Kürzlich sah ich eine internationale Statistik, die für 2015 weltweit 143 Todesfälle beim „Selfie-Schiessen“ feststellte. Über die Hälfte der Opfer waren Inder. Ich war nicht erstaunt, denn die Zahl bestätigte lediglich eine lange persönliche Erfahrung. Auf die Gefahr einer Pauschalisierung wage ich zu behaupten, dass „die“ Inder es mit dem Leben nicht so genau nehmen – und zwar mit dem eigenen wie dem anderer Menschen.
Drastischer Vergleich mit Deutschland
Soeben hat das National Crime Records Bureau für 2015 die Zahl der Unfälle im Strassenverkehr veröffentlicht. Sie erreicht eine knappe halbe Million – 496‘762. Rund ein Viertel der Unfälle, 180‘000, verlief tödlich. Wenn nur ein Prozent davon Terror-Opfer wären, würde dies den nationalen Notstand auslösen.
Drei Verkehrstote alle zehn Minuten. Damit hat Indien zumindest bei diesem Vergleich beinahe mit dem asiatischen Rivalen China gleichgezogen. Die Tatsache, dass auf indischen Strassen weit weniger Fahrzeuge rollen als in China (30 gegenüber 170 Millionen) macht Indien dennoch zu einem Rekordhalter. (Noch drastischer wäre ein Vergleich mit Deutschland. Dort sind mit rund 45 Mio. PkWs 50 Prozent mehr Fahrzeuge angemeldet als in Indien. Die Zahl der deutschen Opfer: 4‘000).
Fünf Mitfahrer auf einem Roller – warum nicht?
Die Behörde macht die üblichen Gründe geltend, indem sie die Examensnoten der Weltgesundheitsorganisation übernimmt, die Indien zum schlechten Schüler stempeln: Durchsetzung von Geschwindigkeitskontrollen: 3 von 10 Punkten, Helm-Tragen: 4/10, Fahren im Rausch: 4/10, Angurten: 4/10. Viele Beobachter des Landes würden sagen: Indien kommt mit dieser Bewertung noch gut weg.
Unter dem Strich hätte die UNO noch weiteres Fehlverhalten erwähnen können, das in Verkehrsvorschriften eher ein Angebot als eine Vorschrift sieht: Das Beachten der Ampeln etwa; oder das Überladen der Fahrzeuge. Zwölf Passagiere in einem Ambassador? Kein Problem. Fünf Mitfahrer auf einem Roller? Warum nicht? Es ist eh ein Familienfahrzeug.
Blick auf den Eisenbahnverkehr
Letzthin sah ich in Alibagh einen Three-Wheeler, der statt der zugelassenen drei Personen fünfzehn Schulkinder geladen hatte. Auch Erwachsene kann man oft links und rechts des Fahrersitzes sehen, wenn’s hinten voll ist. Bum Share heisst das hier, und kostet nur die Hälfte des Fahrpreises.
Doch dieser lockere Umgang mit Verkehrsvorschriften ist ja nur der unmittelbarste Anlass für die enorme Zahl der Todesopfer. Auch andere Faktoren – die schlechten Strassen, der plötzliche Sprung der Automobiltechnik mit ihrer enormen Fahrzeug-Beschleunigung – erklären wenig.
Ein Blick auf den Eisenbahnverkehr, zeigt, dass nicht nur die Strasse schuld ist. Über 21’000 Menschen starben vorletztes Jahr laut NCRB, weil sie aus Zügen fielen oder beim Begehen der Trassen unter die Räder kamen. 1’400 Todesfälle ereigneten sich allein bei den Vorortszügen in Bombay. Diese operieren immer noch mit offenen Zugängen, aus denen im Stossverkehr Menschentrauben heraushängen.
Malthusianischer Reflex
Auch diese Unfälle wären in einem halbwegs normalen Land ein Politikum ersten Ranges, genauso wie die (im Durchschnitt über zwei) Bombaywallahs, die täglich in einer ... Ambulanz sterben, weil sie im Verkehr feststeckt. Aber weder die Strassentoten noch die überfahrenen Eisenbahnpendler schaffen es in die Schlagzeilen. Man wartet vergebens auf einen Aufschrei in der Bevölkerung.
Was erklärt diese achselzuckende Indifferenz von Millionen Opferkandidaten, das Wegschauen der Polizei bei der Durchsetzung der Verkehrsregeln, den fehlenden Handlungsdruck der Politiker?
Es fällt schwer, sich zur Erklärung gegen den malthusianischen Reflex zu wehren: Je mehr Menschen sich gegenseitig auf den Füssen stehen, desto unempfindlicher werden sie gegen den Schmerz, nicht nur im Erleiden, sondern auch im Austeilen. Es scheint offensichtlich, dass Menschenleben in diesem Menschengewimmel von Land einen niedrigeren Stellenwert haben als anderswo.
