Das Filmfestival, das vom 18. bis zum 29. Mai stattfinden wird, versucht nach der letztjährigen, von der Pandemie geprägten Ausgabe zur Normalität zurückzufinden. Für die Auswahl der 45 Filme, die in den diversen Programmreihen gezeigt werden, wurden über 2000 Produktionen visioniert. Angesichts der Umbrüche, mit denen die Filmindustrie konfrontiert ist, scheint die wichtigste Frage zu lauten: Wie weiter?
Ein neu besetztes Präsidium, ein angespanntes Verhältnis zu den Streaming-Plattformen und anhaltende Forderungen nach gesellschaftlicher Repräsentativität: Thierry Frémaux, der künstlerische Leiter des Filmfestivals, der am 14. April anlässlich einer Pressekonferenz den offiziellen Wettbewerb der diesjährigen Ausgabe vorgestellt hat, weiss, dass sich in Cannes vieles ändern muss, wenn vieles bleiben soll. Wie kann sich ein Festival, das sich bis anhin als Taktgeber des internationalen Filmmarkts verstanden hat, in einer Zeit technischer Mutationen neu positionieren? Auch die Pandemiewellen und die daraus entstandenen Schnittwunden in der Soziologie des Filmpublikums stellen die Filmfestspiele, die die Verteidigung des Kinosaals zu einer Identitätsfrage gemacht haben, vor eine zentrale Herausforderung.
Dass die Nachfolge Pierre Lescures, dem langjährigen Präsidenten des Festivals, ab 2023 von Iris Knobloch angetreten wird, mag in dieser Hinsicht einen symptomatischen Charakter haben. Die gebürtige Deutsche, die nach einer 17-jährigen Karriere bei Warner Bros zuletzt als Präsidentin von Warner Media für grosse Teile des europäischen Marktes zuständig war, verfügt über ein reich bestücktes Adressbuch, das es ihr ermöglichen sollte, die amerikanischen Produktionen wieder vermehrt an die Côte d’Azur zu holen. Ein Blick auf ihren Leistungsausweis jedenfalls scheint ihr Fingerspitzengefühl zu belegen: Clint Eastwood – für das 25-jährige Jubiläum von «Unforgiven» –, Christopher Nolan (als Restaurator von Kubricks «2001: A Space Odyssey») und George Miller für Weltpremiere von «Mad Max: Fury Road» zählen zu den Regisseuren, die sie in den vergangenen Jahren zu einem Besuch an der Croisette überreden konnte. Einen entscheidenden Einfluss hatte sie auch auf die Karriere von «The Artist» (2011), der «stummen» Schwarzweissproduktion von Michel Hazanavicius, die nach der Selektion am Festival von der Academy of Motion Picture in Los Angeles mit fünf Oscars bedacht wurde.
Netflix-Produktionen
Doch auch bezüglich der Zusammenarbeit mit Netflix & Co besteht Handlungsbedarf. Nachdem 2017 mit Noah Baumbachs «The Meyerowitz Stories» und «Okja» (Bong Joon-ho) zwei für den Online-Konsum konzipierte Filme im Wettbewerb vertreten waren, beschloss die Festivalleitung, nur noch Produktionen zuzulassen, die vor ihrer digitalen Auswertung auch in den Sälen gezeigt werden. (Die audiovisuelle Gesetzgebung Frankreichs schreibt vor, dass Filme zuerst im Kino gezeigt werden müssen und die Zweitauswertung auf den Bildschirmen erst nach einer fünfzehnmonatigen Karenzzeit erfolgen darf, eine Restriktion, die von den Internetanbietern wiederum als inakzeptabel gewertet wird.)
Mit «Roma» von Alfonso Cuarón und Scorseses «The Irishman» hatte Cannes in der Folge zwei prominente Produktionen an die Festivals von Venedig, beziehungsweise New York verloren und lief Gefahr, für das internationale Autorenkino an Attraktivität zu verlieren. Gemäss einer neuen Regelung, die in erster Linie dem ökonomischen Druck zuzuschreiben ist, der auf der nationalen Filmproduktion lastet, sollen zumindest französische Netflix-Produktionen zukünftig in Cannes gezeigt werden können – der Sonderstatus, der Frankreich hiermit eingeräumt wurde, ist nicht nur ein Skandal in wettbewerblicher Hinsicht, er widerspricht auch dem Anspruch des Festivals auf internationale Geltung. Angesichts der Zuschauererosion in den Kinosälen scheint der Konfrontationskurs gegenüber den Plattformen langfristig allerdings ohnehin zum Scheitern verurteilt.
