Zwei Typen von Menschenschlangen und vor allem der Kontrast zwischen den beiden haben mich diese Woche tief erschüttert. Da war die Schlange, die sich die Zürcher Langstrasse hinaufzog, vom Hiltl aus Richtung Helvetiaplatz, beim sogenannten Bermuda-Dreieck um die Ecke, und dann nochmals um die Ecke – ein paar hundert Meter lang. Die Menschen standen für Gratismahlzeiten an, für Säcke voller Lebensmittel und Hygieneprodukte.
Die andere Schlange konnte man an der Zürcher Bahnhofstrasse sehen. Die Menschen hatten lange gewartet, bis sie ab 11. Mai wieder Luxuskleider, Designertaschen und -schuhe kaufen oder wenigstens anprobieren konnten. Gucci, Chanel, Boss, Louis Vuitton und weitere Edelmarken. Bis zu 40 Minuten sollen die Kunden draussen gewartet haben.
Letztes Wochenende warteten schon um 16.00 Uhr viele Bedürftige an der Abgabestelle. Um 17.00. Uhr, als die Verteilung losging, war die Schlange sicher 250 Meter lang, und viele standen bis 19.00 Uhr im strömenden Regen. Verteilt wurden rund 900 Säcke mit Lebensmitteln und unzählige Beutel mit Zahnbürsten, Zahnpasta, Seife und Desinfektionsmitteln. Daneben wurden auch warme Mahlzeiten abgegeben.
Die Verteilaktion läuft im Zürcher Kreis vier seit dem Beginn der Corona-Krise. Der von der unabhängigen Theologin und Gassenarbeiterin Schwester Ariane gegründete Verein Incontro macht seit mehr als zwei Jahren aufsuchende Gassenarbeit. Schon vor der Krise brachten sie und Pfarrer Karl Wolf von der katholischen Kirche Küsnacht Bedürftigen auf der Gasse Essen. Karl Wolf kannte viele schon von seiner Tätigkeit im Pfuusbus des Sozialwerks Pfarrer Sieber.
Als der Lockdown in Kraft trat und viele Organisationen für Randständige ganz oder teilweise schliessen mussten, wurde beiden klar, dass sie jetzt schnell handeln mussten. In Windeseile stellte der Verein Incontro eine unglaubliche Organisation auf die Beine: In vielen Pfarreien wurde gesammelt und gekocht, lokale Restaurants spendeten Mahlzeiten, Geld wurde gesammelt, damit das, was sich als besonders nötig erwies, dazugekauft werden konnte. Wenn immer möglich, gingen die Helferinnen und Helfer flexibel auf die aktuellen Bedürfnisse ein.
Online-Registrierung für Luxuseinkauf
Szenenwechsel an die Bahnhofstrasse. Die Schlange ist länger geworden. Eigentlich müsste man sich online registrieren. Doch viele kommen ohne Anmeldung und hoffen, eingelassen zu werden.
Wieder Szenenwechsel. Bei der Verteilzentrale im Zürcher Kreis vier herrscht Hektik. Bevor die Lebensmittelsäcke zu den Bedürftigen kommen, werden sie im Lager an der Bullingerstrasse gesammelt. Rund zwanzig junge Freiwillige packen die Ware ein. Die städtische Verwaltung hat dort einen Raum zur Verfügung gestellt.
Schwester Ariane koordiniert, organisiert und rennt.
Ariane (im Bild) ist überall gleichzeitig. Freiwillige der jungen Wirtschaftskammer Zürich-Bellevue haben zuvor die Spenden mit ihren Fahrzeugen bei der autonomen Schule abgeholt, wo sie zuvor abgegeben wurden, und zusätzlich Grundnahrungsmittel eingekauft. Sie haben die Ware ins Verteilzentrum gebracht, wo sie von den vielen Helferinnen und Helfern in Säcke verteilt wird. Wegen des starken Regens wird alles zusätzlich in Plastiksäcke gesteckt. Gino von der jungen Wirtschaftskammer ist mit seiner Kollegin Heike, seinem Kollegen Markus und seiner zehnjährigen Tochter Flavia da. Diese hilft begeistert mit. Gino, der neben dem Verladen auch als Chauffeur aushilft: «Es ist gut, wenn sie sieht, dass es nicht allen Menschen so gut geht wie uns.»
Dabei sind auch Anja und Alessandro, zwei junge Freiwilige aus der kirchlichen Szene.
Sie erinnern sich an die letzten Verteilaktionen «Wir waren erstaunt, wie offen die Leute uns gegenüber waren. Viele haben aus ihrem Leben erzählt. Für uns war neu, dass man nicht allen Bedürftigen die Armut auch ansieht.»
Hektisch und diszipliniert zugleich
Flavia hat später auch bei der Verteilung an der Langstrasse mitgeholfen und das durchaus ambivalent erlebt: «Zu Beginn prügelten sich zwei Männer in der Nähe», erinnert sie sich.
Im Bild Flavia mit Gino, Heike und Markus. Flavia: «Ich versteckte mich vor ihnen. Später rissen mir einige die Säcke mit Hygienmitteln fast aus den Händen, andere jedoch waren sehr lieb. Einer tätschelte mich auf den Kopf. Das fand ich gar nicht gut. Die einen waren ganz mager, andere sahen auf den ersten Blick gar nicht so arm aus. Am andern Tag erzählte ich in der Schule davon. Niemand hatte zuvor etwas von Schwester Ariane und ihrem Hilfsverein gehört. Das hat mich erstaunt.»
Für die Zehnjährige war es sicher ein einschneidendes Erlebnis. Flavia: «Ich wäre jederzeit wieder dabei!»
