Bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses zugunsten der neuen CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer auf dem Sonderparteitag in Hamburg hatte Deutschlands führende Partei ein völlig ungewohntes, geradezu vorbildliches Beispiel für innerparteiliche Demokratie abgegeben. Dadurch, dass sich gleich drei Kandidaten um die Nachfolge Angela Merkels bewarben und auf acht grossen Veranstaltungen vor tausenden Interessierter sich und ihre politischen Vorstellungen präsentierten, waren erstmals auf direkte Weise die ansonsten so oft beschworenen „mündigen Bürger“ in eine wichtige Personalentscheidung wirklich mit eingebunden – es gab am Ende tatsächlich eine Auswahl. Demokratenherz, sollte man mithin meinen, was willst Du mehr?
Flügelkämpfe und Verschwörungstheorien
Und stattdessen? Der interessierte Beobachter fasst sich momentan nur noch an den Kopf. Statt den durch eine behäbig gewordene Partei wehenden frischen Wind, statt die jahrzehntelange Verkrustungen überwindende Bewegung als Motivation zum Aufbruch nach den Ufern neuer Ziele zu nutzen, ist die CDU dabei, sich in Flügelkämpfen zu verstricken, persönliche oder politische Feindschaften zu kultivieren, Verschwörungstheorien zu verbreiten und möglichst erfolgreich keine parteiliche Geschlossenheit aufkommen zu lassen. Es deutet sich ein Lehrstück an mit dem Titel: „Wie man auch die letzte Volkspartei zugrunde richtet“.
Unzweifelhaft ist, dass der Sieg der ehemaligen Ministerpräsidentin von der Saar über ihre beiden Mitbewerber (Friedrich Merz und Jens Spahn) als künftige Parteilenkerin eine Richtungswahl darstellte. Und zwar nicht nur, weil mit dieser Position sozusagen automatisch der Anspruch – ja, sogar das Recht – verbunden ist, bei der kommenden Bundestagswahl nach der Kanzlerkrone zu greifen. Bedeutsamer ist vielmehr, dass sich mit Annegret Kramp-Karrenbauer ganz sicher die CDU auch verändern wird. Im Stil, aber auch bei politischen Inhalten. Davon kann wohl auch die höchst umstrittene Flüchtlings- und Asyl-Politik nicht unberührt bleiben. Aber dem christdemokratischen „Tanker“ werden trotzdem mit höchster Wahrscheinlichkeit keine abrupten Kursänderungen zugemutet. Also keine deutlichen Schwenks nach rechts aussen, mit Blick auf die nationalpopulistische Alternative für Deutschland (AfD).
Frust bei den Merz-Fans
Ob Friedrich Merz, im Falle seiner Wahl zum neuen CDU-Chef eine radikale Abkehr von der Politik Merkels vollzogen hätte, ist eher ungewiss. Natürlich hat er aus seiner „eher konservativen Grundstruktur“ (Originalton Merz) nie ein Hehl gemacht. Aber genau ein solches apodiktisches „Schluss mit Merkel“ hatten seine Anhänger über Monate verlangt. Mehr noch, nicht wenige forderten ihn über die diversen (un)sozialen Netze immer wieder auf, endlich Vergeltung dafür zu üben (wörtlich: „Rache ist süss“), dass die Noch-Kanzlerin ihn vor 18 Jahren erst als Nachfolgerin Helmut Kohls an der Parteispitze besiegt und drei Jahre später sogar von seinem eigenen Posten als Fraktionschef im Bundestag verdrängt hatte. Dass Merz sich seinerzeit gar nicht zum Kampf stellte, sondern beleidigt das Feld räumte (siehe Journal21 vom 01.11.2018 „Merkel und die `Weggebissenen`"), wird im Fan-Klub entweder verdrängt oder ist längst vergessen.
