Die Angriffe des iranischen Militärs auf Stützpunkte der belutschisch-sunnitischen Separatistengruppe Jaish al-Adl («Armee der Gerechtigkeit») in der pakistanischen Provinz Belutschistan und die Gegenangriffe der pakistanischen Luftwaffe auf Stützpunkte der Belutschischen Befreiungsfront im Iran nahe der pakistanischen Grenze lassen vermuten, dass Iran wie Pakistan sich belutschisch-sunnitischer Proxygruppen bedienen, um den schwelenden Konflikt um die zwischen Iran und Pakistan geteilte Welt der Belutschen zu kontrollieren.
Vieles in der Konfliktstruktur erinnert an die Auseinandersetzungen in Kurdistan, wo Iran ebenfalls kurdische Separatisten wie die PKK im Irak und in der Türkei unterstützt, gleichzeitig aber kurdische Separatisten im iranischen Kurdistan massiv bekämpft. Noch ist die Situation in Kurdistan für Iran und die Türkei kontrollierbar. Ob dies auch in Belutschistan gelingt, ist fraglich.
Der «rehabilitierte» Krieg
Der belutschische Separatismus ist weniger ideologisch geprägt als der kurdische. Zudem ist der Territorialkonflikt zwischen Pakistan und Iran wesentlich ausgeprägter und profilierter als der zwischen Iran und der Türkei. Ein offener Krieg zwischen dem iranischen und dem pakistanischen Militär ist bislang eher unwahrscheinlich. Allerdings haben sich die Rahmenbedingungen für kriegerische Auseinandersetzungen seit dem russischen Angriff auf die Ukraine, der den Krieg als Mittel zur Durchsetzung imperialer Interessen «rehabilitiert» hat, deutlich verändert. Es wird also darauf ankommen, ob Iran den Konflikt zur Durchsetzung eigener imperialer Ambitionen nutzt und ob Pakistan einem solchen imperialen Anspruch gewissermassen proaktiv zuvorkommen will.
Der Angriff der iranischen Revolutionsgarden auf das «Hauptquartier» der sunnitisch-balutschischen Separatistengruppe Jaish al-Adl scheint darauf hinzudeuten, dass die Iraner diese Separatistengruppe für den Anschlag in Kerman am 3. Januar verantwortlich machen. Der Anschlag richtete sich gegen die Trauerprozession anlässlich des vierten Todestages des Obersten Kommandanten der al-Quds-Brigaden der Revolutionsgarden, Qassem Soleimani, im Januar 2020 und damit vermutlich direkt gegen die Revolutionsgarden. Darüber hinaus bekannte sich die Gruppe zu einem Anschlag auf eine Polizeistation in Sistan-Belutschistan im Dezember 2023, bei dem mindestens 11 iranische Polizisten getötet wurden, und übernahm die Verantwortung für einen tödlichen Anschlag auf einen in Sistan stationierten Oberst der Revolutionsgarden.
Iranisch-schiitischer Nationalismus
Sistan-Belutschistan ist die ärmste der 31 Provinzen Irans. Die grosse Mehrheit der 2,5 Millionen Einwohner sind sunnitische Belutschen, eine Minderheit bilden schiitische, iranischsprachige Sistanis. Dass die Provinz 1986 von Belutschistan-Sistan in Sistan-Belutschistan umbenannt wurde, sehen viele Belutschen als Zeichen dafür, dass die Islamische Republik einen iranisch-schiitischen Nationalismus in der Region durchsetzen will. Die Region steht seit 1896 unter iranischer Oberhoheit. Die flächenmässig fast doppelt so grosse pakistanische Provinz Belutschistan ist ethnisch stärker differenziert. Je ein Drittel der Bevölkerung sind Belutschen und Paschtunen. Die Geschichte des belutschischen Separatismus reicht bis in die Gründungszeit Pakistans 1947/8 zurück und hat nach 2003/4 sowohl im Iran als auch in Pakistan stark an Bedeutung gewonnen.
Auf pakistanischer Seite sind heute fünf grössere säkular-nationalistische Separatistengruppen aktiv. Die bedeutendste dürfte heute die im Jahr 2000 gegründete Belutschische Befreiungsarmee sein, deren Hauptquartiere in Pakistan das Ziel iranischer Drohnen- und Raketenangriffe war. Daneben gibt es eine Vielzahl kleinerer konfessioneller Separatistengruppen, die vor allem in der iranischen Provinz Sistan-Belutschistan operieren. Fast alle wurden 2012/13 gegründet. Eine der wichtigsten Gruppen ist die ebenfalls 2012 geschaffene Separatistengruppe Jaish al-Adl, die gezielt Einheiten der Islamischen Revolutionsgarden angreift. Am 13. Februar 2019 wurden bei einem Selbstmordanschlag der «Gerechtigkeitsarmee» in der Strasse Khash-Zahedan in der iranischen Provinz Sistan-Belutschistan 27 Angehörige der Revolutionsgarden getötet.
Es gibt Hinweise, dass die Gruppe Kontakt zur in Afghanistan verbliebenen, auf vielleicht 400 Mann geschrumpften al-Qaida unterhält. Die «Gerechtigkeitsarmee» rekrutiert sich vor allem aus Angehörigen der militanten salafistischen Gemeinschaft Jundallah («Soldaten Gottes»), die 2011 aufgelöst wurde, nachdem ihr Anführer im Jahr zuvor im Teheraner Evin-Gefängnis hingerichtet worden war. Noch stärker einem puritanischen religiösen Ethnonationalismus verpflichtet ist die Gruppe «Ansar al-Furqan» (Partisanen des Furqan), die sich ähnlich wie die Taliban in Afghanistan zu einem Sammelbecken religiös motivierter Militanz entwickelt hat. Insgesamt dürften den im Iran aktiven konfessionell-separatistischen Gruppen zwei- bis dreitausend Militante angehören, während die in Pakistan agierenden eher säkular ausgerichteten Nationalisten von einer breiteren Bevölkerungsschicht getragen werden. Die Auseinandersetzungen in der iranischen Stadt Zahedan, einem politischen Zentrum der iranischen Belutschen, im Anschluss an die Proteste nach der Ermordung von Jina Mahsa Amini in den Jahren 2022/2023 haben dem Separatismus in Belutschistan weiteren Auftrieb gegeben.