Im Frühjahr ist der TV-Entertainer Wolodimir Selenski mit überwältigender Mehrheit von 73 Prozent zum neuen Präsidenten gewählt worden. Ein paar Wochen später gewann seine Partei «Diener des Volkes» (dies der Titel von Selenskis populärer Fernseh-Serie) eine absolute Mehrheit im frisch gewählten Kiewer Parlament. Ein ganz neues Kapitel schien in der Ukraine, die erst 1991 ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, anzubrechen.
Zweierlei Verwicklungen
Dann brach in Washington die sogenannte Ukraine-Affäre los. Ein Whistleblower in den Geheimdiensten hatte enthüllt, dass Trump bei einem Telefongespräch mit Selenski diesen dazu gedrängt hatte, nach kompromittierendem Material gegen Trumps möglichen Gegenkandidaten Joe Biden zu graben. Von den Demokraten im Kongress ist deswegen ein Impeachment-Verfahren gegen den Präsidenten eingeleitet worden. In dem später im Wortlaut veröffentlichten Gespräch Trumps mit Selenski machte der junge ukrainische Präsident eine peinlich servile Figur – was man allenfalls mit Rücksichten auf Interessen seines Landes und die Freigabe versprochener, aber von Trump blockierter Hilfskredite entschuldigen konnte.
Doch die Verwicklungen in die Trump-Intrige sind nicht der einzige Schatten, der auf Selenskis Strahlenkranz fällt. Beunruhigender sind seine völlig undurchsichtigen Beziehungen zu dem skrupellosen Oligarchen Ihor Kolomoiski. Diesem gehört der Fernsehsender 1+1, auf dem Selenski seine erfolgreiche Satire-Serie «Diener des Volkes» verbreitet hatte. Kolomoiski war aber auch Mitbesitzer der PrivatBank, der grössten Bank in der Ukraine. Sie musste 2016 wegen korrupter Manipulationen Kolomoiskis vor dem Kollaps gerettet werden. Mit Zuschüssen von rund fünf Milliarden Dollar wurde sie verstaatlicht.
Der Oligarch setzte sich Im Zuge dieses Skandals zuerst in die Schweiz und dann nach Israel ab. Nach Selenskis grossem Wahlsieg kehrte er verdächtig schnell wieder in die Ukraine zurück. Verdacht erregte bei manchen Beobachtern auch der Umstand, dass Selenski als neuer Präsident umgehend den früheren Anwalt von Kolomoiski, Andri Bogdan, zu seinem Stabschef ernannte. Einige Wochen darauf veröffentlichte die Regierung ausserdem ein Foto, das den berüchtigten Oligarchen in offensichtlich vertrauter Runde mit dem jungen Staatschef in dessen Präsidentenbüro zeigte.
Têt-à-tête mit dem Oligarchen
Warum liess dieses Bild weit über die Grenzen der Ukraine hinaus vielerlei Alarmglocken schellen? Weil Kolomoiski mit seinen Anwälten alle möglichen Hebel in Bewegung setzt, um die von ihm selber beinahe in den Bankrott gerittene PrivatBank wieder vom Staat zurückzuverlangen oder zumindest eine Milliarden-Entschädigung seitens der Staatskasse durchzuboxen. Sollte das Foto mit dem Tête-à-Tête der Öffentlichkeit signalisieren, dass Selenski bereit war, auf die hanebüchenen Forderungen des zurückgekehrten Oligarchen einzugehen oder zumindest faule Kompromisse mit ihm zu zimmern?
Die dubiose Geschichte wird noch anrüchiger, wenn man sie in den Zusammenhang stellt mit einem schweren Brandanschlag gegen ein Haus der früheren ukrainischen Nationalbankchefin Valeria Gontareva. Diese zählte zu den erklärten Feinden Kolomoiskis, weil sie 2016 die Verstaatlichung seiner vom Bankrott bedrohten PrivatBank durchgesetzt hatte. Zwar liegen bisher keine Beweise vor, dass der Oligarch etwas mit dem Brandanschlag zu tun hatte, doch einige Kommentatoren weisen darauf hin, dass Drohungen und Einschüchterungen schon immer zu seinen Geschäftspraktiken gehörten.
Diener oder Marionette?
Wie geht es weiter in der Selenski-Kolomoiski-Saga? Darauf kann vorläufig niemand eine klare Antwort geben. Sollte es tatsächlich zu einem Deal zwischen den beiden früheren Geschäftspartnern kommen, bei dem der Oligarch zumindest einen Teil seiner unverschämten Forderungen einstreichen könnte, wäre das ein verheerendes Zeichen für die Glaubwürdigkeit des jungen Hoffnungsträgers. Der internationale Währungsfonds (IMF) und westliche Gläubigerländer haben unüberhörbar signalisiert, dass solche Machenschaften nicht ohne negative Folgen für weitere Kreditgewährungen an die Ukraine bleiben würden. Selenski muss überzeugender als bisher klarstellen, ob er tatsächlich ein Diener des Volkes sein will. Oder – ähnlich wie fast alle seine Vorgänger – eher eine Marionette, die im Dienste rücksichtsloser Oligarchen tanzt. Man kann nicht zwei Herren gleichzeitig dienen, schrieb dieser Tage ein Leser in der englischspachigen «Kyiv Post».