In der Nacht zum Donnerstag ist der frühere amerikanische Aussenminister Henry Kissinger im Alter von über 100 Jahren gestorben. Es dürfte schwer sein, unter Politikern und Historikern eine ähnlich illustre Karriere vom Flüchtlingskind aus Europa zum zeitweiligen Dominator der US-Aussenpolitik und später zum weltweit begehrten Elder Statesman und Ratgeber zu finden.
Kissinger kam 1923 im bayerischen Fürth als Kind einer mittelständischen jüdischen Familie zur Welt. Auf der Flucht vor dem Nazi-Regime kam er als 15-Jähriger mit seiner Familie in New York an. Sechs Jahre später kehrte er als amerikanischer Soldat ins kurz vor der Niederlage stehende, zerstörte Deutschland zurück. Er blieb drei Jahre im Dienste der US-Army dort, wo er für Ausbildungs- und Aufklärungsausgaben eingesetzt wurde.
Von Harvard zur grossen Bühne der Weltpolitik
Nach der Rückkehr in die USA begann Kissinger ein Geschichtsstudium an der Harvard-Universität. Schon als junger Professor wurde er von den demokratischen Präsidenten Kennedy und Johnson mit gelegentlichen Beratungsaufgaben betraut. Schon damals soll Kissinger durch seinen robusten Ehrgeiz aufgefallen sein. Sein erster einflussreicher Mentor war der republikanische Politiker und Präsidentschaftsanwärter Nelson Rockefeller, der später unter Präsident Ford zum US-Vizepräsidenten ernannt wurde.
Präsident Nixon ernannte Kissinger 1968 zu seinem Sicherheitsberater im Weissen Haus, womit sein Auftritt auf der grossen Bühne der Weltpolitik begann. Das Zweigespann Nixon-Kissinger inszenierte eine spektakuläre Öffnung der zuvor blockierten Beziehungen zum kommunistischen China. Dieser Schachzug erleichterte wiederum die Bemühungen um eine Beendigung des verhängnisvollen Vietnam-Krieges und den Ausbau der sogenannten Détente mit dem damaligen Supermachtrivalen Sowjetunion. Kurz vor Nixons erzwungenem Rücktritt wegen der Watergate-Affäre übernahm Kissinger formell das Amt des US-Aussenministers, das er auch unter Nixons Nachfolger Ford inne hatte. Bis ins höchste Alter unterhielt er als Elder Statesman, Autor gewichtiger politischer Bücher, Redner und gut bezahlter Ratgeber (er gründete die Firma Kissinger Associates) Kontakte zu führenden Politikern und Wirtschaftsmagnaten in aller Welt.
Lob und Tadel für sein politisches Wirken
An Kritik an Kissingers Denken und an seinen Entscheidungen als Leiter der amerikanischen Aussenpolitik hat es nie gefehlt – besonders heftig etwa im Zusammenhang mit dem Sturz von Allendes Linksregierung in Chile und bei der geheim gehaltenen Bombardierung Kambodschas während des Vietnamkrieges. Sein Biograph Walter Isaacson berichtet, dass Kissinger 1988 bei einem Treffen mit Nobelpreisträgern in Paris vom argentinischen Menschenrechtler Adolfo Pérez Esquivel scharf angegriffen wurde. Der Angegriffene erklärte, es sei einfach für Friedensaktivisten, auf einer perfekten Welt zu bestehen. Aber der Politiker, der sich mit den harten Realitäten auseinandersetzen müsse, könne nur das bestmöglich Machbare zustande bringen und nicht die perfekte Lösung, die sich die Idealisten an den Seitenlinien vorstellten.
«Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte», heisst es in Schillers «Wallenstein» über den böhmischen Feldherrn im Dreissigjährigen Krieg. Wie weit dieses Urteil nach seinem Tod und mit mehr zeitlichem Abstand auch für Henry Kissinger weiter gelten wird, lässt sich schwer voraussagen. Zu seinen nachhaltigeren Leistungen dürften wohl auch einige lesenswerte Bücher aus seiner unermüdlichen Feder zählen – etwa über China oder seine Memoiren als Sicherheitsberater und US-Aussenminister.
Bemerkenswert ist jedenfalls, dass unter den höchst diversen Nachrufen, die so kurz nach Kissingers Tod im Internet nachzulesen sind, die offiziellen Verlautbarungen Pekings und Moskaus durch ihren respektvollen, ja geradezu warmherzigen Duktus auffallen. Sein Tod, schreibt der chinesische Botschafter in Washington, sei ein «enormer Verlust für unsere beiden Länder und die Welt». Kissinger werde «in den Herzen des chinesischen Volkes als ein hochgeschätzter Freund immer lebendig bleiben». Und Russlands Präsident Putin schrieb laut Agenturberichten an Kissingers Witwe Nancy, der Name des Verstorbenen stehe für eine «pragmatische aussenpolitische Linie» in den 1970er Jahren, die wichtige amerikanisch-sowjetische Abkommen ermöglicht habe.
Besonders eingeprägt hat sich mir die Rede, die der hochbetagte Kissinger an der Trauerfeier für seinen alten Freund Helmut Schmidt 2015 auf Deutsch in Hamburg gehalten hat.