Die Zeiten sind garstig, die Welt ist schlecht, die Aussichten trübe – man kann‘s schon nicht mehr hören. Dostojewskij ist nun sicher der Letzte, der uns zu trösten vermöchte. Im Gegenteil. Er haut noch einen drauf und liefert uns in den „Aufzeichnungen aus dem Abseits“ zusätzlich zu den garstigen Zeiten, der schlechten Welt, den trüben Aussichten einen (namenlosen) Mann, der eine perverse Lust darin zu finden scheint, alles nur mögliche Ungemach in der miesesten aller Welten auf sich zu ziehen, um ausgiebig und nachhaltig darunter zu leiden.
Das Erstaunliche ist, dass die Lektüre dieser Jeremiaden, dieses Gezeters, dass dieses wilde verbale Herumfuchteln grössten Lesegenuss bietet. Die Figur, die der Russe da erfunden hat, nennt er gelegentlich „literarisch“. Und literarisch verhält sie sich, drückt sie sich aus. Ein Konstrukt also, eine Kunstfigur. Aber diese Kunstfigur ist alles andere als papieren; sie vibriert, strotzt vor Leben, wirkt 150 Jahre nach ihrer Entstehung vital und modern.
Stillosigkeit – das richtige Prinzip
Das haben wir nicht zuletzt Felix Philipp Ingold zu verdanken, der die „Aufzeichnungen“ neu übersetzt und herausgegeben hat. Wer, wie ich, kein Russisch spricht, kann natürlich nicht beurteilen, ob das nun eine gute, eine stimmige, eine dem Original adäquate Übersetzung ist. Was sich sagen lässt: sie liest sich sehr gut, sie passt in ihren Kühnheiten bestens zum kühnen Inhalt. Ingold weist im Nachwort darauf hin, dass Dostojewskij in diesem Stück Prosa mit Absicht eine fahrige, unkorrekte, von Emotionen geprägte Sprache verwendet, um seinen Antihelden zu charakterisieren. Und Ingold übersetzt in eben diesem Stil; verwendet Wörter aus unserer Umgangssprache, kontert sie mit Floskeln und Umständlichkeiten älterer Sprachschichten, mischt virtuos direkte, indirekte Rede mit innerem Monolog, bedient sich syntaktischer Gesetze, um sie dann gleich wieder zu zertrümmern. So wird einem der Inhalt des Buchs auf die richtige Art, nämlich stillos (aber leidenschaftlich) serviert oder vielmehr: um die Ohren gehauen.
Der Ich-Erzähler gibt in den ersten Sätzen des zweiteiligen Textes in schöner Offenheit den Tarif bekannt. „Ich bin ein kranker Mann … Ich bin ein bösartiger Mensch“, womit er, wie das Folgende zeigt, vor allem, was den zweiten Satz angeht, absolut Recht hat. Ein Miesepeter meldet sich zu Wort, ein Nörgler, ein Frustrierter ohne Aussicht auf Rettung, ein Feigling, einer, der im gesellschaftlichen System von oben vermeintlich getreten wird – und die Tritte nach unten weitergibt, wenn sich Gelegenheit bietet. Trotzig hat er sich, der einmal ein Beamter war, ins Abseits und in die Armut manövriert und da sinniert, lamentiert und wütet er selbstzerstörerisch vor sich hin.
Paradox
Was ihn umtreibt ist das Paradox, der Widerspruch. Paradoxal kommen ihm die Welt und er selber darin vor. Dazu passt, dass ihn der Autor, allfälligen Erwartungen zuwider, zuerst als Kommentator seiner selbst auftreten lässt und erst nachher, im zweiten, längeren Teil des Textes ein paar Situationen aus dem Leben des Ich-Erzählers schildert, die solchen Kommentaren Nahrung bieten.
Umwertung der Werte
Den Höhepunkt der Erzählung erreicht Dostojewskij, wenn er seinen Querulanten sagen lässt: „Ich gebe zu, zwei mal zwei gleich vier ist eine grossartige Sache; doch wenn ich schon mal am Loben bin, so ist auch zwei mal zwei gleich fünf ein immer wieder wunderhübsches Sächelchen.“ In der Folge entfaltet unser Antiheld eine überbordende Beredsamkeit, um die korrekte, logische, wissenschaftlich erhärtete zwei mal zwei gleich vier-Formel zu diskreditieren und stattdessen die falsche zwei mal zwei gleich fünf-Formel als gegeben zu setzen. Alle nur möglichen und unmöglichen Begriffspaare und Antagonismen werden angeführt, um die Umwertung der Werte zu bewerkstelligen und die Ungleichung über die Gleichung triumphieren zu lassen. Was zuerst wie ein kindischer Witz aussieht, entwickelt sich zu einer Art widerständiger Philosophie, in deren Rahmen nichts mehr an seinem angestammten Platz bleibt.
In einer Zeit wie der unsrigen, in der das Faktische mittels der Vorsilbe „post“, die ein nachher meint, in Bedeutung und Wahrheitsgehalt angegriffen wird, lesen sich solche Schlaumeiereien schon fast prophetisch. Wenn unser böser Mensch im zweiten Teil des Buchs erzählt, wie er von ehemaligen Schulkollegen gedemütigt wird, nachdem er sich willentlich in die entsprechende Situation gebracht hat, und wie er anschliessend eine hilflose Prostituierte schikaniert und dabei in selbstmitleidige, hysterische Zustände verfällt, dann erleben wir noch einmal Dostojewskij auf der Höhe einer hybriden Erzählkunst: den armen Abseitigen instrumentiert er literarisch auf knappem Raum so reich, dass man wegen der Faszination, die das Erzählen ausübt, die Hässlichkeit des Erzählten, des Gegenstands der Erzählung, des abstossenden Protagonisten grad vergisst.
Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Abseits. Deutsch von Felix Philipp Ingold. Dörlemann Verlag