Es gehört zum Schicksal eines frechen Journalisten, dass er Feinde hat. Ein Leben lang wirft er mit Steinen um sich. Da kommt halt mancher Stein zurück.
Einer Reporterin wirft er vor, sie beschreibe den Krieg wie eine „sentimentale Touristin“. Der Bruder der Reporterin fordert ihn zum Duell auf. Er flüchtet. In einem Roman wird er als „Benjamin Eckelhaft“ bezeichnet. „Totschlagen sollte man ihn, den Saujuden“, heisst es.
Karl Kraus, der am 12. Juni 1936 gestorben ist, gehört zu den begnadetsten Satirikern des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Niemand ist sicher vor ihm. Wiens höhere Gesellschaft verschlingt seine geistreichen Attacken – und fürchtet ihn.
Er prangert die heuchlerische Sexualmoral an. Er verhöhnt die Spiesser, die auf der Kärtnerstrasse flanieren, er beschimpft die Politiker, verspottet die aufkommenden Psychoanalytiker und die Chefredaktoren, die sich als Priester gebärden, aber eigentlich Prostituierte seien.
Gegen rachsüchtige Richter, lüsterne Polizisten, sadistische Militärs
Kraus wurde 1874 als Sohn eines jüdischen Papierhändlers in Nordböhmen geboren. Mit drei Jahren kommt er nach Wien. Mit 25 gründet er die satirische Zeitschrift „Die Fackel“. Sein Vater gibt ihm das Geld dafür. 922 Nummern dieses Satire-Blattes wird er bis zum Ende seines Lebens herausgeben. Den grössten Teil des Inhalts schreibt er selbst. „Die Fackel“, die manchmal mehr als 160 Seiten dick ist, wird schnell zu einem Referenzblatt der Wiener Gesellschaft. Wichtige Autoren schreiben für das Magazin oder gehörten zu seinem Leserkreis, so Sigmund Freud, August Strindberg, Franz Kafka, Max Brod, Else Lasker-Schüler, Franz Werfel und Oskar Kokoschka.
Von der ersten Nummer der „Fackel“, die im April 1899 erscheint, werden 30‘000 Exemplare verkauft. Nach diesem riesigen Erfolg werden dem Herausgeber jahrelang vertrauliche Informationen zugespielt: über korrupte Beamte, lüsterne Polizisten, sadistische Militärs, einflussreiche Juden, rachsüchtige Richter und lügende Politiker. Die „Fackel“ wird zum Enthüllungsmagazin, wie es heute der „Canard enchaîné“ ist. Doch die „Fackel“ ist weit mehr.
Chefredaktoren mit der „Heuchlermaske“
Kraus, der vor allem nachts arbeitet, ist ein Meister der Ironie, der Satire, der Polemik. Als erstes attackiert er jene Berufskaste, der er entstammt: Den Journalismus. Die Presse nennt er heillos korrupt. Sie stelle sich unkritisch in den Dienst der Machthaber und Kriegstreiber. Den Chefredaktoren und Redaktoren sollte „die Heuchlermaske“ vom Gesicht gerissen werden.
Die giftigsten Pfeile schiesst er gegen den mächtigen Chefredaktor der „Neuen Freien Presse“, Moritz Benedikt. Die wirkliche Macht in Österreich liege nicht beim Parlament, sondern bei der bürgerlichen Presse und den dahinter stehenden Finanzinteressen. Er kritisiert nicht nur die Presse, sondern auch die Leser, die alles glauben. Das Publikum sei „das willigste Opfer der Publizität, indem es nicht nur glaubt, was es gedruckt sieht, sondern auch das Gegenteil davon glaubt, wenn es auch dieses gedruckt sieht“.
