Zwei Niederlagen in den letzten Tagen und Wochen, eine persönliche, und eine, die meine Dorfgemeinschaft betrifft. Letztgenannte zuerst. Indien hat weitreichende Umweltgesetze, die meist so scharf sind, dass sie ständig verletzt werden. Das CRZ-Gesetz betrifft den Schutz der Meeresküsten (CRZ: Coastal Regulation Zone). Es schreibt vor, dass der Uferrand innerhalb von 400 Metern (vom Hochwasserstand aus gemessen) nicht überbaut werden darf. Bestehende Häuser dürfen umgebaut werden, aber die covered area darf den Ist-Zustand nicht erweitern.
Schön wär’s! Vor etwa fünf Jahren begann ein Unternehmer aus Bombay mit dem Bau eines ‚Wochenendhauses’ am Strand von Awas, das auf den Plan-Massen eines alten Bungalows stehen sollte. Bald zeigte sich, was er meinte: Ein Betonkubus nach dem anderen stieg bis zu den Palmenkronen, bis es am Schluss 12 Outhouses waren.
Nichts geschah
Widerstand formierte sich. Lokalzeitungen zeigten Fotos, eine Anwältin bewirkte einen Baustopp, der Distriktchef wurde versetzt. Ein neuer Collector – so lautet der Titel seit Kolonialzeiten – unterstützte das Verfahren gegen den Gesetzesbrecher. Er kam kurzzeitig in Haft, der Bau ist seit drei Jahren eingestellt, die hässlichen Betontürme verwittern.
Schon damals war uns Strandgängern aufgefallen, dass nur eine Parzelle weiter ein anderer Hausbau gemächlich weiterging. Auch er sah nach einem ‚Wochenendhaus’ aus, will sagen: Drei miteinander verbundene riesige Baukörper, vierzig Zimmer, ein Fünfzig-Meter-Pool.
Sicher würde auch hier bald einmal eingeschritten! Doch nichts geschah, im Gegenteil. Hinter der Uferpromenade, auf der das Anwesen liegt, hat das Meer eine kleine Bucht voller Mangroven gebildet. Auch hier steigt das Wasser mit den Gezeiten, ist also Teil des Meers. Zudem geniessen Mangroven besonderen Gesetzesschutz. Dies kümmerte den Bauherrn – eine Immobilienfirma in Bombay – nicht. Er erweiterte vielmehr seinen Grenzanstoss mit einer neuen Mauer bis tief in die Mangroven hinein – Platz für Helikopterlandungen (vom CRZ-Gesetz explizit verboten). Dann kam eine Brücke quer durch die Bucht zum Festland hinüber, und dort wurde der Trampelpfad zur Strasse ‚aufgewertet’.
Zuckerbrot und Peitsche
Der Blick auf die Betonruinen im Nachbargrundstück veranlassten den neuen Platzhirsch, auch die politischen Sicherheitsplanken zu verstärken. Er tat es mit Zuckerbrot: Dreissig Dorfleute fanden Anstellung, achtzehn von Ihnen als Wächter. Die Firma des Dorfpräsidenten erhielt den Zuschlag für Sand-, Zement- und Eisenlieferungen. Der neue Arbeitgeber konnte aber auch die Peitsche schwingen. Sie sei bedroht worden, meldete eine Bungalow-Besitzerin, als sie bei der Staatsregierung in Bombay vorstellig wurde; die Firma sei offensichtlich mit politischen Schwergewichten verbandelt.
Doch im Dorf wuchs der Widerstand. Mit der Brücke war der Abfluss von Monsunwasser aus den Dorfäckern gefährdet. Die Unverfrorenheit, mit der Unterstützung gekauft und Dorfboden privatisiert wurde, brachte die Stimmung schliesslich zum Überlaufen. Es gab Proteste, und selbst Zeitungen in Bombay brachten Bilder der zerstörten Mangroven. Der Collector musste einschreiten.
Gras darüber wachsen lassen
Vor zwei Wochen war es soweit: Raupenfahrzeuge fuhren auf, Bezirksvertreter, Polizei und Journalisten standen vor der Brücke. Aber auch der Gemeindeammann und seine mit Stöcken bewaffneten Goondas waren da. Zuerst vertrieben sie die Journalisten, damit keine unliebsame PR entstand. Dann, als die Polizisten die Sprengladungen anbringen wollten, stellten sie sich diesen in den Weg, an der Spitze der Gemeindepräsident. Überrascht, den obersten Amtsträger des Dorfs vor sich zu haben, zogen sie sich zurück. Am Ende wühlte der Trax beim Brückenbeginn ein bisschen Erde auf und deponierte sie in der Strassenmitte.
