In solch dezidiertem Fortissimo beginnt ein Klassiker der modernen Kulturkritik, der heuer seinen Fünfzigsten feiert, und auf den, ehe das Jahr zu Ende geht, doch noch verwiesen sei: Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“. Die deutschsprachigen Feuilletons – auch die linken - haben sich anlässlich dieses Jubiläums auffallender Zurückhaltung befleissigt – was verwundert, handelt es sich immerhin um eine der zentralen Inspirationsquellen der Gegenkultur und der 68-Bewegung. Hat man sie vergessen? Hält man sich für ihr „entwachsen“? Zumindest eine Bühnenveranstaltung in Frankfurt hat im Oktober des Philosophen gedacht, als multimediales Spektakel, wie sich’s gehört, und unter dem sinnigen Titel „Der eindimensionale Mensch wird 50“. Ich wage eine Prognose: Er wird viel älter werden, denn die Eindimensionalität schreitet in den technisch avancierten Lebensformen unbeirrt und unentwegt voran, auf eine Weise, die selbst Marcuse nur ahnen konnte.
Statt 1 Big Brother: 1 Milliarde Little Brothers
Hier ein Beispiel. Das erste Kapitel – „Formen der sozialen Kontrolle“ – liest sich, als wäre es den heutigen Verhältnissen auf den Leib geschrieben. Marcuse spricht von einer Gesellschaft „ohne Opposition“. Er hatte damit noch eine starke Regulierung und Kontrolle vor Augen, das „Herrschaftsinteresse“ einer „totalen Administration“, die uns omnipräsent und panoptisch im Griff hat. „Der Apparat“ – mit dieser vielgebrauchten Kampfmetapher war zwar nichts Bestimmtes bezeichnet, liess sich aber das Unbehagen im technokratischen „repressiven Ganzen“ zumindest begrifflich haltern.
Als dieses Ganze können heute immer mehr Alltagspraktiken betrachtet werden, die „der“ Markt der digitalen Geräte fördert. Die Geräte selbst entwickeln sich von Hilfsmitteln zu Kontrolleuren. Jedes Handy ein „Little Brother“. Dave Eggers hat in seinem Roman „The Circle“ ein Bild dieser Infiltration gezeichnet. Die Kontrolle ist nicht im marcuseschen Sinn repressiv. Sie ist absorptiv. Wir erteilen den Kontrolleuren Absolution mit „Unsere täglichen Tweets gib uns heute.“ War der Markt früher Teil des gesellschaftlichen Lebens, so ist heute das gesellschaftliche Leben Teil des Marktes, weil er von den intimsten Lebensäusserungen Besitz ergreift. Es gibt eine neue anthropologische Kategorie: Mensch als Unternehmen. Längst hat die Betriebsökonomie unsere Seelen infiziert, und mit den neuen Möglichkeiten der Datifizierung unserer selbst etabliert sich ein Feld, das die totale Exploitation unseres Innenlebens gestattet, ja, geradezu fordert. Marcuse hat diese eindimensionale Drift erkannt: „Totalitär ist nicht nur eine terroristische politische Gleichschaltung der Gesellschaft, sondern auch eine nicht-terroristische ökonomisch-technische Gleichschaltung, die sich in der Manipulation von Bedürfnissen durch althergebrachte Interessen geltend macht (..) Nicht nur eine besondere Regierungsform oder Parteiherrschaft bewirkt Totalitarismus, sondern auch ein bestimmtes Produktions- und Verteilungssystem, das sich mit einem ‚Pluralismus’ von Parteien, Zeitungen, ‚ausgleichenden Mächten’ durchaus verträgt.“
„Das Bewusstsein der Knechtschaft“
Wie es scheint, hat das neoliberale Regime – „der Markt regelt alles“ - die Fähigkeit, auch opponierende Kräfte zu kooptieren. „Die Aufsaugung des Negativen durchs Positive,“ nennt es Marcuse. Es gibt zwar Eruptionen des Unmuts wie „Occupy“ und „Empört euch“, aber sie muten trotz Vernetztheit an wie kurzlebige Erschütterungen der Eindimensionalität. Es gibt Proteste gegen Grossüberbauungen, Kampagnen gegen Street-View, Streiks, Krawalle, Bewegungen zum Schutz von Frauen und Kindern, Anstregungen gegen Junk Food und verblödende TV-Sendungen. Wir klicken auf die Plattform change.org, um Blauwale vor dem Austerben oder eine pakistanische Mutter vor dem Todesurteil zu retten. Opposition überall, aber unter der alles überwölbenden Käseglocke des vernetzten Ökonomismus. Eine Sharing-Economy bemächtigt sich neuerdings sogar der elementar sozialen Aktion des Teilens, unter dem Banner – hört! – der „Überwindung des Kapitalismus“. Eine „Befreiung“, würde Marcuse sagen, welche die Eindimensionalität nur noch zementiert, indem sie sich im falschen Bewusstsein der Freiheit wähnt. Denn: „Alle Befreiung hängt vom Bewusstsein der Knechtschaft ab, und das Entstehen dieses Bewusstseins wird stets durch das Vorherrschen von Bedürfnissen und Befriedigungen behindert, die in hohem Masse die des Individuums geworden sind.“ Wer fühlt sich schon unfrei, wenn er zwischen 50 Sorten Chips wählen kann?
