Wir sind gar nicht so smart, wie wir meinen, sagen sie uns, wir sind ein Knäuel aus Instinkten und Vorurteilen, unser Blick auf die Welt ist von kognitiven Verzerrungen heimgesucht - kurz: die sogenannte Vernunft, auf die wir uns so viel zugute halten, ist bestenfalls eine schöne Verpackung für einen eher dunklen Inhalt voller Torheiten.
Zweifel am Homo oeconomicus
Die gegenwärtige Skepsis gegenüber der menschlichen Rationalität speist sich zu einem beträchtlichen Teil aus der sogenannten Verhaltensökonomik, zumal seit Daniel Kahnemanns viel gelesenem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ (2011), das uns das Misstrauen in den vernünftigen Homo oeconomicus im Besonderen, in den Menschen im Allgemeinen lehrte. Autoren wie etwa David Mc Raney („Ich denke, also irre ich“, 2012) oder Jonathan Haidt – auf dem Feld der Moral („The Righteous Mind“, 2012) - arbeiten eifrig an einem neuen Mosaik des Menschen als eines Homo irrationalis, eines von Intuition und Instinkten gesteuerten Wesens. Die Verehrung der Vernunft, so Haidt, ist das „Beispiel für den Glauben in etwas, das es nicht gibt.“ Analog zum Atheismus könnte man also vom Arationalismus sprechen.
Die spieltheoretische Vernunft
Ist der Mensch „im Grunde“ irrational? Das ist keine gute Frage, aber sie akzentuiert ein Grundproblem: Man muss eine Vorstellung rationalen Handelns haben, und erst dann lassen sich Abweichungen als „irrational“ bezeichnen. Rationalitätskonzepte beinhalten immer - explizit oder implizit - Menschenbilder. Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts hat sich durch die Entwicklung der mathematischen Spiel- und Entscheidungstheorie ein Modell zum Paradigma der Wirtschaftswissenschaften aufgeschwungen: das Modell des Homo oeconomicus als des rational abwägenden Menschen. „Rational“ kalkuliert nach diesem Paradigma eine Person dann, wenn sie den Eigennutzen maximiert. Aber schon das klassische spieltheoretische Beispiel des sogenannten Gefangenen-Dilemmas zeigt, dass Handeln aus Eigeninteresse zu suboptimalen Entscheidungen führen kann. Zwei Komplizen einer Straftat sitzen voneinander isoliert in Untersuchungshaft, der eine weiss nicht, was der andere tut. Gestehen beide, beträgt die Strafe vier Jahre Haft. Gesteht der eine, der andere aber nicht, führt dies beim ersten zur einjährigen Mindest-, beim zweiten zur sechsjährigen Höchststrafe. Gestehen beide nicht, bekommen sie zwei Jahre Haft. Das wäre, objektiv gesehen, der optimale Nutzen für jeden. Aber in der geschilderten Situation „menschelt“ es. Wenn der eine nicht gesteht, kann er nicht sicher sein, dass der andere dasselbe tut. Aus dieser misstrauischen Eigenperspektive heraus entscheiden sie sich für das Gestehen, handeln in diesem Sinne also nicht „rational“.
Das Linda-Problem
Kahnemann und seinem Kollegen Amos Tversky ging es primär um falsche Entscheidungen aus Voreingenommenheit, oder wie es im Fachjargon heisst: aus kognitiver Verzerrung (Bias). Berühmt geworden ist das „Linda-Problem“. Und schon hier stellt sich die Frage: Was heisst eigentlich „falsch“? In einem Experiment gab man den Probanden folgende Information: Linda ist eine Frau von 31 Jahren, Single, offen und ein helles Köpfchen. Sie hat einen Abschluss in Philosophie. Als Studentin engagierte sie sich in Fragen der sozialen und rassischen Diskriminierung und nahm an Anti-Nuklear-Demonstrationen teil. Daraufhin stellte man den Probanden die Frage: Ist es wahrscheinlicher, dass Linda Bankangestellte oder dass sie zugleich Bankangestellte und Feministin ist? Wer auf die erste Antwort tippt, liegt richtig, denn in beiden Fällen ist Linda ja Bankangestellte. Dennoch tendiert die Mehrzahl der Befragten dazu, die zweite Option als wahrscheinlicher zu betrachten. Urteilen sie falsch? Nicht unbedingt. Logisch gesehen, sind die biografischen Daten über Linda zur Beantwortung der Fragen irrelevant. Aber die wenigsten von uns handeln im Alltag logisch im strikten Sinne des Wortes. Es erscheint durchaus „rational“, die Daten als irgendwie repräsentativ für Linda zu betrachten. Jene Befragten, die für die zweite Antwort optierten, liegen nicht falsch, wenn sie aus Gründen biografischer Plausibilität schliessen, dass Linda eher Bankangestellte und zugleich Feministin ist. Boshafterweise könnte man sagen, dass man in ihnen mit den Informationen überhaupt erst jene kognitive Verzerrung hervorruft, die man dann nachzuweisen sucht.