Als ich vor einigen Tagen dort vorbeiging, stand die Brücke immer noch. Die feindliche Stimmung im Dorf hält an, war es doch das erste Mal, dass ein Dorfpräsident öffentlich gegen das Volk Stellung bezogen hat. Doch niemand gibt sich einer Illusion hin. „Die Devise der Mafia lautet: Fakten schaffen. Dann Gras darüber wachsen lassen“, so mein Nachbar Zane. Am letzten Wochenende kreuzte die Besitzerfamilie erstmals auf. „Die Frau hat zwei Leibwächter“, erzählte uns ein Gärtner. „Sie sind riesig! Das können keine Inder sein!“.
"Wenn ihr nicht bezahlt..."
Es ist ein Beispiel, wie Korruption in Indien alles aushebeln kann – Verwaltung, Gerichte, Politiker, Bürger. Und ein reines Gewissen, wie ich hinzufügen muss. Meine zweite Niederlage beweist es. Als wir hier in Awas unser Haus bauten, wussten wir, dass wir auf Landwirtschaftsboden und nicht Wohnland bauten. Die Gemeinde gab uns dennoch eine Baubewilligung. ‚Nach der Fertigstellung könnt Ihr ein Gesuch für eine Umzonung eingeben. Das machen wir immer so’, hiess es beim Landvermesser. ‚Bis dann müsst Ihr eine Strafgebühr zahlen’.
Wir gaben das Gesuch ein, wir zahlten die Gebühr, eine exorbitante Summe, für ein Jahr, ein zweites, drittes Jahr. Doch die Bewilligung blieb aus, auch als die Staatsregierung die Unterscheidung zwischen Agrar- und Bauland ‚im Prinzip’ aufhob. Stattdessen kamen von allen Seiten Ratschläge: ‚Wenn Ihr das durchbringen wollt, müsst Ihr eben eine consideration leisten’. Wir versteiften uns, nahmen eine Rechtsanwältin. Auch sie blieb auf dem Gesuch sitzen. Eines Tages klärte sie ihre verbohrten Klienten auf: „Wenn Ihr nicht bezahlt, kann ich das Dossier auch nicht vorwärtsbringen“.
Wie steht es mit der Kampfansage an die Korruption?
Heuer, im Jahr Sieben, sind wir schliesslich eingeknickt. Letzte Woche kam der erste Geldkurier vorbei, ein Faktotum vom Gesundheitsamt. Gesundheitsamt? „Ja, unser Gesundheitsdirektor muss unterschreiben, dass Ihr eine Trinkwasserleitung habt. Und eine Zufahrtstrasse, auf der eine Ambulanz vorfahren kann“. Und warum eine derart hohe Summe, fragte ich idiotischerweise. „Sir, so viele Leute arbeiten dort, nicht nur Doctor Sahib!“, antwortete er geduldig. Und wie steht es mit der Kampfansage von Premierminister Modi an die Korruption?“ wollte meine Frau wissen. „Madam, die Leute da oben kommen und gehen. Wir sind immer hier. Und unsere Löhne sind schlecht!“
Zwei Stunden später war er wieder da, auf seinem wackligen Fahrrad, mit dem Wust von Papieren, jedes unterzeichnet und gestempelt. Für nächste Woche hat sich das nächste Amt angemeldet, und dann geht es weiter, bis hinauf zum Collector’s Office. „In zwei Monaten sollte es soweit sein, Insh’Allah“, verabschiedete sich der Trinkwasserleitungsspezialist lächelnd, und schwang sich aufs Rad.
„The real Law of the Land“
Nachbarn und Freunde trösten uns, wenn wir ihnen von unserer Niederlage berichten. Dies sei nun einmal „the real Law of the Land“, sagte Einer. Ohne Kompromisse komme man hier nicht weiter. Schon gut, replizierte ich, aber heisst es nicht: ‚compromise means compromised’? „Es hat auch sein Gutes“, beschwichtigte uns Nachbar Behruz und erzählte von seinem Schwager, der wegen Geschäftsvergehen für acht Jahre in Haft gekommen war.
Drei Jahre sei er gesessen, die letzten Monate in einer Einzelzelle. Einzelzelle? Für ein Geschäftsdelikt? Behruz lachte: „Verstehst Du denn nicht? Damit ein anderer Mann in seine Haut schlüpfen und die restlichen fünf Jahre absitzen konnte! Gegen Bezahlung selbstverständlich!“ Der Schwager habe derweil in seinem Ferienhaus in Lonavala freiwilligen Hausarrest genossen.
Anderswo gibt es Auftragskiller. In Indien gibt es auch Auftragssträflinge. Nur Eines sucht man vergebens: Menschen mit einer reinen Weste.
PS: Letzte Neuigkeit! Vor zwei Stunden kam unser Gärtner gelaufen und berichtete, in der Nacht auf Sonntag sei ein Trax aufgefahren, diesmal mit einem Schlagzahn. „Die Brücke wird geschleift!“