Der Neusprech betriebsökonomischer Rationalität
Der Weg zur geistigen Eindimensionalität führt natürlich über die Sprache. Marcuse widmet ihr ein ganzes Kapitel (4). Einmal abgesehen von seiner – mit der Frankfurter Schule geteilten - Antipathie gegen den „Positivismus“ und dessen „operationalistische“ Sprachregelung, gelingt es ihm, die betriebsökomische und technische Rationalität, die in alle gesellschaftliche Praktiken einsickert, anhand eines Sprachgebrauchs dingfest zu machen, der sich heute nur noch weiter verbreitet und vertieft hat, im Management-Neusprech oder im Techno-Pidgin des Internets. Frappant das Beispiel der Personalisierung der Kundenwerbung. Sie simuliert eine Vertraulichkeit, welche doch nur der Funktion dient, den Kunden ans Produkt, und über dieses, an weitere Produkte zu binden. „Es ist die Rede von ‚Ihrem’ Kongressabgeordneten, ‚Ihrer’ Autobahn, ‚Ihrem’ bevorzugten Drugstore (..)“ Diese Praxis findet ihre direkte und raffinierere Fortsetzung auf heutigen Online-Plattformen. „Es verschlägt wenig, ob die so angesprochenen Individuen daran glauben oder nicht. Der Erfolg deutet darauf hin, dass die Selbstidentifikation der Individuen mit den Funktionen befördert wird, die sie (..) ausführen.“ Und die Hauptfunktion ist: Schmiermittel im Kreislauf von Produktion und Konsumtion.
Und die „Grosse Weigerung“?
Ein Schüler Marcuses – der Historiker Ronald Aronson - schrieb 1964: „Das Buch ist ein wesentlicher Schritt des Ausbruchs aus einem geschlossenen Universum. Indem er dieses Universum benannte, es uns bewusst machte, seine überwältigende Macht enthüllte, half uns Marcuse, uns selbst in Opposition zu ihm zu begreifen – in totaler Opposition.“
Und heute? – Wie sollen wir uns begreifen? Wollen wir uns überhaupt noch „begreifen“? Die „Grosse Weigerung“ blieb aus. Heisst das aber, dass es keinen Ausweg aus dem Universum der Güter- und Datenströme gibt? Die Antwort, so könnte man mit Marcuse sagen, hängt stark davon ab, dass wir ein „Bewusstsein der Knechtschaft“ entwickeln. Und dieses Bewusstsein breitet sich aus. Wie der Journalist Matt Taibbi 2011 im „Rolling Stone“ schrieb: „’Occupy Wall Street’ war immer etwas Grösseres als eine Bewegung gegen Grossbanken und das moderne Finanzsystem. Es bietet den Leuten ein Forum, zu sagen, wie satt sie nicht nur Wall Street, sondern wie satt sie alles haben. Es handelt sich um eine viszerale, leidenschaftliche, tief sitzende Ablehnung einer Gesamtentwicklung unserer Gesellschaft; um die Weigerung, noch einen Schritt mehr zu tun im seichten und faulen Kommerzsumpf des Unechten, der kurzfristigen Kalkulation, des verwelkten Idealismus und intellektuellen Bankrotts (..) Wenn es einen Streik gegen die eigene Kultur gibt, dann findet er hier statt.“
„There is no alternative“
Marcuse setzte seine Erwartung in die „transzendenten, negativen und oppositionellen Elemente der Vernunft“. Das klingt einigermassen abgehoben. Philosophisch. Aber gerade das macht das subversive Potenzial des „eindimensionalen Menschen“ aus. Das Werk hat die denkerische Spannkraft, die konkrete politische Aktion mit der abstrakten philosophischen Vision eines „befreiten“ Menschen und einer „befriedeten Gesellschaft“ zu verbinden. Damals wie heute. Die Vision mag eine Utopie sein, aber sie mahnt uns an, dass die heimtückischste Eindimensionalität die geistige ist: Sie entzieht uns den Sauerstoff der Imagination, sie erstickt das Aushecken von Alternativen, sie tötet den Gedanken, dass das Leben auch anders verlaufen könnte als in ewigen Zyklen von Konsumtion und Produktion. Die Krise der industriellen und mehr noch der postindustriellen Gesellschaft hatte und hat eine philosophische Dimension. Das ist die Grundbotschaft. Und exakt in der Leugung dieser Dimension diagnostizierte Marcuse die Eindimensionalität des Lebens.
Aber es gibt eine andere Welt. Nämlich diese. Unsere. Eindimensionalität heute ruft „There is no alternative“. – Man muss deshalb mit einer „Kleinen Weigerung“ beginnen. Sie besteht darin, dass wir diesen Spruch als die schwachsinnigste Attacke auf die Vernunft lesen, die jemals geäussert worden ist.