Wir erleben die Verteilaktion als hektisch, aber sehr diszipliniert. Auch die Abstandsregeln werden so gut wie möglich eingehalten. Zwei Polizisten haben nichts auszusetzen, beanstanden aber gleichzeitig eine Ansammlung von mehr als fünf Personen im Take-out vis-à-vis. In der Schlange der Bedürftigen sehe ich dominikanische Prostituierte und portugiesische Reinigungskräfte, obdachlose Junkies, Alkoholiker und vermutlich auch einige illegal hier anwesende Menschen aus aller Welt.
Vor allem die sogenannten Papierlosen haben in vielen Fällen als Erste ihre Jobs verloren, sie arbeiten ja schwarz. Aus Angst vor der Polizei trauen sich nur wenige an die Langstrasse. Domenico* ist einer von ihnen. Er erzählt mir, dass er als Gärtner und Putzmann gearbeitet habe. Ob er die Jobs zurückbekomme, wisse er nicht. In die Schlange habe er sich erst gestellt, als er gesehen habe, dass es keine Polizeikontrollen gebe. Andere Ausländer und Ausländerinnen in der Schlange hätten wohl das Recht auf staatliche Hilfe. Das aber ist bei vielen mit der Angst verbunden, ihren legalen Status zu verlieren.
Auch Sexarbeiterinnen, die hier ordnungsgemäss registriert sind und pflichtgemäss ALV bezahlt haben, erhalten nicht immer Arbeitslosenunterstützung oder zu wenig. Sei es, weil sie zu wenig angegeben oder ihre Papiere falsch ausgefüllt haben. Ihre Probleme decken sich mit denen vieler kulturell Tätiger aus meinem Bekanntenkreis des kreativen Prekariats. Nur ist ihr privates Auffangnetz oft weniger gut. Oder sie müssen allein eine Wohnung bezahlen, in der sie vorher mit anderen arbeiteten. So geht es Maria* aus der Dominikanischen Republik. Die Kolleginnen mit europäischen Pässen konnten noch rechtzeitig ausreisen, erzählt sie mir. Sie blieb zurück, mit hohen Fixkosten. Ein Freier sei gekommen und hätte ihr angeboten, für sie aufzukommen. Aber dann müsste sie ja ... Das macht ihr zu viel Angst. So steht sie nun erstmals in der Schlange, denn das Ersparte geht zu Ende. Mittlerweile kennt die ganze Szene an der Langstrasse die Essensausgabe. Einige machen von der andern Strassenseite her faule Witze, aber die meisten finden die Aktion grossartig.
Auch Schweizer sind dabei
Auch Schweizer Senioren, mehr Männer als Frauen, sind zu sehen. Man sieht ihnen an, dass sie sich schämen anzustehen. Diese ältere Generation trägt auch mehrheitlich keine Gesichtsmasken, obwohl diese gratis verteilt werden. Alex* berichtet, dass die AHV einfach nicht reicht: «1250 Franken! Das ist doch viel zu wenig.» Und die Ergänzungsleistungen? Er zuckt die Schultern, will sich dazu nicht äussern. Offenbar macht es nicht nur Ausländern Mühe, Sozialleistungen anzufordern.
Ein anderer erzählt von seiner kranken Frau. «Ich muss mich um sie kümmern, wir kommen nur sehr knapp durch. Die Spitex ist teuer. Und jetzt kommen noch alle diese Desinfektionsmittel und Masken dazu!» Ein anderer ergänzt: «Essen gibt es auch noch an andern Orten. Wir kennen sie mittlrweise alle. Aber Hygieneartikel gibt es nur hier.» Wir fotografieren so diskret wie möglich, obwohl man wegen der Masken kaum jemanden erkennt, wir wollen ja niemanden ausstellen. Auch Schwester Ariane fühlt sich dafür verantwortlich, dass niemand später Probleme bekommt. Die Leute von der Gasse sind ihre Freunde, viele kennt sie seit Jahren. Sie will nicht missionieren, nur helfen. Und das tut sie mit Leib und Seele, ihr ist ein gutes Wort genauso wichtig wie Nahrung. Solidarität ist kein Fremdwort in dieser Szene. Nicht nur die jungen Freiwilligen helfen begeistert, auch die Leute in der Schlange sind miteinander solidarisch.
Einige stehen am Strassenrand, trauen sich offenbar nicht, auch anzustehen. Auch mich muntern einige Frauen aus der dominikanischen Republik auf, ich müsse mich nicht schämen. Ich bin gerührt.
Die Schlange an der Bahnhofstrasse wird bald der Vergangenheit angehören. Wenn der in der Quarantäne gestaute Kaufdrang vorbei ist, werden die Designerkunden wieder normal einkaufen können.
Ein Gürtel bei Louis Vuitton kostet über 400 Franken, eine Tasche zwischen zwei- und siebentausend Franken. Ganz zu schweigen von Mänteln und Jacken. Wenn all die ausgabefreudigen Menschen 10 Prozent ihres Luxuseinkaufs spenden würden, könnten Schwester Ariane, Pfarrer Karl Wolf und die vielen Freiwilligen den Leuten in der Langstrassenschlange noch besser helfen. Denn vermutlich werden für viele von ihnen die Auswirkungen der Pandemie viel später vorbei sein als für viele von uns. Wie geht es weiter für sie? Wie schnell wird sich ihre Situation normalisieren? Wird sie sich je normalisieren? Ihre Situation war ja gar nie «normal». Wie hat diese riesige Solidaritätswelle ihr Leben verändert? Wir bleiben dran.
*Namen und Situationen wurden so verändert, dass niemand erkannt werden kann.
Alle Fotos © Marc Bachmann