Anstatt die Macht, wie sie versprochen hatten, nach der ägyptischen Präsidentenwahl abzugeben, haben die ägyptischen Militärführer am 17. Juni die Macht, die sie bisher ausübten, weiter gefestigt. Dies war ein Staatsstreich. Aber er ging ohne die üblichen Zeichen vonstatten. Es gab also keine "Erklärung Nr. 1", keine Besetzung der Fernseh- und Radiostationen und keinen Truppenaufmarsch.
Ein Staatsstreich ohne Fanfare
Dies alles war unnötig. Die Militärführung übt ja schon seit fast anderthalb Jahren die wirkliche Macht aus. Sie hat einfach ein paar Konkurrenten ausgeschaltet, die in der Zukunft hätten gefährlich werden können - in erster Linie das Parlament. Dieses war gewählt und tagte seit Januar dieses Jahres, doch es besass noch keine wirkliche Macht. Die Militärführung hatte sich im Januar 2011 die meisten Vollmachten des abgesetzten Präsidenten Mubarak angeeignet. Sie beanspruchte, an Stelle des Präsidenten die Gesetze des Parlamentes zu bewilligen oder abzulehnen.
Die Wahl eines Präsidenten hätte diese Lage geändert. Er hätte nun statt der Militärführung die Gesetze des Parlamentes bestätigen oder ans Parlament zurückweisen können. Statt dessen wurde das Parlament schlicht und einfach aufgelöst - und Soldaten stehen davor.
Bisher sass Scaf, die Militärführung, gewissermassen auf dem Thron des abgesetzten Präsidenten; ein neuer Präsident wurde gewählt, und Scaf liess sich daraufhin in den Sesseln der verjagten Parlamentarier nieder. Eine Rochade fand statt, die an jene Putins und Medvedevs erinnert, die einander als Präsident und Ministerpräsident ablösen.
Das Verfassungsgericht als Komplize
Der Schachzug wurde erleichtert und oberflächlich legitimiert durch ein Urteil des Verfassungsgerichtes, das das Wahlgesetz, nach dem das Parlament - unter der Aufsicht von Scaf - gewählt worden war, als verfassungswidrig einstufte. Das hat dem Militärrat die Auflösung des Parlamentes erlaubt. Er hätte auch nur jenes Drittel des Parlamentes entlassen und neu wählen lassen können, das unter dem Aspekt des Wahlgesetzes gewählt worden war, an dem die Verfassungsrichter Anstoss nahmen. Doch er zog vor, das ganze Parlament aufzulösen.
Die Richter erklärten das Wahlgesetz als verfassungswidrig, weil es im Falle des Drittels der als Unabhängige zu wählenden Kandidaten auch Parteikandidaten zuliess. Dies verletze die Chancengleichheit der Kandidaten, befand das Gericht. Mit dem gleichen Argument könnte man auch die Nichtigkeit der Schweizer Parlamente fordern. Auch bei uns konkurrieren Parteikandidaten und Unabhängige mit ungleichen Chancen.
Scaf beinahe allmächtig
Doch Scaf ging weiter. Die Militärs legten auch fest, über welche Macht der neue Präsident gegenüber ihnen, in ihrer Position als Ersatz des aufgelösten Parlamentes, verfüge und welche Vollmachten sie für sich selbst behalten wollten. Wie zu erwarten, fiel diese Festlegung zu Ungunsten des Präsidenten aus.
Der Präsident darf nach dieser neu dekretierten Ordnung Minister ernennen und entlassen, ausgenommen den Verteidigungsminister, bei dessen Ernennung die Offiziere mitreden wollen. Der Präsident kann auch keine Heereskommandanten ernennen und nur Krieg erklären, falls die Offiziersführung zustimmt.Das staatliche Budget muss der Militärführung vorgelegt und mit ihr ausgehandelt werden. Das Militärbudget ist Sache der Militärführung.
Militärischer Eigenbereich
Dabei muss man wissen, dass in Ägypten das Militärbudget die Industrieunternehmen und anderen Geschäfte der Militärführung mit einschliesst. Niemand ausserhalb der Armee weiss genau, wie gross diese Unternehmen sind. Die Schätzungen bewegen sich zwischen 20 und 40 Prozent des Nationaleinkommens.
Da sie nun die Sessel der Parlamentarier einnehmen, können die Militärchefs natürlich auch Gesetze erlassen. Ob der Präsident diese blockieren kann, geht nicht klar aus den neuen Anordnungen hervor. Es bleibt ihm jedoch eine repräsentative Funktion als Staatsoberhaupt.
Verfassung unter Aufsicht von Scaf
Mit alldem ist noch nicht genug. Die Offiziere haben auch für die Zukunft vorgesorgt. Sie werden entscheidend mitreden bei der Formulierung der kommenden Verfassung und bei der Ernennung der Mitglieder der seit Monaten umstrittenen Verfassungsversammlung, welche die dritte sein wird, die zu ernennen wäre.
Ein Mechanismus wurde dekretiert, der es erlauben soll, die Beschlussfassung der Konstituante zu blockieren und gegebenenfalls vom Gericht beurteilen zu lassen, falls der beanstandete Artikel nach Befinden des Oberhauptes von Scaf »den Zielen der Revolution widerspricht oder anderen Grundsätzen, die in allen früheren Verfassungen Ägyptens bestehen«. Neuwahlen für das nächste Parlament werden erst stattfinden, so das Dekret von Scaf, nachdem die neue Verfassung formuliert und vom Volk angenommen sein werde.