Zu Entscheidungen anschubsen
Anders gesagt: man „schubst“ sie mittels ausgewählter Informationen zu einer bestimmten Entscheidung an. Das erweist sich im heutigen Konsumuniversum als von zentraler Bedeutung. Denn in ihm sind wir permanent mit gösseren und kleineren Entscheidungen konfrontiert: Essen, Kleidung, Auto, Handy, Sportart, Mobiliar, Ferienort, Arzt, Krankenkasse, Altersvorsorge, Stromanbieter, Netzserver, Politiker – immer haben wir die Wahl. Das Angebot der Wahlmöglichkeiten wächst stetig und ihre „Schubser“ versetzen uns quasi in einen metastabilen Dauerzustand, in dem wir riskieren, vor lauter Möglichkeiten das Gleichgewicht zu verlieren, das heisst nicht zuletzt: uns von falschen Entscheidungen leiten zu lassen. Um aus ihnen zu lernen, hat der amerikanische Rechtswissenschafter Cass Sunstein eine neue Politik vorgeschlagen, die er mit dem Begriff des „Schubsens“ („Nudge“) umschreibt. Die Schubs-Politik scheint bei Regierungen durchaus Anklang zu finden. Barack Obama berief Sunstein zum Berater (2009 bis 2012). Die britische Regierung baute ein „Behavioral Insights Team“ auf - informell bekannt auch unter dem hübschen Namen „Schubser-Einheit“ („Nudge Unit“). In Frankreich, Australien und Brasilien trägt man sich mit ähnlichen Plänen.
Aufgeschlossener Paternalismus
Auf den ersten Blick hat diese Politik durchaus etwas für sich. Wir alle handeln oft auf eine Weise, die wir bei eingehender Abwägung vermieden hätten. Wir essen zu fett und trinken zuviel Alkohol, verschieben die Vorbereitungsarbeiten für eine Prüfung, kaufen immer nur teure Markenkleider, werfen Esswaren mit noch nicht verfallenem Datum in den Abfall, halten Verabredungen nicht ein ... Solche Unvernünftigkeiten sind alltäglich. Meist haben wir schlicht keine Zeit, uns auf ausgeklügelte Erwägungen einzulassen. Könnte uns da nicht eine entsprechend gestaltete Umgebung – eine „Entscheidungsarchitektur“ - helfen, das „Vernünftige“ zu tun? Eine Schulmensa präsentiert zum Beispiel gesunde Esswaren auf Augenhöhe der Schüler, während sie Junkfood in eine weniger sichtbare Ecke relegiert - eine einfache Entscheidungarchitektur. Ihr Prinzip: Nimm eine Schwäche der Schüler – Trägheit der Aufmerksamkeit, die sich vor allem auf direkt vor den Augen Liegendes richtet – , verbinde sie geschickt mit einem Entscheidungsdesign – Anordnung des Essens - , und die Schüler werden in Richtung „richtigen“ Essverhaltens geschubst. Auf eine ähnliche Weise liessen sich die Bürger eines demokratischen Systems für gute Zwecke schubsen, für Organspenden, Unterstützung von öffentlichen Bibliotheken in der Dritten Welt, eine CO2-ärmere Lebensart oder den Kauf von Fair-Trade-Produkten.
