Doch die neun vergangenen Monate sind nicht spurlos an Ägypten vorbei gegangen. Es waren nun nicht mehr die jugendlichen Revolutionäre, die das Geschehen antrieben und zu lenken suchten, sondern in erster Linie die Muslim-Brüder und ihre salafistischen Rivalen und Gesinnungsgenossen. Vor neun Monaten wurden die Militärs bejubelt. Man sah in ihnen die "Schützer des Volkes". Nun sind sie zum Ziel des Volkszorns geworden.
Will die Armee die Macht behalten?
Die Ägypter fürchten, dass die hohen Armeeoffiziere die Macht zu behalten gedenken, die sie zu Beginn der Revolution, "vorübergehend" ergriffen haben. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass dies der Fall sein könnte. Der Übergangsprozess, ursprünglich auf sechs Monate befristet, zieht sich in die Länge. Die Machtinstrumente des abgesetzten Husni Mubarak haben neue Namen erhalten, doch sie arbeiten fort - für die neuen Machthaber.
Dazu gehört auch der machtvolle staatliche Informationsapparat. Der Ausnahmezustand ist trotz aller Versprechen nicht aufgehoben sondern weiter verlängert worden. Militärgerichte urteilten Tausende von Zivilen ab. Armee-Einheiten haben sich Folterungen und Morde zu Schulden kommen lassen. Untersuchungen darüber finden nicht statt. Das Chaos im Lande und sein wirtschaftlicher Niedergang nehmen zu, ohne dass wirksame Gegenmassnahmen getroffen werden.
Wie lange noch "Übergang"?
Dies soll nach den Plänen der Offiziere immer so weiter gehen bis tief ins Jahr 2013 hinein. Erst dann ist ein Ende des von ihnen geleiteten "Übergangsprozesses" vorgesehen, der durch die Wahl eines neuen Präsidenten zum Abschluss gelangen soll. Bis dahin planen die Offiziere ihre Macht zu bewahren.
Es ist eine Art politischer Allmacht: Sie können zur Zeit Gesetze erlassen, Minister einstellen oder entlassen, sogar Verfassungsgrundsätze dekretieren. Das heisst, sie üben alle nur denkbare Macht aus, ohne irgendwem Rechenschaft abzulegen, ja ohne ihre Aktivitäten und Pläne auch nur im geringsten offen zu legen.
Nichts würde sie daran hindern, ihre "vorläufige" Machtausübung auch über das Jahr 2013 hinaus auszudehnen, falls sie dies wünschten. Sie müssten nur dafür sorgen, dass die abschliessende Präsidentenwahl weiter hinausgeschoben würde - vielleicht bis zum Zeitpunkt, an dem es ihnen gelänge, einen der Ihren zum Präsidenten wählen zu lassen. Er würde dann die Position und die Funktionen des abgesetzten Mubarak übernehmen. Die Revolution wäre vergeblich gewesen.
Die Wahlen kommen
Doch Wahlen müssen die Offiziere nun durchführen. Sie haben sich dazu allzu deutlich verpflichtet. Es sind diese Wahlen, welche die Revolution retten können, falls sie noch zu retten ist. Und es sind jene Gruppen, welche die besten Aussichten haben, durch diese Wahlen Macht zu gewinnen, die nun "das Volk" aufgerufen haben, die Revolution zu retten: die Muslimbrüder und die Salafisten.
Auch die anderen Gruppierungen zogen mit auf die Strasse, die revolutionäre Jugend, soweit sie noch nicht in den Militärgefängnissen sitzt und dort im Hungerstreik steht, die Vielfalt der liberalen und patriotischen Parteien und der weite Fächer der links gerichteten Kleingruppierungen.
Noch keine völlige Spaltung
Genügend von ihnen haben sich eingestellt, um zu zeigen, dass es den Militärs noch nicht gelungen ist, die Bevölkerung in zwei antagonistische Hauptgruppen aufzuspalten: die muslimische und die säkulare.
Die Offiziere versuchten dies, indem sie "Verfassungsgrundsätze" im Voraus festlegen wollten, welche die grossen Linien der noch zu schreibenden Verfassung niedergelegt hätten. Den säkularen Gruppen war diese Idee sympathisch, weil sie eine Garantie dafür zu bieten schien, dass die Islamisten nach einem von vielen erwarteten Wahlsieg keine allzu "islamische" Verfassung durchsetzen könnten.
