Die Umfrage wurde von der chinesisch- und englischsprachigen Tageszeitung „Global Times“ – einem Ableger des KP-Organs „Renmin Ribao“ (Volkszeitung) – in Auftrag gegeben. 90 Prozent aller Chinesinnen und Chinesen blicken nach den Resultaten der Umfrage zuversichtlich in die Zukunft und erwarten „Stabilität in den nächsten zehn Jahren“. Etwas differenzierter: 13,5 Prozent sind sich dessen „absolut sicher“, weitere 40 Prozent glauben an eine „Basis-Stabilität“ und 37,6 Prozent sehen zwar Turbulenzen in gewissen Bereichen“ voraus, allerdings ohne dass dies die „Stabilität der Nation in Gefahr“ bringe.
Das Resultat spiegelt das seit Beginn des Jahrtausends in allen Bereichen wachsende Selbstverständnis Chinas wider. Im Westen wird ja Chinas Wirtschaftswachstum meist unkritisch und ohne nährere Faktenkenntnis über allen Klee gelobt. Überraschend deshalb ein anderes Ergebnis der „Global Times“-Umfrage. Drei Viertel aller Befragten nämlich sind der Ansicht, das China als zweitgrösste Wirtschaftsmacht der Welt noch immer ein Entwicklungsland sei. Das entspricht statistisch dem Brutto-Inlandprodukt pro Kopf der Bevölkerung, einem Parameter, wo es China noch immer nicht geschafft hat, in die Top 100 der Welt vorzustossen. China als Entwicklungsland entspricht auch der Selbsteinschätzung von Partei und Regierung, vorgetragen bei multilateralen Organisationen wie UNO, IMF und dergleichen.
Durch Blitz und Donner
Ein weiteres erstaunliches Resultat der Umfrage: knapp die Hälfte der Befragten sind der Überzeugung, dass sich „China zu schnell entwickle“. Zwar geht es allen Chinesinnen und Chinesen heute besser als je zuvor, doch die Entwicklung hat auch seine Schattenseiten. Neulich beim Zugsunglück in Zhejiang auf der prestigeträchtigen Hochgeschwindigkeitsstrecke schreib ein chinesischer Blogger auf dem chinesischen Twitter-Pendant Sina Weibo: „Das heutige China ist ein durch ein Gewitter mit Blitz und Donner fahrender Zug. Niemand von uns ist Zuschauer. Wir alle sind Passagiere“.
So zuversichtlich – laut Umfragen wenigstens – die Chinesinnen und Chinesen sind, so vorsichtig sind die Regierenden. Schon nur die Erwähnung der amerikanischen und europäischen Schuldenkrise treibt den Pekinger Genossen den Angstschweiss auf die Stirn. China ist mit 1,152 Billionen Dollar US-Schatzpapieren der grösste Kreditgeber der USA. Gefolgt – im asiatischen Zusammenhang nicht ganz unwesentlich – von Japan mit rund einer Billion. Eine wahrscheinlich neue Schuldenaufnahme, so unisono chinesische Volkswirte, wird den Wert des Dollars noch weiter drücken, Rohstoffe für China teurer machen, die Inflation weltweit anheizen und die chinesischen Devisenreserven von unterdessen 3,2 Billionen Dollar entwerten. Damit nicht genug. Falls die USA in eine tiefe Rezession fielen, wären chinesische Exporte in grossem Umfang betroffen. Vorläufig und noch auf Jahre hinaus sind mithin, die USA und die Volksrepublik China – die beiden grössten Volkswirtschaften der Welt – gegenseitig voneinander abhängig wie siamesische Zwillinge.
Mahnung an die USA
Was in den USA in den vergangenen Wochen vor allem auf politischem Parkett geboten worden ist, lässt in Pekings „Neuer Verbotener Stadt“ Zhongnanhai – der Parteizentrale – sämtliche Alarmglocken schrill klingeln. Immer wieder fordert Chinas Aussenminister Yang Jiechi Washington auf, „verantwortungsvoll“ mit der Krise umzugehen, vor allem in der Währungs- und Fiskalpolitik. Kurz, die USA müssten die Dollar-Investitionen Chinas und anderer Länder wirksam schützen. Zhou Xiaochuan, der Gouverneur der Volksbank – der Zentralbank Chinas – mahnt ebenfalls seit Wochen die USA, das Schuldenproblem „entschieden“ anzugehen und fordert „konkrete Massnahmen“. Ansonsten, so Zhou, sei das „globale Währungs- und Finanzsystem und mithin auch die Realwirtschaft in Gefahr“. Dass die USA mit ihrem Schuldenberg klar komme, sei „im wohlverstandenen Eigeninteresse der USA und im Interesse der ganzen Welt“.
Die chinesischen Medien sind nicht weniger deutlich als die roten Mandarine. „Das kurzfristige politische Gezerre“ in Washington wird angeprangert und dem „überlegenen“ chinesischen Polit-System gegenübergestellt. Chinesische Kommentatoren schreiben auch vom „Kindertheater in Washington“. Die amtliche Nachrichten-Agentur Xinhua – hochoffizielles Sprachrohr nach Aussen – schreibt in einem Kommentar: „Um ihre Schuldensucht zu kurieren, müssen die USA dem gesunden Menschenverstand nachleben und entsprechend ihren Verhältnissen leben“. China habe das Recht, von den USA zu verlangen, das „strukturelle Schuldenproblem zügig zu bewältigen“, denn die Dollar-Anlagen Chinas und anderer Länder stünden auf dem Spiel. Peking hat nämlich nicht nur ein Drittel seiner Reserven in amerikanischen Schuldpapieren der Supermacht angelegt, vielmehr hat sich das Reich der Mitte via verschiedene andere Investitionsinstrumente noch sehr viel stärker in Dollars engagiert.
