Leichte Schläge auf den Hinterkopf scheinen Hühner zu beruhigen. So zumindest beendet die Indiofrau das Gegacker in ihrer Plastiktasche. Wie bei jeder Witterung trägt sie auch hier in der Hitze des Bahnhofs von Guayaquil ihre einheimische Tracht: tiefblauer Poncho, roter Rock und der typische, runde, schwarze Filzhut, der ihr den Namen "Cholita" gibt, und unter dem das blauschwarze Haar zu einem dicken Zopf geflochten hervorquillt. Manchmal packt sie auch die Köpfe des Federviehs und schüttelt sie kräftig, dann ist auch Ruhe. Drei Hühner, aufeinander gestapelt, transportiert sie so in ihrer Einkaufstasche. Ausserdem schleppt sie noch einen alten Sack unbekannten Inhalts mit, den sie unter ihren Sitz schiebt. Die Hühner platziert sie auf dem Boden zwischen ihren Füssen. Das etwa zweijährige Kind, das sie sonst in einem Tuch auf den Rücken gebunden trägt, lutscht - offensichtlich von unstillbarem Hunger erfüllt - genüsslich an ihrer vollen Brust.
Eine „Cholita“ auf Reisen
Um fünf Uhr früh hatte sie das Fährschiff vom Pazifikhafen Guayaquil - mit offiziell 1,8 Millionen, tatsächlich wohl eher drei Millionen Einwohnern die größte Stadt Ecuadors - über das fünf Kilometer breite Mündungsbecken des Rio Guayas nach Durán, der Bahnstation, gebracht. Für ein paar Sucre, etwa 3.60 Franken, hatte sie sich dort ein 1.-Klasse-Ticket für die Heimfahrt im "tren mixto" ins 241 Kilometer entfernte und 2749 Meter hoch gelegene Riobamba gegönnt. Die Holzwaggons unterscheiden sich allerdings in nichts von den 2.- oder gar 3.-Klasse-Wagen, zumindest bleibt eine eventuell doch vorhandene luxuriösere Ausstattung der 1. Klasse dem europäischen Auge verborgen. Doch die Ausgabe für den Fahrschein lohnt. 1908 wurde die Bahnlinie Guayaquil-Quito eröffnet, vorher dauerte die Reise von der Küste in die Hauptstadt 14 Tage. 1983 verschüttete ein Erdrutsch die Geleise und unterbrach die Bahnverbindung für etliche Jahre.
Laut Fahrplan, und heute hält sich das Bahnpersonal von Durán daran, fährt der Zug um 06.25 Uhr ab. In zehn Stunden, um 16.00 Uhr soll er in Riobamba ankommen. Schon in Milagro, nur 34 Kilometer und eine Stunde nach Abfahrt, umschwärmen Dutzende Indiofrauen und -kinder die Waggons, um ihre Waren an die Fahrgäste zu bringen. Speiseeis, Eier, Zigaretten, Popcorn, Papayas, Bananen, Mandarinen oder Ananas bieten sie lautstark an. Von den unvermeidlichen "chicklets", Kaugummis, über getrockneten Fisch bis zu Zuckerrohr gibt es alles als Reiseproviant zu kaufen. Auch die Cholita braucht etwas zu naschen. Um eine Tüte Mandarinen sowie zwei Zuckerrohre hat sie erfolgreich gefeilscht. Gelassen gibt sie ihrem Indianerspross wieder die Brust - schliesslich soll kein Futterneid aufkommen - und kaut geniesserisch an ihrem Zuckerrohr. Wenn sie so den Saft aus der Stange gekaut hat, spuckt sie die holzigen Reste ungeniert vor sich auf den Boden, was unter den Hühnern jedes Mal nicht geringe Aufregung verursacht.