Private Trauer und Fassungslosigkeit
Doch zeigen Menschen beim Tod von Angehörigen weniger Trauer als in unseren Breitengraden? Nehmen sie den Tod gelassener oder fatalistischer in Kauf? Mitnichten. In meinen bald dreiunddreissig Jahren Indien habe ich an zahlreichen Beerdigungen teilgenommen, war oft Zeuge an den Schauplätzen von Anschlägen, Ausschreitungen, Naturkatastrophen. Die Hinterbliebenen bieten dasselbe Bild von Trauer und Fassungslosigkeit wie anderswo auch. Das Spektrum zwischen Schockstarre und lautem Klagen ist womöglich noch breiter, und fast immer auch ausdrucksstärker.
Ist es möglich, dass zwischen privater und öffentlicher Trauer, zwischen dem herzzerreissenden Schmerz und dem fehlenden kollektiven Zorn ein kognitiver Graben liegt? Ist es Schizophrenie? Der individuelle Tod ist immer ein persönlicher, familiärer Schicksalsschlag. Doch dessen Ursachen versucht man nicht beizukommen. Sie gehören in den mythischen Bereich eines Naturereignisses. Es ist eben wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wenn ein Fahrzeug in eine Menschengruppe fährt. Der einzige mögliche Unterschied: Im Traueraffekt stellen die Überlebenden sicher, dass auch der fehlbare Lenker zur Opferstatistik wird, indem man ihn lyncht. „Höhere“ Gewalt, in beiden Fällen.
Mahatma Ghandis Beispiel
Man muss nicht zum Cliché des indischen Fatalismus – dem oft missverstandenen Karma – greifen, um dieses Verhalten zu erklären. Verkehrstote sind Gewaltopfer, und Gewalt zu erleiden und zu akzeptieren, so hat es Mahatma Gandhi vorgelebt, ist eine indische Tugend. Gandhi sah im Hungerfasten, im Herausfordern von Stockschlägen, im festen Blick auf Gewehrläufe eine Kraft zum Guten: Gewalt erleiden ist am Ende stärker als Gewalt ausüben.
Ist es eine Überdosis an Empathie, wenn ich in der gedankenlosen Vernachlässigung von Verkehrsregeln – und deren oft tödlichen Folgen – immer noch einen Kern von (passiver) Gewaltbereitschaft spüre? Nur sie erklärt vielleicht diese schizophrene Haltung von individueller Leidens- und Trauerfähigkeit mit dem gleichzeitigen Mangel an sozialer Auflehnung gegen deren Ursachen.
Fatalismus zu Modis Bargeldvernichtung
Viel verständlicher wird dieses Erklärungsmodell bei einer anderen Form individuellen und kollektiven Leidens, die sich derzeit vor aller Augen abspielt. Ich meine die Reaktion weiter Teile der Öffentlichkeit auf den rabiaten Eingriff von Premierminister Modi, dem Land den Geldhahn abzuklemmen.
Der weitaus grösste Teil von Indiens Bevölkerung lebt in einer Bargeld-Ökonomie, ohne direkte Steuern, aber auch ohne Zugang und Schutz zu und von Bankguthaben. Die Vernichtung von (wertmässig) 86 Prozent des nationalen Bargelds sowie die Kriminalisierung von dessen Besitz bedeuten für Hunderte Millionen Inder einen existenzbedrohenden Gau.
Doch statt sich zusammenzurotten und gegen die schiere Arroganz des Staatsapparats zu protestieren (wie es kürzlich in Venezuela geschah), reihen sie sich geduldig in lange Schlangen ein, liefern sich dem misstrauischen Blick der Schalterbeamten aus und ziehen wortlos wieder ab, wenn ihnen nur ein Bruchteil des alten Gelds eingewechselt wird. Der Verdienst eingebrochen, Medikamente unerschwinglich, und dazu die Sonne, die auch am zweiten, dritten und zehnten Tag über den Köpfen der Wartenden brennt.
Die Welt lobt Indiens demokratische Stabilität
Und was tut Herr Modi? Entschuldigt er sich? Zieht er Teile des drastischen Programms zurück? Mitnichten. Zuerst geisselte er wortreich die Korruption, Falschmünzerei, Terrorfinanzierung. Als dieser Wortrausch verebbte, griff er zu seinem Killer-Argument: Gibt es eine noblere Aufgabe, als für die Nation zu leiden, als ein Opfer zu bringen für das korruptionsfreie, bargeldlose nationale Paradies?
Über achtzig Menschen sind allein beim Schlangestehen gestorben, an Hitzeschlag, Herzversagen, Suizid, Flüssigkeitsverlust. Nicht einmal diese Extremereignisse lösten Proteste aus. Im Gegenteil – Modis wortreicher Dreh der heroischen Opferhaltung wird weiterhin geschluckt. Bei allen Lokal- und Nachwahlen seit dem 8. November ging Modis Partei BJP als Gewinnerin aus dem Rennen. Das kollektive Gedächtnis sagt: Menschen sterben – von Unfällen, Armut, Despotie – damit die Gesellschaft überleben kann. Und die Welt lobt Indiens demokratische Stabilität.