Möglicherweise wäre der Mann aus dem Sauerland ja in Tat und Wahrheit ein guter Parteivorsitzender und – warum nicht? – auch Kanzler geworden. Dass er über einen hohen Intelligenz-Quotienten und grosse rhetorische Begabungen verfügt, hat er zu seinen Zeiten als aktiver Politiker in Brüssel und Bonn/Berlin bewiesen. Aber die Kunst, Säle zu Begeisterungsstürmen zu bewegen, bedeutet halt keineswegs, dass auch grössere Leistungsnachweise zu entdecken wären. Merz hat – von seinem Wahlkreis abgesehen – noch keine einzige Wahl gewonnen. Und auch das ist schon beinahe 20 Jahre her. Seitdem spielte der heute 63-Jährige in der Politik keine aktive Rolle mehr, sondern nutzte seine (wiederum hervorstehenden) Talente im Bereich Wirtschaft und Finanzen – auch zugunsten des eigenen Einkommens. Was hier, im Übrigen, keineswegs kritisch gemeint ist – anders, als dies von Seiten seiner Gegner während der vergangenen Wochen in oft genug unfairer Weise in den Diskussionen vorgebracht wurde.
Erbitterte Grabenkämpfe
Erstaunlicherweise wurde in den Wochen des Wahlkampfs um den CDU-Vorsitz kaum sicht- und hörbar, welche erbitterten Grabenkämpfe, welche Lobbyarbeit für den einen oder die andere betrieben und welche bis zur direkten Belästigung gehenden Versuche der Wahlbeeinflussung von den diversen Kandidatenlagern unternommen worden waren. Und zwar bis unmittelbar vor der Stimmabgabe. Nach der Auszählung ging das unvermindert weiter – jetzt allerdings vor allem als Verschwörungs-Theorien. Eine davon lautet allen Ernstes, Unbekannte hätten bei der Rede von Merz das Mikrofon manipuliert, so dass dessen Sprachgewalt nicht habe herüberkommen können …
Und nun? Mit der Stabübergabe an der CDU-Spitze von Angela Merkel zu Annegret Kramp-Karrenbauer – also, ebenfalls historisch bisher einmalig in Deutschland, von Frau zu Frau – geht auf jeden Fall eine Ära zu Ende, die 18 Jahre währte. Was ist in dieser Zeit alles geschehen? Drei Päpste, 10 SPD-Vorsitzende, achtmal Merkel gekürt zur angeblich mächtigsten Frau der Welt, und der Hamburger Sportverein verschliss 24 Trainer! Und der Zustand des Landes? Folgt man den „Kreuziget-ihn-Parolen“ der Merz-Truppen etwa in Facebook, dann müsste man schleunigst möglichst weit weg auswandern, z. B. nach Australien oder Kanada. Denn, diesen Kassandra-Rufen zufolge, stehen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft unmittelbar vor dem Absturz in den Abgrund. Und etliche haben ja auch bereits – medienwirksam ihren Austritt aus der CDU angekündigt.
Wem nützt eine Spaltung?
Selbst wenn man die Situation „nach Hamburg“ nicht als so dramatisch bewertet, ernst ist sie allemal. Das wäre allerdings im Falle eines anderen Wahlausgangs genauso gewesen. 52 Prozent zu 48 Prozent bedeuten praktisch eine Spaltung in zwei gleich grosse Lager. Und genau auf diese praktisch gleich grossen Kräftegruppen kommt es an, ob die CDU auch in Zukunft als dominierende Volkspartei die Geschicke der Bundesrepublik bestimmt oder ob sie zu einer ähnlichen Bedeutungslosigkeit zerbröselt, wie es den einstigen Schwesterparteien in Frankreich oder Italien erging. Hier muss die neue Parteichefin ihr bundespolitisches Gesellenstück abliefern. Das ist eine Chance, keine Garantie.
Es ist allerdings genauso ein Test auf die politische Reife der Gesamtpartei. Und damit auch auf die politische Statur des in Hamburg unterlegenen Friedrich Merz. Er war vor zwei Jahrzehnten schon einmal davongelaufen und hat jetzt erneut die Bitte ausgeschlagen, er möge doch trotz seiner Niederlage in der CDU-Spitze mitarbeiten. Ginge es ihm allein (oder zumindest vor allem) um die gemeinsame Sache, dürfte er sich nicht verweigern. Und zwar schon, um „seinem“ National- und Wirtschaftsflügel eine gewichtige Stimmte beim Ausgleich der unterschiedlichsten Interessen und Strömungen zu geben.