Verschuldung der Provinzen und Städte
Den Laobaixing – den Durchschnittschinesen – kümmert das wenig, wenngleich die Medien das Thema mit steigender Panik täglich thematisieren. „Wir hoffen“, lässt sich der Sprecher des Aussenministeriums Hong Lei gerne zitieren, „dass die USA eine verantwortliche Politik und Massnahmen ergreifen, um die Interessen der Investoren zu garantieren“.
Für Rentner Wen Jianbin ist all das, was in den Medien publiziert wird, zu abstrakt. Was ihn interessiert, sind die Lebensmittelpreise, vor allem das in nur einem Jahr 57% teuerer gewordene Schweinefleisch, pièce de résistance der chinesischen Küche. Die KP-Führung versucht derzeit, der mittlerweile auf 6,5% hochgeschnellten Teuerung Einhalt zu gebieten,die hohe Verschuldung der Provinzen und Städte in den Griff zu bekommen, die Immobilienblase zu verhindern, die faulen Kredite der grossen, an ausländischen Börsen kottierten Staatsbanken in einem separaten Finanzvehikel zu parkieren und die überhitzte Wirtschaft „sanft zu landen“. Seit dem vergangenen Oktober hat die Notenbank bereits fünfmal an der Zinsschraube gedreht. Zudem wurden seit Anfang Jahr die Banken sechsmal dazu verdonnert, höhere Rückstellungen gegen Kreditausfälle zu bilden.
Düstere Vorzeichen
Premier Wen Jiabao, der chinesische Wirtschaftszar, bringt es für chinesische Verhältnisse ziemlich krass folgendermassen auf den Punkt: „Die Wirtschaft ist nicht ausgeglichen, nicht koordiniert, nicht stabil“. Das sei letztlich auch mittelfristig unhaltbar. Auch wenn die zweitrösste Volkswirtschaft der Welt noch immer mit über neun Prozentpunkten wächst, ist höchste Gefahr im Anzug. Weil auch China strukturelle Unebenheiten der Wirtschaft reformieren muss, kommt die jetzige Krise zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Für die Lokomotive der Weltwirtschaft sind zudem die nach unten korrigierten Konjunkturaussichten von Amerika und Europa – die grössten Abnehmer von „Made in China“-Produkten – düstere Vorzeichen.
Kurzfristige Priorität hat die Bekämpfung der Inflation. Mittel- und langfristig jedoch steht ein „nachhaltiges Wachstums-Modell“ zuoberst auf der Traktandenliste. Damit soll – im Parteijargon – „Chaos verhindert und soziale Stabilität hergestellt werden“, ganz im Sinne der gültigen Parteilinie einer „harmonischen Gesellschaft“. Die Kluft zwischen Reich und Arm, Stadt und Land soll einigermassen eingeebnet und die Armut definitiv besiegt werden und Ressourcen sollen „nachhaltig“, also umweltverträglich eingesetzt und verwendet werden. Mit andern Worten: das seit über dreissig Jahren erfolgreich angewendete Export-Modell soll durch eine auf Konsum, Innovation und Umweltreundlichkeit konzentrierte Volkswirtschaft abgelöst werden. Eine harte Landung – noch immer möglich – würde dieses Ziel wenn nicht verhindern so doch für die KP-Führung und das Volk weit hinausschieben.
Negative Prognose
Unterdessen erteilt Peking dem Ausland, vor allem den „vor der Pleite stehenden“ Amerikanern, volkswirtschaftliche Lektionen. Die „Global Times“, ein Ableger des Parteiorgans Renim Ribao (Volkszeitung) schwadroniert von einem „nachhaltigen wirtschaftlichen Niedergang“ Amerikas und tönt wie in uralt revolutionären Zeiten: „von China lernen“.
Jung-Unternehmer Fan Weilan, studierter Betriebswirt, nimmt alles etwas lockerer. Erst 28 Jahre alt, betreibt er ein vor vier Jahren gegründetes IT-Softwareunternehmen mit mittlerweile 17 Angestellten im Pekinger Haidian-Distrikt, dem Silicon Valley Chinas. Ultraliberal und inzwischen Mitglied der Kommunistischen Partei findet er das „Zocken mit Gratisgeld“ in Amerika auch nicht das Gelbe vom Ei. Allerdings bleibt er bei der ganzen Schuldenkrise optimistisch, weil er sich einfach nicht vorstellen kann, dass im bewunderten Amerika Politiker und Oekonomen ihre „politischen Hausaufgaben und das finanzielle Einmaleins“ nicht intus haben.
Die vor über hundert Jahren gegründete amerikanische Rating-Agentur Standard & Poors hat zum ersten Mal die Bonität der USA von AAA auf AA heruntergestuft . Die amerikanische Agentur Moody’s Investors Services und die europäische Agentur Fitch Ratings drohen erst und werden sehr wahrscheinlich bald ebenfalls AA verteilen. Die chinesische Rating-Agentur Dagong Global Credit Rating Peking ist da schon mehrere Schritte weiter. Die USA bekommen gerade mal noch die Note A+, und das mit „negativer Prognose“. Dagong-Chef Guan Jianzong trocken: „Unserer Meinung nach sind die USA bereits zahlungsunfähig“.