Ein Ort wie aus dem Spaghetti-Western
Nach Zwischenstopps in Naranjito und Barraganeta erreicht der Zug gegen zehn Uhr Bucay am Fuße der Anden. Mitten über die Hauptstrasse führen die Bahngeleise. Hier ist ein längerer Aufenthalt vorgesehen. Aufgeregt verlassen die Passagiere den Zug. Auch die Cholita lässt Hühner mitsamt Sack liegen und zwängt sich durch den Gang. Es ist Regenzeit und regnet in Strömen. Das Treiben könnte einem Italo-Western als Szenerie dienen. Jeden Augenblick könnte man Clint Eastwood oder Django, unrasiert und mit Zigarillo zwischen den Zähnen, auf dieser völlig verschlammten, nur von ein paar Strassenkötern bevölkerten Mainstreet erwarten. Vor einem Kolonialwarenladen, in dem alles zu haben ist, von Stiefeln bis Alca Seltzer und von Brot bis Nagellack in allen Farben, sitzen im Schutz der von Holzpfosten getragenen Veranda schweigsam ein paar Indios und schauen ungerührt den durch den Regen in ein Restaurant eilenden Fahrgästen zu.
Das Restaurant ist ein von vier Holzpfählen gehaltenes Wellblechdach, an dessen Seiten noch einige Reste von Plastikplanen kaum Schutz vor dem regennassen Wind bieten. Darunter haben zwei Frauen einen Ofen und einen Stand aufgebaut, wo sie das karge Menu zubereiten: gebackene Bananen mit Reis und Fleisch, das in der Hauptsache aus Schwarten, Borsten und Knochen besteht. Daneben lockt eine Kneipe vor allem die jüngeren Reisenden. Darin klimpert nicht mehr das mechanische Klavier, das in Filmen die ständig von Kugeln gefährdeten Pianisten wegrationalisierte, sondern dröhnt Jennifer López aus einer Musikbox. Vor dem größten Gebäude des Ortes lungern zwei Polizisten mit tiefhängenden Pistolen und beobachten das Treiben so gelangweilt, als warteten sie noch auf ein paar Partner für ein Pokerspiel.
Endlich, beinahe zwei Stunden später, geht die Fahrt weiter. Während des Aufenthaltes wurden die Lokomotiven ausgewechselt. Eine stärkere Dampflok soll den Zug auf die Anden ziehen, auf mehr als 3000 Meter Höhe. Und sie zeigt auch gleich, was in ihr steckt: Pfeifend, zischend und dampfend verabschiedet sie sich von Bucay. Vorbei geht die Fahrt durch die verschiedensten Grüntöne. Reihe auf Reihe ziehen Kaffee-, dann Kakaobäume, gelegentlich unterbrochen von Mangosträuchern vorbei. Der Zug steigt entlang dem Río Chanchán bis - eigentlich bis ins 30 Kilometer entfernte Huigra. Aber nach einer halben Stunde endet die Fahrt vorläufig mit einem Ruck und einigen besonders schrillen Pfiffen.
Tierische Fahrgäste
Eine sichtlich willkommene Unterbrechung. Denn sofort schlagen sich die Fahrgäste in die Büsche zwischen Kaffeebäumen. Die Cholita kaut nun schon an ihrem zweiten Zuckerrohr. Weiter vorn "liegt ein Zug", hat sie herausgefunden, "ein Waggon ist aus den Schienen gesprungen. Das wird wohl länger dauern." Während das Zugpersonal den havarierten Kollegen zur Hand geht, verteilen sich die Fahrgäste entlang des Bahndamms. Rechtzeitig dafür ist die Sonne hervorgekommen. Die Ruhe lässt auf Routine schließen, aber - so wird allseits versichert - "dass Züge entgleisen, das ereignet sich doch höchst selten." Gut zwei Stunden später ist der Weg wieder frei, mit den inzwischen bekannten schrillen Pfiffen werden die Passagiere zum Einsteigen aufgefordert. Durch dichte Bananenplantagen, später Zuckerrohr- und Tabakfelder erreicht der Zug um halb vier Uhr nachmittags Huigra.
Laut Fahrplan sollte der "tren mixto" in einer halben Stunde in Riobamba einfahren, dabei hat er bisher gerade die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Zwanzig Minuten Aufenthalt sind hier fürs Mittagessen eingeplant. Und die werden eingehalten, auch wenn die Verspätung zur Eile treibt. Durch die Fenster reichen wieder, wie schon in Milagro, Scharen von Indiofrauen vorbereitete Gerichte. Zwei Menus stehen zur Auswahl: ein Teller Brühe mit gekochtem Fleisch und Kartoffeln oder zwei Scheiben gebackene Bananen auf Reis, Kartoffeln und Spaghettis, gekrönt von einem Spiegelei. Mit einem Maiskolben als Dessert kostet das Menu weniger als zweieinhalb Franken.