Schubsen setzt also bei menschlichen Schwächen – Gewohnheiten, Stereotypien, Trägheiten – an, es versucht sie nicht primär zu korrigieren, sondern bloss sanft in eine gewünschte Richtung zu lenken. Die Wahl hat nach wie vor das Individuum. Schubsen liegt zwischen den Polen des regulatorischen Zwangs (Gurtenobligatorium) und der emanzipatorischen Entscheidung aus eigenen Stücken (Spende an UNICEF). Wenn Sunstein in diesem Zusammenhang von „aufgeschlossenem Paternalismus“ spricht, dann meint er den emanzipatorischen und nicht den regulatorischen Pol. Das heisst, letztlich dient Schubsen der Stärkung der individuellen Urteilsfähigkeit.
Und was ist mit den Schubsern?
Das ist das Best-Case-Szenario. Wie aber steht es mit der Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz der Schubser? Gerade angesichts des Manipulationspotenzials heutiger Technologie sind grosse Zweifel angebracht. Es klingt schon fast rührend, wenn Sunstein uns versichert, dass Regierungen Berater wie ihn beschäftigen, die, edel gesinnt, verschiedene Alternativen eines politischen oder ökonomischen Kurses durchrechnen, ganz um des Bürgerwohls willen. Wenn uns also eine öffentliche Politik zu einem vernünftigen Verhalten anschubsen will, dann ist es immer angezeigt, zu fragen: Wessen Vernunft? Die Vernunft einer Elite oder die Vernunft des individuellen Bürgers? Die Historikerin Barbara Tuchmann schrieb schon 1984 ein Buch über die Torheit der Regierenden. Und der Moralphilosoph Alasdair MacIntyre meldete seine Zweifel etwa zur selben Zeit an: „Dem Konsumenten, dem Wähler, dem Individuum im Allgemeinen wird das Recht zugestanden, seine Präferenzen in einem Angebot von Alternativen zu äussern, das Spektrum diese Wahlmöglichkeiten wird hingegen gesteuert von einer Elite. Selbst die Präsentation der Alternativen wird von der Elite kontrolliert. Entsprechend hoch wertet (sie) im liberalen System (..) die Kompetenz der überzeugenden Präsentation von Wahlmöglichkeiten – das heisst, die Kompetenz in den kosmetischen Künsten.“
Autonomie und Würde
Die Anthropologie des Schubsens ist von einem Rationalitäts-Pessimismus geprägt: Der Kunde reagiert weniger auf Argumente, als auf Anreize. Das mag in vielen Fällen zutreffen, aber die Schubs-Psychologen erheben diesen Satz zum Axiom, zum Glaubensartikel. Er ist nicht empirisch zu bestätigen, sondern begründet einen Typus von Empirie, die im menschlichen Verhalten vorab „Torheiten“ sucht. Schubsen ist Torheits-Management. Das hat etwas Beleidigendes. Man nimmt mich nicht als Subjekt wahr und ernst. Vielleicht schubse ich mich ja selbst, aber dieses Schubsen ist ein Akt der Autonomie, dem ein gewisses Nachdenken und Erwägen vorausging. Kant nannte diesen Akt Handeln aus Einsicht, im Gegensatz zum Handeln nach Regeln. Ersteres ist die Grundlage des mündigen Subjekts, in Politik und in Wirtschaft. Wir mögen nicht so smart sein, wie wir meinen; aber doch immerhin smart genug, den Unterschied zwischen beiden Handlungsarten zu bemerken. Dieses Unterscheidungsvermögen bildet die Basis einer (noch zu schreibenden) Kritik der konsumatorischen Vernunft.
Man möchte Sunstein gerne glauben, wenn er beteuert, dass Schubsen im Dienst der menschlichen Autonomie und Würde stehe. Nichtsdestotrotz manifestiert sich darin eine gegenläufige Tendenz der externen Beeinflussung, als deren Worst-Case-Szenario die Skinnerbox in Sicht kommt: Das ganze Konsumuniversum der permanenten alltäglichen Entscheidungen als das Labyrinth von Laborratten, die ein Schubser in die gewünschte Richtung lenkt. Nur zum Besten des Konsumenten, versteht sich. Vergessen wir die Warnung Kants nicht: „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d.i. eine väterliche Regierung, wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich und schädlich ist, sich bloss passiv zu verhalten genötigt sind (..), ist der grösste denkbare Despotismus.“