„Zürich liest“ nennt es sich. Zürich hört zu, liesse sich ergänzen, wenn man sich an den Veranstaltungsorten, Buchhandlungen, Kleintheatern, Bars, Tramwagen umschaut und umhört.
Das Angebot war riesig wie in einem Warenhaus – und wie im Warenhaus gab es für jeden Geschmack passende Angebote: die total Süchtigen konnten sich frühmorgens um 7 Uhr im Cabaret Voltaire vom Theatermann Peter Schweiger Kurzgeschichten der kanadischen Nobelpreisträgerin Alice Munro und ein andermal Passagen aus dem Roman „Schwarze Wasser“ des russischen Revolutionärs und Schriftstellers Victor Serge vorlesen lassen; im Tram ab Bellevue wurden Krimi-Fans mit ihrer Lieblingslektüre versorgt, Verlagshäuser öffneten ihre Räume für Plaudereien; bekannte Autorinnen, Autoren und solche, die es noch werden wollen, setzten sich hinter Mikrophonen in Szene und lasen, durchwegs gekonnt, wie das heute von den Schreibern verlangt wird, aus ihren Werken. Zu den Stars des Betriebs drängten sich die Zuhörer. „Ein Literaturabend der Extraklasse“, wie der Auftritt des berühmten amerikanischen Erzählers Paul Auster im Theater Rigiblick affichiert wurde, war seit Wochen ausverkauft.
Ermutigend
Für Leser, für Liebhaber der Literatur und des Buchs eine Ermutigung sondergleichen! Was muss man nicht alles zur Kenntnis nehmen, das Jahr hindurch: dass es immer mehr Analphabeten gäbe, dass die, die noch lesen, oft nicht mehr verstünden, was sie lesen, dass das papierene Buch ein Auslaufmodell sei und dem Hörbuch weichen müsse etc. etc. Und dann das. An 150 Schauplätzen zwischen Zürich und Winterthur Hunderte von still Zuhörenden, während vorne einer oder eine ein papierenes Ding mit eingeklebten Zettelchen aufschlägt und laut liest. Vielleicht ist der GAU, die Vernichtung von Literatur und Buch, noch einmal verschoben worden?
Das immer wieder Spannende an solchen öffentlichen Lesungen liegt im Prozess, der sich abspielt, in dem, was man eine Konkretisierung, eine Art von Verdinglichung des Lesens nennen möchte. Was man stumm aus bedruckten Seiten in sich hinein gezogen hat, bekommt Gestalt, kommt einem jetzt als Stimme entgegen. Es braucht Konzentration, um sich auf Laut und Inhalt gleichzeitig einzulassen und darüber hinaus davon zu profitieren, dass der Vortragende der Erfinder des Textes ist und also und wenn er ein guter Lautleser ist, in seinem Vortrag auch Interpretationsangebote liefern wird.
150 Verlockungen innerhalb von vier Tagen. Da muss man sehr streng auswählen, um bei Sinnen zu bleiben während der eine bis anderthalb Stunden dauernden Lesungen und Gesprächen. Dass einem eine ganze Menge Unbedarftes zugemutet werden kann, gehört zur Routine derartiger Veranstaltungen. Selber schuld, wer sich in die literarische Oednis verirrt, wem eine Stunde lang an den Nerven gesägt wird, ohne Chance auf Entkommen, weil man sich dummerweise in die Mitte einer vollbesetzten Stuhlreihe gesetzt hat und zu feige ist, um unhöflich zu werden.
Sternstunde
Anderthalb Sternstunden hab ich erlebt im Theater am Neumarkt. Sie lassen die anderen Darbietungen in den Schatten treten, wo sie denn, gewiss ungerechterweise, bleiben müssen. Im Rahmen eines dieses Jahr zum ersten Mal ausprobierten neuen Formates mit dem Titel „Dichter-Duett“ hatte Gertrud Leutenegger Thomas Hürlimann zu Lesung und Gespräch eingeladen. Da begegneten sich auf der Neumarkt-Bühne, unaufdringlich moderiert von Luzia Stettler, zwei bestandene, bekannte und erfolgreiche Schweizer Autoren, beide Innerschweizer (mit katholischem Hintergrund), mit produktiven Kindheitserinnerungen, für ihn in Zug, für sie in Schwyz.
Im Vordergrund stand Gertrud Leuteneggers neuer Roman „Panischer Frühling“, ein wunderbares Buch, das einen vom ersten Satz an bis zum Schluss schwerelos, wie auf kleinen Wellen, durch eine verzweigte Geschichte trägt, die das Fliessen der Themse in London, den Ausbruch des isländischen Vulkans mit dem unaussprechlichen Namen, die Erinnerungen eines entstellten Zeitungsverkäufers an eine Kindheit in Südengland mit denjenigen der Ich-Erzählerin an ein Pfarrgut in Sarnen verbindet.
Die Autorin las ausgewählte Stücke aus der Erzählung und liess sich von Hürlimann befragen, der, aufs beste vorbereitet, ebenso klug wie behutsam der Metaphorik des Textes oder den Phasen der Entstehung nachspürte oder sich und seine Gesprächspartnerin fragte, was man beim Schreiben von aussen als, wie er es bezeichnete, „Geschenk“ bekomme und was man dann damit oder daraus mache. Ein Werkstattgespräch, wie man das früher genannt hätte, auf hohem Niveau. Vom Handwerk des Schreibens war die Rede und, so weit möglich, von jenem anderen, letztlich Unfassbaren, vom Geschenk eben, der Inspiration, der plötzlich einsetzenden Schubkraft, die Einfälle, Motive zu einem stimmigen Text fügt. Gertrud Leutenegger wie Thomas Hürlimann liessen ihre Sondierungen, Interpretationen in den erarbeiteten und definitiven Texten sich spiegeln – sie bezog sie aus dem „Panischen Frühling“, er aus verschiedenen älteren Schriften, die zum diskutierten Thema passten. Anderthalb Sternstunden, wie gesagt, die einem das Lesevergnügen, das der „Panische Frühling“ bereitet hatte, im Nachhinein noch um ein paar Grade verstärkte.