Neue Passagiere steigen zu, unter ihnen eine meckernde Ziege und ein grunzendes Schwein, hier durchaus nichts Aussergewöhnliches. Aber welches Schweizer Schwein oder Huhn hat schon mal eine 1.-Klasse-Bahnfahrt mitgemacht? Nach zwanzig Minuten geht's pünktlich weiter nach Chanchán. Hier wird die Schlucht des Flusses teilweise so eng, dass zahlreiche Tunnels passiert werden müssen. Ständig kreuzt die Bahn über Brücken den Fluss bis Sibambe, 1800 Meter hoch gelegen.
Eine Meisterleistung der Ingenieure
Kurz hinter Sibambe ereicht der Zug die berühmte "naríz del diablo", die Teufelsnase. Auf einer Strecke von knapp zwei Kilometern steigt der Zug in der Schlucht des Río Chanchán mehr als 300 Meter. Auf dieses Wegstück sind die Bahnangestellten besonders stolz. "Eine Meisterleistung der Ingenieure", rühmen sie den Trick. Mit einer Steigung von 5,5 Prozent bewältigt der Zug die erste Etappe. In entgegengesetzter Richtung schiebt die Lok die Waggons dann rückwärts auf 2000 Metern Länge weitere 100 Meter höher. Auf einer letzten Etappe zieht sie ihre Last wieder vorwärts in die Höhe. So erreicht der Zug im Zickzack das 2600 Meter hoch gelegene Alausi an der Panamericana, während Sibambe beinahe senkrecht in der Tiefe kleiner und kleiner wird.
Nach der 120 Meter langen Shucos-Brücke fährt der Zug gegen sechs Uhr abends in Palmira ein, in 3250 Metern Höhe auf den westlichen Kordilleren gelegen. Zwei Drittel der 240 Kilometer bis Riobamba sind nun zurückgelegt. Auf den letzten 80 Kilometern stieg der Zug beinahe 3000 Meter hoch. Dieser "Garten zwischen nackten Felsen", wie der Reiseführer den Ort beschreibt, öffnet den Blick auf die bis zu 6000 Meter hohen, schneebedeckten Gipfel der Vulkane des Altar, des Tungurahua, Carihuairazo, des ständig rauchenden Sangay sowie des Chimborazo, an dem sich vor 180 Jahren schon der deutsche Forschungsreisende Alexander von Humboldt versucht hatte.
Ankunft mit sieben Stunden Verspätung
Jetzt führt die Fahrt auf und ab durch das Cajabamba-Tal nach Riobamba, der 90 000 Einwohner zählenden Provinzhauptstadt. 1534 an der Stelle des heutigen Cajabamba gegründet, wurde Riobamba 1797 von einem riesigen Erdrutsch, ausgelöst durch ein verheerendes Erdbeben, völlig zerstört. Etwa 30 Kilometer von seinem ursprünglichen Standort entfernt wurde es neu aufgebaut, diesmal auf einem weiten Hochplateau, wo die Gefahr ausgeschlossen ist, dass ein ganzer Berg auf die Stadt fällt. Nur samstags und sonntags erwacht die verschlafene Stadt zu hektischem Treiben. Dann ist Markttag. An neun verschiedenen Plätzen der Stadt - sortiert nach Produkten - bieten die Indios aus der Umgebung ihre Waren feil: dicke Pullover aus Schaf- oder Llamawolle, Decken, Holzschnitzereien, bestickte Blusen und Kleider, Bastschuhe, aber auch Knirps-Regenschirme, Jeans und T-Shirts mit den Aufdrucken nahezu jeder US-Universität.
Riobamba ist Schlussstation des "tren mixto". Es ist elf Uhr nachts und höllisch kalt. Sieben Stunden Verspätung hat der Zug, aber darüber regt sich niemand auf.