Auch hier ist eine bemerkenswerte Umkehr in den Weisungen von Scaf festzustellen. Ursprünglich, vor März 2011, waren es die Generäle, die zuerst die Wahl eines Parlamentes, dann die Formulierung einer Verfassung gefordert hatten. Damals hatten sie diese Reihenfolge dem Volk vorgeschlagen, und sie war mit Zustimmung der Muslimbrüder plebiszitiert worden.
Ein Sicherheitsrat voller Offiziere
Zusätzlich hat Scaf in einer separat veröffentlichten Anordnung einen Sicherheitsrat dekretiert, welchem der Präsident vorsitzen soll - doch seine Mitglieder werden elf Militärkommandanten und fünf Zivilisten sein. Die Zuständigkeit dieses Rates und die Verbindlichkeit seiner Beschlüsse sind nicht näher umschrieben. Er wird für Sicherheitsfragen zuständig sein. Als solche können fast alle politischen Grundfragen gelten, wenn man die Sicherheit nur umfassend genug definiert.
Im gegenwärtigen Augenblick weiss man noch nicht mit Gewissheit, wer Präsident werden wird. Die Muslimbrüder haben bereits ihren Sieg gefeiert. Die meisten inoffiziellen Quellen stimmen ihrer Beurteilung zu. Doch die Anhänger des Generals Ahmed Schafik haben den Siegsanspruch der Brüder empört zurückgewiesen. Die Muslimbrüder versuchten die Ägypter durch ihre Siegsfeiern "zu terrorisieren", erklärte Schafik. Die Wahlkommission will das offizielle Resultat erst am Donnerstag publizieren.
Doch was man heute schon weiss, ist, dass Scaf sich die Mittel gegeben hat, um diesen künftigen Präsidenten zu bevormunden. Wahrscheinlich werden die Generäle diese Mittel resoluter anwenden, wenn wirklich Mohammed Morsi, der Mann der Muslimbrüder, zum Sieger erklärt wird, und etwas milder, wenn es doch noch Schafik sein sollte, einer der Ihren.
Ankündigung von Widerstand
Die Parteien der Muslim Brüder, der Salafisten, aber auch viele der revolutionären Gruppen haben erklärt, sie wollten sich das Vorgehen der Militärs nicht bieten lassen. Dieses sei illegal und laufe auf einen Putsch hinaus. Parlamentssprecher Katatni hat die Parlamentarier aufgerufen, sich doch zu versammeln, wenn nicht in dem zugesperrten Parlament im Lokal des Senates, der nicht aufgelöst wurde, oder wenn alles fehle, auf dem Tahrir Platz.
Auf dem Platz sollen wieder Massenproteste stattfinden, die auf den Dienstagabend angesagt sind. Wie gross sie werden, ist ungewiss. Die Ägypter sind der Demonstrationen müde und von den Resultaten, die sie erbracht haben, bitter enttäuscht. Sie wissen auch, dass es gefährlich sein wird, sich mit der Armee einzulassen. Unmittelbar vor ihrem Putsch haben sich die Offiziere mittels eines Dekrets des von ihnen ernannten Justizministers der Armeepolizei Vollmachten erteilen lassen, die ihnen erlauben - unter überaus locker umschriebenen Anschuldigungen, also praktisch nach Belieben - Zivilisten festzunehmen. Was diesen nachher passiert, wissen die Ägypter sehr wohl.
Misstrauen statt Einigkeit
Noch schwerer aber als dies alles zusammen wiegt für die Demonstranten, dass die Ägypter heute in zwei Haupthälften gespalten sind: Säkulare und Muslime, und diese zwei Hälften nochmals unterteilt in Säkulare des alten Regimes und solche der Revolution; sowie in Muslime der Muslim-Brüder und solche der Salafiya.
Von diesen vier Vierteln werfen drei einander mit grosser Bitterkeit vor, sie hätten sich gegenüber den anderen unsolidarisch verhalten und durch ihren Egoismus die Revolution ins Verderben gebracht, indem sie verhinderten, dass die volle Macht der ägyptischen Strasse gegen Scaf eingesetzt werden konnte. Das vierte Viertel versucht ohnehin, die Revolution zum Scheitern zu bringen.
Das vorläufige Ende der Revolution?
Ist dies schon gelungen? - Jedenfalls ist man wieder fast auf dem Nullpunkt angelangt. Es gibt noch eine demokratische Symbolfigur, den neu gewählten Präsidenten, falls dies der Muslimbruder Morsi sein wird.
Doch es gibt auch schon eine Klage vor dem Verwaltungsgericht, die darauf abzielt, die Partei der Brüder zur illegalen Partei zu erklären. Vielleicht wird über diese Klage bald entschieden werden. Doch möglicherweise bleibt sie auch vorläufig unentschieden als eine Art Damoklesschwert, das über der Bruderschaft hängt und jederzeit auf sie hinabstürzen kann, wenn sie sich weiter aufsässig zeigt.
Für den Augenblick haben die Offiziere, gewissermassen als Zückerchen, dem kommenden und von ihnen präventiv entmachteten Präsidenten eine grosse und feierliche Inauguration auf den 30. Juni versprochen. Sie soll zeigen, wie ein Militärsprecher erklärte, dass Ägypten nun eine "moderne Demokratie" geworden sei.