Er glossiert das, was wir heute Boulevard nennen: Berichte über das Gesellschaftsleben, über den frivolen Zeitvertreib gewisser Leute. Diese grassierende Aufzählung von Banalitäten und Trivialitäten wirke wie ein Betäubungsmittel. Dies sei ganz im Sinne der Machthabenden, die damit das Publikum einschläfern und ihm jede Fähigkeiten nehme, kritisch und nüchtern zu analysieren. Wie werden die Leute, deren Köpfe so vollgestopft sind, reagieren, wenn wirklich etwas Wichtiges passiert? fragt er. Er verhöhnt Journalisten, die heute eine Operettenkritik schreiben und morgen über den Krieg berichten. Warum schreiben Journalisten? „Weil sie nicht genug Charakter haben, nicht zu schreiben“.
“Geile Psychoanalytiker“
Der Jude Kraus ist schon bald aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten und wurde konfessionslos. Immer wieder reitet er scharfe Angriffe gegen die Juden. Diese Ausfälle sind oft nicht nur eklatant antisemitisch, sondern auch plump. Er spottet über die langen Nasen der Juden, macht sie später in hohem Grad für den ersten Weltkrieg verantwortlich. Schon mit 25 Jahren sagt er, die Juden müssten das selbstgewählte Ghetto niederreissen, sonst gebe es im 20. Jahrhundert „Exzesse ärgerer Art“. Er beklagt, dass Juden „geldgierig“ seien und im Journalismus, im Handel und im Bankwesen einen proportional allzu grossen Einfluss hätten. Auch deshalb greift er die Presse an, weil dort vor allem Juden regierten. 1911 tritt er zum Katholizismus über, doch ein echter Katholik wird er nie. Zwölf Jahre später verlässt er auch die katholische Kirche. Sein Spott gegen die Juden wird immer wieder als Auflehnung gegen den Vater interpretiert, als Ödipus-Komplex. Kraus lacht nur darüber.
Über die Psychoanalyse lachte er ohnehin, sie war ihm ein Graus. Mit Freud pflegt er zwar einen teils intensiven Briefverkehr. In einzelnen Punkten sind sich beide sogar einig. Kraus schätzt, dass Freud die Homosexualität nicht mehr als Krankheit bezeichnet wie die meisten Zeitgenossen. Doch das hindert Kraus nicht, scharfes Geschütz gegen den Meister und vor allem gegen dessen Schüler aufzufahren. „Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält“, schreibt Kraus. Oder: „Eine gewisse Psychoanalyse ist die Beschäftigung geiler Rationalisten, die alles in der Welt auf sexuelle Ursachen zurückführen mit Ausnahme ihrer Beschäftigung“. Trotz den heftigen Verunglimpfungen gehen Freud und Kraus stets respektvoll miteinander um.
“Die Schurken ärgern – ein ethischer Zweck“
Liest man die Fackel, kriegt man Eindruck, Kraus sei ein verbitterter, grimmiger Mensch, der sich von der Gesellschaft abnabelt und ihr die Leviten liest. Das Gegenteil ist der Fall. Kraus ist ein liebenswürdiger, freundlicher Mann. Er liebt die Kaffehäuser, liebt die Frauen, liebt die Konversation. Immer wieder trägt er seine Texte auch vor Publikum vor – mit grossem Erfolg. Meist sind die Säle bis auf den letzten Platz besetzt. Alle sitzen im Dunkeln, nur ein einziges Licht erleuchtet das Gesicht von Kraus. Eigentlich ist ein Schauspieler an ihm verloren gegangen. Schauspieler wollte er ja immer werden, doch wegen einer leichten Rückenverkrümmung kam das nicht in Frage.
Dass er die Welt verbessern könne, daran glaubt er nicht. Es reicht ihm, „die Schurken zu ärgern“. Das sei auch ein „ethischer Zweck“. „Fackel“ um „Fackel“ polemisiert er gegen Heuchelei des herrschenden Systems. Die Auflage der Fackel ist so gross, dass er keinen Kniefall vor Inserenten machen muss.