Die Offiziere stellten sich bloss
Doch die Militärs überzogen ihr Spiel, indem sie in die Verfassungsgrundsätze gleich auch noch mit einschliessen wollten, dass die Armee im Ägypten der Zukunft nicht der parlamentarischen Kontrolle unterstehen werde, sondern dass umgekehrt, die Militärs eine Vormundschaft über das Parlament ausüben sollten.
Verhandlungen zwischen den säkularen Parteien und der Regierung, die als Sachwalterin der Militärs wirkt, fanden bis zum Vorabend der Demonstrationen statt. Die Parteien versuchten, das Grundsatzdokument zu bewahren, jedoch jene Teile, welche die Armee betrafen, daraus zu entfernen. Das erwies sich als unmöglich; offenbar widersprach es den Weisungen der Offiziere an die Regierung.
So haben sich alle Parteien gegen das Grundsatzdokument ausgesprochen. Ob es nun tot ist oder doch noch lebendig, weiss niemand. Falls sie es wollten, könnten die Offiziere es einseitig dekretieren. Doch dass sich dann die aus den Wahlen hervorgehende Mehrheit daran halten würde, ist unwahrscheinlich.
Der Wafd wurde "Staubsauger"
Die Wafd-Partei hat sich allerdings nicht an den Demonstrationen beteiligt. Diese Gruppierung des bürgerlichen Zentrums, die einen historisch bedeutsamen Namen trägt, hat sich nach dem Befinden der Ägypter in den letzten Wochen als "Staubsauger" betätigt. Sie hat nämlich all jene Staubkörnchen aufgesaugt und sich einverleibt, die nach der Zerschlagung der heute aufgelösten Staatspartei Mubaraks übrig geblieben waren. Das sind Reiche, die darauf abzielen, genügend politischen Einfluss zu bewahren, um reich zu bleiben und womöglich noch reicher zu werden.
Nicht alle haben bei der Wafd-Partei Unterschlupf gesucht. Andere wollen die durch die Wahlordnung gebotene Möglichkeit ausnützen, als Unabhängige in Wahlkreisen, in denen sie grossen Einfluss besitzen, gewählt zu werden. Ihre Porträts finden sich riesengross als Wahlplakate in den Geschäftszentren und den besseren Vierteln von Kairo und Alexandria.
Allgegenwart der Islamisten
Doch auch in der Wahlpropaganda wird die Übermacht der beiden islamistischen Gruppierungen deutlich. Ihre Millionen von Aktivisten bekritzeln und besprayen alle Wände und Mauern. Dies hat den Vorteil, dass auch die theoretisch verbotenen Slogans religiöser Färbung gebraucht werden können und allgegenwärtig sind. "Das Volk" hat sie hingeschrieben, die Parteien waren es nicht!
"Der Islam ist die Lösung !" Dies ist und bleibt der Slogan der Muslimbrüder. Oft findet man ihn von Hand geschrieben und unter oder über oder auch auf eines der gedruckten offiziellen Plakate gesetzt, das für "Freiheit und Gerechtigkeit" wirbt, wie die politische Partei der Muslimbrüder sich nennt.
Die Prediger der Salafisten und jene der Brüder verfehlen nicht, von der Kanzel herab für ihre Parteien zu werben. Auf dem Tahrir-Platz hatten sie für die Demonstrationen zwei gegenüberliegende Rednerbühnen errichtet, von denen aus jede Seite ihre Anhänger anfeuerte. Beide Seiten waren sich einig, die Offiziere sollten so schnell wie möglich von der Macht weichen. Doch die beiden sind auch Rivalen; jede Seite wirbt um die Stimmen der 82 Millionen Ägypter im Namen ihres Verständnisses der Religion.
Werbung mit Geschenken
Beide Gruppierungen geben viel Geld für Werbung aus. Die Salafisten erhalten es aus Saudiarabien und aus dem Golf, die Muslimbrüder mehr von ägyptischen Gönnern und solchen aus der gesamten - viel ärmeren, aber viel ausgedehnteren - islamischen Welt, denn sie haben überall ihre Zweigstellen. An die theoretisch bestehenden Grenzen für Wahlausgaben hält sich niemand, der über Gelder verfügt.
