltiges Problem eingehandelt“.
Tatsächlich aber akzeptierte Moskau in der Folge den sogenannten Brief zur deutschen Einheit. Zwanzig Jahre später, beim Ringen um die nationale Vereinigung, erwies sich dieser Vorgang plötzlich als ein Segen, weil darin das prinzipielle Recht des deutschen Volkes auf Einheit ja bereits festgelegt worden war. Diese Vorgänge bildeten – fast fünfzig Jahre ist das mittlerweile her! – den Hintergrund dafür, dass sich um Egon Bahr herum ein Ruf verfestigte, der zwischen „Patriot“ und „Verräter“ schwankte.
Was da vor einem halben Jahrhundert im Einzelnen tatsächlich geschah, ist bis heute noch nicht ganz aufgeklärt. Bahr berichtete zum Beispiel vor einigen Jahren, er habe bei seinen geheimen Unterredungen im Kreml – ohne Wissen der DDR-Führung, aber auch der US-Regierung – einen „schwarzen Kanal“ aufgebaut, über den zwischen Bonn und Moskau in besonderen Krisenzeiten kommuniziert und mehr als einmal die Situation entspannt werden konnte. Diesen „Kanal“ habe er später an Helmut Kohl weiter gegeben.
Dichtung oder Wahrheit? Auch diese, von der Historikerin Daniela Münkel recherchierten, Vorgänge blieben im Halbdunkel von Behauptungen: Am 21. März 1972 habe der geheime DDR-Verbindungsmann zur Bonner Regierung, Hermann von Berg, bei Bahr angefragt, ob denn nicht Ost-Berlin mit Hilfe der Stasi „Massnahmen“ gegen die CDU/CSU-Opposition im Bundestag einleiten solle, um umgekehrt die Position der Brandt-Regierung zu stabilisieren. Zur Erinnerung: Seinerzeit ging es für die links-liberale Bonner Koalition darum, mit ihrer hauchdünnen Parlamentsmehrheit die „Ostverträge“ zu ratifizieren. Nach Beratungen mit Willy Brandt und dem damaligen Kanzleramtschef, Horst Ehmke, habe er (Bahr) das DDR-Angebot dann abgelehnt.
Bahr selbst hat immer bestritten, dass sein solches Gespräch mit von Berg stattgefunden habe. Unmöglich allerdings erscheint die Geschichte keineswegs. Schliesslich weiss man seit Jahren, dass mit Stasi-Bestechungsgeld und Wissen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner der CDU-Abgeordnete Julius Steiner beim Konstruktiven Misstrauensvotum des damaligen Oppositionschefs Rainer Barzel gegen Willy Brandt das eigene Lager verriet.
Ohne die Ostpolitik keine Wiedervereinigung
Das alles ist nun schon lange Geschichte. Noch gar nicht so lange hingegen ist es her, dass das über vier Jahrzehnte geteilte Deutschland wieder vereint werden konnte. Und längst ist es gemeinsame Überzeugung über die Grenzen der demokratischen Parteien hinweg, dass ohne die damalige (von der Union so erbittert bekämpfte) Ostpolitik von Brandt und dessen „grauer Eminenz“ Egon Bahr die Grundlage für das glückliche Ende nicht vorhanden gewesen wäre. Brandt und Bahr – das war schon ein eigentümliches Gespann. Der eine konnte nicht ohne den anderen. Brandt hätte das konzeptionell-intellektuelle Gerüst für seine visionäre Ausgleichspolitik nach Osten gefehlt. Und ohne die Rückendeckung durch den Kanzler wäre wiederum Egon Bahr wirkungslos geblieben.
Wobei freilich für Beobachter immer erkennbar war, dass der bewundernde Blick von Bahr hinauf zu Brandt ging. Bis zu seinem Lebensende wurde Egon Bahr nicht müde, bei jeder Gelegenheit zu berichten, wie sehr er sich gefreut habe, dass Brandt ihn noch auf seinem Totenbett als „Freund“ bezeichnete. Und wenn es noch eines Beweises für die menschliche Nähe der beiden zueinander bedürfte, so wäre er durch diese Szene erbracht: Als am 7. Mai 1974 nach dem Rücktritt Brandts als Bundeskanzler in der SPD-Fraktionssitzung deren Chef, Herbert Weher, ausrief „Willy, du weisst, wir alle lieben dich“, da schlug Egon Bahr fassungslos die Hände vors Gesicht und bekam einen Weinkrampf. Die Szene wurde gefilmt und ist mithin der Nachwelt erhalten. Später sagte Bahr: „Ich empfand das als unfassbaren Gipfel an Heuchelei“.
Jetzt ist auch Egon Bahr gestorben. Er wurde 93 Jahre alt.