Platte Frauen-Aphorismen
„Ich haue Fassaden ein, ich mache tabula rasa“, schreibt er. So revolutionär er in vielem sein mag, im Grund genommen bleibt er ein konservativer Mensch. Mit dem aufkommenden Feminismus jener Zeit kann er wenig anfangen. Er ist dagegen, dass Frauen Zugang zum männlichen Berufsleben haben. Das wäre der „Sinnlichkeit der Frauen“ abträglich. Das bedeutet aber nicht, dass er sich ein „Lieschen am Herd“ wünscht. Im Gegenteil: er verehrt stets intelligente, gebildete Frauen. Doch manche seiner Frauen-Aphorismen sind einfach nur platt: „Ein Weib ist manchmal ein ganz brauchbares Surrogat für die Selbstbefriedigung. Freilich gehört ein Übermass an Phantasie dazu“.
Kraus, der verhinderte Schauspieler, besucht oft drei, vier Mal pro Woche das Theater. Dort lernt er auch die schöne Schauspielerin Annie Kalmar kennen. Sie ist seine erste grosse Liebe. Schon bald stirbt sie an Tuberkulose und er begleitet sie in den Tod. In vielen seiner Texte leuchtet Annie Kalmar immer wieder auf. Auch seine zweite Leidenschaft kommt vom Theater: Bertha Maria Denk. Mit ihr verbringt er stürmische Zeiten, so stürmisch, dass die Publikation der „Fackel“ oft darunter leidet. Seine dritte Liebe ist die Adlige Sidonie Nadherny. Mit ihr bleibt er von 1913 bis zu seinem Tod verbunden – auch dann, als sie aus Standesgründen einen andern heiratet. Als sie ihn 1915 kurzfristig verlässt, bricht er zusammen. Mehrmals reisen die beiden gemeinsam in die Schweiz und nach Italien.
Im Sog des Patriotismus
Kraus prophezeit immer wieder den Untergang der abendländischen Kultur. Die Europäer des beginnenden 20. Jahrhunderts seien bereits tot. Man brauche sie nur noch zu Grabe zu tragen. Die weisse Rasse sei sexuell nur eine lebende Leiche. Zwischen den Leichen auf dem Schlachtfeld tanzten die Hyänen Tango. Er spricht von asiatischen Horden, die in Europa einfallen. Diese Horden werden von Kokoscha für die „Fackel“ gezeichnet. Kraus ist überzeugt, dass es der Menschheit gelingen werde, sich selbst zu zerstören. Immer wieder kritisiert er die Fortschrittsideologie. Die Technik-Gläubigkeit und die Technik-Romantik sind ihm ein Gräuel.
Der erste Weltkrieg zieht auf – ein Graus für den Pazifisten Kraus. In der „Fackel“ weist er nach, wie Politiker mit ihren Helfershelfern von der Presse das Volk in eine romantische Kriegsstimmung versetzen. Die Presseleute würden immer mehr zu Propagandisten der Kriegstreiber. Kraus kritisiert die Verbindung zwischen Militär und Rüstungsindustrie. Statt über das Elend des Krieges zu berichten, verbreite die Presse Heldengesänge. In der „Fackel“ wird über Giftgasangriffe und über das Leiden der Zivilbevölkerung geschrieben. In andern Zeitungen regiere das Pathos. Doch nicht nur die Presse wird jetzt attackiert, auch Intellektuelle seien in den Sog des Patriotismus geraten, sogar Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Robert Musil und Stefan Zweig.
Er bleibt ein Mann der Bourgeoisie
Wie kann Kraus seine deftigen Glossen während des Krieges veröffentlichen? Auch in Österreich ist die Zensur allgegenwärtig. Kraus muss all seine Artikel vor der Drucklegung einem Zensor vorlegen. Vieles wird gestrichen und dann nach dem Krieg veröffentlicht. Anderseits steht fest, dass Kraus gute Beziehungen zum Hauptzensor hat, der immer wieder ein Auge zudrückte. Und vieles ist in Satire verpackt, die der Zensor nicht versteht. „Satiren, die der Zensor versteht“, sagt er, „werden mit Recht verboten“.
So vehement Kraus gegen die Mächtigen und Bourgeoisie anschreibt, er bleibt ein Mann der Bourgeoisie. Er wohnt in einer üppigen Wohnung in der vornehmen Lothringerstrasse. Er hat ein Ferienhaus in Bad Ischl. Immer wieder leistet er sich teure Auslandreisen. Vor allem mit Sidonie Nadherny reist er mehrmals in die Schweiz, in die Dolomiten und nach Süditalien. In Sorrent steigt er im teuersten Hotel ab. Er leistet sich auch ein Auto mit Chauffeur, im Jahr 1914 keine Selbstverständlichkeit.
