Militärisch mag Wladimir Putin am Ende als Sieger aus dem Krieg gegen die Ukraine hervorgehen. Aber den Informations- und Glaubwürdigkeitskrieg hat er gegen Wolodimir Selenskyj, seinen Gegenspieler in Kiew, bereits verloren – längerfristig vielleicht auch innenpolitisch.
Eklatanter könnten sich die Erscheinungsbilder zwischen den beiden Führungsgestalten im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht unterscheiden: Hier der finstere Kremlchef, unnahbar, demnächst 70-jährig, seit 22 Jahren an der Spitze der russischen Machtpyramide, der sich selber offenkundig bewusst als Alleinherrscher inszeniert und mit hasserfüllter Sprache gegen die unabhängige Ukraine vom Leder zieht, obwohl er sie handkehrum wieder als «Brudervolk» tituliert.
Kriegstreiber versus Hoffnungsträger
Dort in Kiew der ukrainische Präsident Selenskyj, 44-jährig, seit dem Ausbruch des Krieges zur ebenso quicklebendigen wie überzeugenden Führungsfigur verwandelt. Selenskyj tritt mehrfach pro Tag im olivfarbenen T-Shirt oder im gleichfarbigen Militärpullover im Fernsehen auf, verschickt laufend aufmunternde Twitter-Nachrichten und Selfies über seine Präsenz in Kiew rund um die Welt, appelliert in ukrainischer und russischer Sprache an den Durchhaltewillen der Ukrainer und an den Goodwill der russischen und weissrussischen Nachbarvölker. In wenigen Tagen ist Selenskyj weit über das eigene Land hinaus zum Sympathie- und Hoffnungsträger emporgestiegen. Eine Rolle, die man ihm noch vor wenigen Wochen kaum zugetraut hätte.
Putin dagegen ist seit der Entfesselung eines mörderischen Angriffskrieges gegen das historisch und kulturell verwandte Nachbarland für grosse Mehrheiten in der Welt zum Inbegriff eines skrupellosen Tyrannen geworden, der auch im eigenen Land die Meinungsfreiheit immer härter unterdrückt und seine Propagandisten die schamlosesten Lügen über angebliche Friedens- und Entnazifizierungs-Operationen in der Ukraine verbreiten lässt. Der im Kreml oder in seiner Landresidenz eingebunkerte Machthaber beschimpft den jüdischstämmigen ukrainischen Präsidenten als «Drogen konsumierenden Nazi» und scheut sich inzwischen nicht mehr, selbst mit dem Einsatz von Atomwaffen zu drohen.
Die Berichte über Tausende von Verhaftungen von Antikriegs-Demonstranten im ganzen Land und die Protestaufrufe in Internet-Medien beweisen es: Auch in Russland sind viele Menschen entsetzt und beschämt über Putins ruchlose Gewaltpolitik. In der russischen Bevölkerung gibt es manche Stimmen, die sich die Frage stellen, ob der sonst so scheinbar kühl und durchtrieben kalkulierende Kremlherrscher nicht einem Machtrausch verfallen ist und deshalb jede vernünftige Rationalität ausgeschaltet hat.
Wie Chruschtschow und Breschnew?
Der Krieg gegen die Ukraine ist erst fünf Tage alt und es ist keineswegs ausgeschlossen, dass Putin in wenigen Wochen militärisch als Sieger dastehen und in Kiew eine von ihm eingesetzte Quisling-Regierung die Ukraine nach seinen Vorgaben steuern wird. Als langjähriger Geheimdienstagent im Dienst der früheren Sowjetdiktatur werden Putin und seine Kamarilla wenig Mühe haben, ein solches Satelliten-Regime zu installieren. Doch ist er sich bewusst, dass er mit der offenen Unterjochung eines Nachbarvolkes mit einer demokratisch gewählten Regierung seinem eigenen Bild in der Geschichte und dem Ansehen Russlands in der Welt und dessen Zukunft einen denkbar üblen Dienst leistet?
Offenbar ist es ihm gleichgültig, wie er zurzeit in der globalen Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Und er rechnet wohl damit, dass die gewaltsame Ausdehnung des russischen Machtbereichs seiner innenpolitische Popularität neuen Auftrieb geben werde und die jetzt so empörte Öffentlichkeit in vielen Ländern bald wieder zur Tagesordnung und zum Business as usual zurückkehren werde. So wie das 2014 bei der Annexion der ukrainischen Krim weitgehend funktioniert hat.
Doch bei dieser Rechnung könnte sich Putin täuschen. Ob selbst nach einer baldigen Ausschaltung der Regierung Selenskyj in Kiew der Kreml in der Lage sein wird, die weitläufige Ukraine zuverlässig unter seine Kontrolle zu bringen, ist eine völlig offene Frage. Und vieles spricht dafür, dass die schmerzhaften wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen gegen Russland bei einem erzwungenen «Anschluss» des Nachbarlandes noch für lange Zeit in Kraft bleiben werden. Sie dürften für die russische Wirtschaft und damit für die einzelnen Bürger auf mittlere Sicht sehr empfindliche Folgen haben. Solche materiellen Schwierigkeiten werden nicht helfen, die schon jetzt nur beschränkte Zustimmung der russischen Massen zur Eroberung des ukrainischen «Bruderlandes» in solide Begeisterung zu verwandeln.
Der Platz in der Geschichte
Putins hat seine Reputation als einflussreiche und einigermassen respektierte Figur auf der Weltbühne durch die einsame Entscheidung zum Überfall auf die Ukraine schwer beschädigt. Wenn er es nicht fertigbringt, das Kriegsgeschehen durch einen für alle Seiten akzeptablen Waffenstillstand zu stoppen und für eine internationale Kompromisslösung über den zukünftigen Status der Ukraine Hand zu bieten, kann man dem Kremlherrn keinen ehrenvollen Platz in den zukünftigen Geschichtsbüchern prognostizieren. Er sollte sich daran erinnern, wie sehr die Niederschlagung der Aufständischen in Ungarn 1956 und der Einsatz russischer Truppen gegen den Prager Frühling 1968 den Ruf seiner sowjetischen Vorgänger Chruschtschow und Breschnew nachhaltig verdunkelt hat.
Auch Wolodimir Selenskyjs politisches Schicksal steht zwar zurzeit in den Sternen. Aber der frühere Komödiant und Fernsehstar, der bis vor kurzem in seinem Präsidentenamt als eher überfordert galt oder gar als Versager kritisiert worden ist, hat als tapfere und menschlich beeindruckende Gegenfigur zum rücksichtslosen Machtmenschen im Kreml unerwartet und weltweit an Glaubwürdigkeit und Statur gewonnen. Dieses moralische Kapital könnte einiges dazu beitragen, dass Putins eigensüchtiges Machtspiel am Ende erheblich anders ausgehen wird, als er sich das in seiner abgeschotteten Hybris-Blase vorgestellt hat.