«Mischung von Spektakel und Wahrheit»
Doch lässt sich das Verhältnis zwischen Streamingdienst und ästhetischer Innovation überhaupt regulieren? Mit den jeweiligen Respektbekundungen – wie sie seitens der Kommunikationsstellen von Netflix sowie des Festivals regelmässig praktiziert werden – ist es nicht getan, dafür ist das Gefälle zwischen Ökonomie und (Film-)Geschichte vermutlich zu hoch. Und dass Iris Knobloch, die während ihrer Anhörung François Truffauts Satz vom Kino als «perfekter Mischung von Spektakel und Wahrheit» zitiert hat, zeigt, dass sie die zukünftigen Konfliktlinien vermutlich bereits identifiziert hat: Die Plattformen mögen Starautoren wie Steven Spielberg und Spike Lee eine (vielleicht letzte) Chance bieten, ihr Alterswerk zu vollenden, eine neue, zeitgemässe Filmsprache wird aus der Zelebration der vergangenen Grösse des Kinos jedoch kaum entstehen.
Der künstlerischen Tradition des Festivals Rechnung tragen, ohne die Signale der Gegenwart zu überhören: dieser Gradlinie scheint Frémaux jedenfalls auch in diesem Jahr folgen zu wollen. Mit den Brüdern Dardenne («Tori et Lokita»), Christian Mungiu («RMN»), Kore-eda Hirokazu («Broker») und Ruben Östlund («Triangle of Sadness») sind vier Filme im offiziellen Wettbewerb vertreten, deren Regisseure bereits in früheren Jahren eine Goldene Palme entgegennehmen konnten. Unter den Altmeistern befinden sich auch David Cronenberg («Les crimes du futur»), Claire Denis («Stars at Noon»), Jerzy Skolimowski («Hi-Han») sowie, ausser Wettbewerb, Marco Bellocchio und Ethan Coen. Das jüngere amerikanische Filmschaffen ist mit James Gray und Kelly Reichardt vertreten, während Tom Cruise «Top Gun: Maverick» von Joseph Kosinski vorstellen wird. Viel (mediale) Beachtung werden vermutlich auch George Millers «Three Thousand Years of Longing» und «Elvis» von Baz Luhrmann erhalten.
Die Schweiz, nicht vertreten
Die Projektionen von Sergei Loznitsas «The Natural History of Destruction» (in einer «Séance spéciale) und «Tchaïkovski’s Wife» von Kirill Serebrennnikov werden dem Festival eine politische Koloration verleihen; bemerkenswert ist auch die Präsenz des iranischen Films, der mit Ali Abassi («Holy Spider») und Saeed Roustaee («Leyla’s Brothers») vertreten ist, sowie die Relevanz von Südkorea im zeitgenössischen Filmschaffen: vier Produktionen sind insgesamt in oder um Seoul entstanden, darunter «Hunt» von Lee Jung-jae, der als Schauspieler in der Serie «Squid Game» eine weltweite Bekanntheit erlangte. Abwesend wiederum sind diesjährig die Filmproduktionen aus Schwarzafrika und Südamerika — auch die Schweiz ist nicht vertreten. Und während der offizielle Wettbewerb nur drei von Frauen inszenierte Filme verzeichnet, ist die Geschlechterbalance in der Programmreihe «Un certain Regard» nahezu ausgeglichen.
Kann sich das Festival hiermit in der Gegenwart positionieren? In seiner Kommunikation setzt das Festival auf die neuen Medien und kündet an, den 75. Jahrestag der Filmfestspiele am 24. Mai in Zusammenarbeit mit TikTok und dem Online-Medium Brut zu feiern. Das Ziel, so Frémaux, sei, die Jugend stärker ins Festivalgeschehen einzubinden. Die Reaktionen, wie sie auf den Social-Media-Kanälen zirkulieren werden, sollten der Festivalleitung jedenfalls auch eine Antwort auf ihre Prägnanz ihrer programmatischen Linien liefern können.