Zu Beginn des Krieges ist er ein Monarchist, ein Reaktionär. Er glaubt, der österreichische Kaiser sei das Heil für Europa. Doch der Krieg und sein Elend haben ihn langsam gewandelt, sehr langsam. Erst 1917 beginnt Kraus seine konservative, monarchistische Haltung zu revidieren. Nach dem Krieg wird er zum feurigen Republikaner und spricht sich klar für die Sozialdemokratie aus. Jetzt sieht er nicht mehr im österreichischen Kaiser das Heil, sondern in Woodrow Wilson, dem amerikanischen Präsidenten.
Im Boulevard-Café sitzen Ziegenböcke
Einerseits glaubt er, Wilson könnte Europa retten, anderseits glaubt er noch immer an die bevorstehende Apokalypse. In diesem Sinn hat Kraus nach dem Krieg sein phantastischstes Werk geschaffen: „Die letzten Tage der Menschheit“ – eines der turbulentesten Theaterstücke. Es ist so turbulent und schwierig, dass es kaum gespielt wird. Über 200 Szenenbilder jagen sich. Es braucht Hunderte Schauspieler. Da wird geweint und geheult, gepöbelt und gepisst. Tote steigen aus den Gräbern. Ein 14Jähriger wird gehenkt. Lemuren schlendern über die Boulevards. Offiziere singen „O Tannenbaum“, der Chor der Hyänen tritt auf. Der Kaiser ist ein Sadist, falsche Patrioten treten auf, echte Kriegsgewinnler, geldgierige Juden, Nutten verwandeln sich in Adlige, Hanswurste werden zu Tyrannen, im Boulevardcafé an der Ringstrasse sitzen Ziegenböcke. Und am Schluss geht die Welt unter.
Epilog
Spricht man über Kraus, hört man als erstes: „Ja, er war gegen die Presse, die Journalisten, die Journaille“. Auch heute ist er deshalb für Medien-Hasser eine willkommene Referenz. Doch Kraus geht viel weiter. Er legt eine breitgefächerte Gesellschaftskritik vor, die vor allem auch die Gescheiten dieser Gesellschaft einbezieht. Plötzlich spricht er von kollektiver Verantwortung. Eine ganze Generation von Intellektuellen hat es versäumt, dem Unheil Einhalt zu gebieten.
Kraus hatte viele Bewunderer, aber auch Kritiker. Diese warfen ihm vor, dass er sich zum allmächtigen Richter über Gut und Bös aufschwinge. Er wisse immer, was gerecht und ungerecht sei – Widerspruch gebe es keinen. Doch am meisten Anhänger verlor Kraus gegen Schluss seines Lebens. Da huldigte er plötzlich – zur Überraschung vieler – dem autoritären österreichischen Bundeskanzler Engelbert Dollfuss. Dieser liess nicht nur die Sozialdemokraten verbieten, er war der Wegbereiter des österreichischen Faschismus. Kraus bezeichnete ihn als „Retter in grosser Not“. Er führe einen „heiligen Verteidigungskrieg“ und bewahre das Land „vor der Pest“. Seine einst geliebten Sozialdemokraten müsse man „mit Stockschlägen“ traktieren. Kraus wurde im Februar 1936 von einem Velofahrer überfahren. In der Folge litt er an Depressionen und Kopfschmerzen. Am 12. Juni starb er mit 62 Jahren in seiner Wohnung an einem Herz- und Gehirnschlag.
Sein Tod ersparte es ihm, sich weiter mit dem aufkommenden Nationalsozialismus auseinanderzusetzen – einer Bewegung, die er strikte ablehnte. Weshalb aber erkor er dann ausgerechnet den Austrofaschisten Dollfuss als Retter der Nation? Wie hätte Kraus auf den Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland reagiert?