Überlegungen, wonach die Aufhebung von Grundrechtseinschränkungen von einem Impf- oder Immunitätsnachweis abhängig zu machen wären, geistern seit Beginn der Impfkampagne durch die Presse. Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser fordert in seiner apodiktischen Art in der Sonntagszeitung genau das. Im angelsächsischen Raum wird dieser Punkt ebenfalls diskutiert, wie CNBC berichtet. Auch Urs Meier äussert in diesen Spalten die Meinung, es werde sich irgendwann aufdrängen können, Restriktionen für Geimpfte aufzuheben und allen Gastro-, Reise-, Kultur- und Eventveranstaltern, die den Zutritt an einen Impfnachweis binden wollen, den Rücken zu stärken.
Ich halte solche Überlegungen für gefährlich und setze auf Freiwilligkeit. Niemand soll auf Grund seines Impfstatus diskriminiert werden dürfen. Warum?
Keine Rechenschaftspflicht über medizinische Behandlungen
Die offizielle Haltung von Bund und Wissenschaft zur Impfung gegen Covid-19 setzt effektiv auf Freiwilligkeit. Auch die «oberste Ärztin» der Schweiz, die neue FMH-Präsidentin Yvonne Gilli, findet es wichtig, dass die Covid-Impfung freiwillig bleibt. Sie zeigt, dass es «dem Ethos von Ärztinnen und Ärzten widerspricht, wenn von Menschen erwartet wird, dass sie Aussagen über medizinische Behandlungen und Diagnosen als politische Statements quasi als Gesinnungsbekenntnis machen sollen. (…) Niemand soll über medizinische Behandlungen Rechenschaft ablegen müssen.»
Die Impfforscherin Claire-Anne Siegrist beantwortet hier Fragen von Leserinnen und Lesern. Unter anderem bestätigt sie, dass wir noch nicht wissen, wie lange die Impfstoffe schützen und ob Geimpfte weiterhin infektiös sein können. Sie zeigt, dass für junge Menschen der Hauptgrund für die Impfung darin besteht, andere zu schützen. Ob das funktioniert, wissen wir aber noch nicht. Sie rät deshalb jungen Menschen, die zögern, sich mit dem Impfentscheid Zeit zu nehmen.
Eine Impfung aus Solidarität kann also vorläufig nicht eingefordert werden, weil nicht klar ist, ob Geimpfte weiterhin infektiös sind. Auch Christoph Berger, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen, bestätigt hier, dass das Unterbrechen der Viruszirkulation nicht das Ziel der Impfstrategie ist.
Damit wird klar, dass individuelle Impfentscheidungen zu respektieren sind und allfällige Einschränkungen von Grundrechten oder die Aufhebung solcher Restriktionen nicht von einem Impf- oder Immunitätsnachweis abhängig gemacht werden dürfen. Ich darf deshalb erwarten, dass mein Impfstatus zu den geschützten persönlichen Daten gehört und dass ich nicht diskriminiert werde, wenn ich diese nicht offenlegen will.
Ich finde es grossartig, wie schnell diese Impfung verfügbar gemacht wurde und halte es für richtig, dass sie angeboten wird. Aber die kurze Entwicklungsdauer bringt es mit sich, dass man einiges noch nicht weiss. Für die individuelle Impfentscheidung kann dies wesentlich sein.
Einschränkung von Grundrechten nicht gerechtfertigt
Solange nicht klar ist, ob Geimpfte das Virus weiterverbreiten können, solange ausserdem nicht bekannt ist, wie lange der Impfschutz dauert, und solange es fraglich ist, ob es langfristige Nebenwirklungen gibt, ist für eine Impfung der ganzen Bevölkerung die Evidenz zu dünn und sind die Grundrechte zu wertvoll. Auch die nicht unmittelbar an die Grundrechte gebundene Privatwirtschaft (Arbeitgeber, Veranstalter, Fluggesellschaften) soll konsequenterweise die Inanspruchnahme der Leistungen und den Abschluss eines Vertrages nicht von einem Impf- oder Immunitätsnachweis abhängig machen dürfen. Das gilt selbst für Medizinalpersonen, wie Yvonne Gilli eindrucksvoll begründet.
In Deutschland fürchtet Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble bereits, dass solche Einschränkungen die Gesellschaft spalten würden und spricht sich dagegen aus. Damit hat er wohl recht. In der Schweiz ist es zwar geltende Politik, dass Impfen freiwillig ist. «Ein Impf-Obligatorium ist im Gesetz nicht vorgesehen. Die Garantie dagegen ist das Gesetz», sagt Susanne Kuster vom Bundesamt für Justiz. Wenn bei einer staatlichen Leistung eine Differenzierung gemacht werden würde, müsste der Gesetzgeber zuerst aktiv werden. «Im Verhältnis zwischen Privaten gilt die Vertragsfreiheit, was zu Einschränkungen führen kann», so Kuster. «Allerdings gelten auch dort Diskriminierungsverbot und Persönlichkeitsschutz.» Soweit die heutige rechtliche Situation.
Aber angesichts der Stimmen, die Zwang oder Druck fordern, fehlt ein klärendes Wort einer Bundesrätin, eines Bundesrates à la Schäuble, oder noch besser: eine deutlichere rechtliche Regelung. Falls in der Schweiz nicht klar festgelegt wird, was geht und was nicht geht, kann ohne öffentliche Debatte und ohne politische Entscheide Druck auf das Individuum aufgebaut werden. Bei einer derart wichtigen Frage, wie es Grundrechte sind, geht das nicht. Stand heute gehört der Impfstatus zu den schützenswerten Daten, die nicht ohne Rechtsgrundlage abgefragt oder weiterbearbeitet werden dürfen. Eine gesunde Gesellschaft ist nicht nur eine virenfreie Gesellschaft, sondern auch eine Gesellschaft, die individuelle Entscheidungen respektiert, vor allem wenn sie heikle und sehr persönliche Dinge betrifft.
Nach dem Impfstatus soll deshalb nicht gefragt werden dürfen. Während es noch manueller Arbeit bedarf, ein Impfbüchlein auf Papier zu prüfen, ist es denkbar, dass zum Beispiel private Unternehmen verlangen könnten, dass alle Kunden ein Smartphone mit dem Impfausweis oder sonstigen Gesundheitsdaten vorweisen. Datenschützer Adrian Lobsiger findet, dass es «problematisch und möglicherweise schon heute illegal wäre, (…) wenn, Airlines oder Restaurants in Zukunft einen Blick ins Impfbüchlein werfen wollen, bevor sie Gäste einlassen.»
Eine Entwicklung in diese Richtung hätte ein enormes Missbrauchspotenzial. Beginnen solche sehr persönliche Daten einmal zu zirkulieren, sind sie fast nicht mehr zu schützen. Das zu verhindern ist wichtiger als kurzfristig eine etwas höhere Durchimpfungsrate zu erzielen. Zudem ist unklar, ob direkter oder indirekter Zwang mehr ausrichten würde als Menschen ins Dilemma zu stürzen.