Die Wahlkommission scheint machtlos. Während des soeben gefeierten Grossen Festes zum Ende des Ramadans sind Tonnen von Fleisch an die Bedürftigen überall im Niltal verteilt worden. Sie konnten sich so ein seltenes Festessen leisten.
Geringere Sichtbarkeit der Säkularen
Die fieberhafte Aktivität und die flächendeckende Präsenz der muslimischen und islamistischen Gruppen beunruhigt die Befürworter eines säkular ausgerichteten Staatwesens. Auch die Kopten gehören zu ihnen. Doch sie sind in so viele, dermassen unterschiedlichr Kleingruppen mit persönlichen und ideologischen Gegensätzen gespalten, dass sie nur über geringe Sichtbarkeit und einen reduzierten Bekanntheitsgrad verfügen.
"Das Volk" kann sich unmöglich genügend auskennen, um unter dem Dutzend der "liberal-demokratischen" und den mehreren Dutzend der Linksparteien, geschweige denn den Tausenden von unabhängigen Kandidaten, eine informierte Wahl zu treffen.
Wer nicht für die islamischen Gruppen wählen will und nicht von vorneherein zu einer bestimmten politischen Richtung oder Gruppe gehört, hat als das greifbarste Angebot und das mit den besten Erfolgschancen, bei dem seine Stimme nicht droht, "verloren zu gehen", die Porträts der alten und reichen Tenören aus der Mubarak-Zeit direkt vor den Augen.
Eine schwarze und eine weisse Liste
Die Jugendbewegung des 6. April, die keine Partei sein will, sondern eine Bewegung, weshalb sie keine Kandidaten aufstellte, hat eine schwarze und eine weisse Liste erstellt, auf denen sie die Parteien und Individuen klassifiziert, die zu den Politikern der Mubarak-Zeit gehören (schwarz natürlich) und jenen, die neu in die Politik eingetreten sind (weiss) und die "man" wählen kann, ohne die Revolution zu schädigen.
Doch wie weit werden die einfachen Leute, 40 Prozent sind in Ägypten des Lesens unkundig, solche Listen zu Rate ziehen?
Alles wie da gewesen?
Angesichts des propagandistischen Angebots an den Hauswänden wird eine Fussgängerin mit der Bemerkung zitiert: "Man will uns wählen lassen zwischen den Muslimbrüdern und den Politikern der Mubarak-Zeit". Und noch eine andere Stimme: "Es ist alles ganz gleich wie bei früheren Wahlen. Nur dass man sich heute noch weniger auskennen kann!"
Der Wahlmarathon, der nun begonnen hat, soll in seiner ersten Etappe anderthalb Monate dauern. Dann wird die Verfassungsversammlung, Ober- und Unterhaus, gewählt sein. Nach dem Fahrplan der Offiziere soll daraufhin die Verfassung geschrieben werden, und erst wenn sie fertig gestellt sein wird, bestenfallss Anfang 2013, soll mit der Präsidentenwahl die Übergangsperiode zu Ende gehen.
Der umstrittene Zeitplan
Gemäss diesem Plan würde während der ganzen Periode die heutige Offiziersführung alle ihre Vollmachten bewahren. Auch der Notstand, unter dem sie herrscht, würde erst nach der Präsidentenwahl aufgehoben. Doch die Protestbewegung fordert eine Revision dieses Zeitplans. Sie verlangt nun eine Präsidentenwahl, sobald die Verfassungsversammlung gewählt sein wird und darauf hin den sofortigen Abtritt der Militärführung.
Dies würde den Beginn einer zivilen Regierung, freilich ohne Verfassung, auf den 12. April 2012 ermöglichen. Die Offiziere haben dazu weder "nein" noch "ja" gesagt. Es ist zu erwarten, dass die Frage einer zivilen Regierung von der nun zu wählenden Versammlung erneut aufgeworfen werden wird. Sie könnte anführen, dass sie nun souverän sei, nicht mehr die Militärführung. Die dann zu erwartende Auseinandersetzung könnte sehr wohl die Zukunft der ägyptischen Revolution entscheiden.