Vor bald fünfzig Jahren, im August 1975, vermeldete die NZZ, der „bekannte Regisseur Wilfried Bolliger“ werde „in den nächsten Tagen den ersten Teil der Dreharbeiten für den Dialektfernsehfilm ‚Riedland‘ beenden“. Um über ein Ereignis, das ausser der Filmequipe niemanden interessiert, öffentlich zu informieren, brauchte es den Prominenten-Status. Heute ist Wilfried Bolliger längst vergessen. Die Nachricht von seinem Ableben mit 87 Jahren am 18. Januar in Le Beaucet bei Avignon ruft ihn ins Gedächtnis zurück.
Bravour und galliger Humor
Zunächst erinnere ich mich an die 1967 gemeinsam besuchte Weltpremiere von Charly Chaplins „Die Gräfin von Hongkong“. Wir reisten für einen Beitrag im Filmmagazin des – wie es damals hiess – Fernsehens der deutschen und rätoromanischen Schweiz nach Paris, Wilfried als Kameramann.
Die Medienkonferenz mit dem Regisseur, Sophia Loren und Marlon Brando war inszeniert wie eine Kombination aus Krönungsfeier und Gala des bürokratischen und polizeilichen Übereifers. Absperrungen, Ausweiskontrollen, Programmänderungen, Warteschlangen, muffige Luft.
Inmitten der Journalistenschar in obligatorischer Abendgarderobe ein heillose Verwirrung stiftender Ordnungshüter im Smoking. Dazu die ebenfalls festlich gekleideten Kameraleute mit ihren sperrigen Geräten. Es war für Wilfried Schwerstarbeit, um für einen Platz mit Sicht auf die Filmstars zu kämpfen und ihn zu halten. Er löste die Probleme mit Bravour und galligem Humor. Die Aufnahmen waren allesamt vorzüglich.
Konservatives Verständnis von Qualität
Leidenschaftliche Professionalität zeichnete Wilfried Bolliger aus. Ob Fernsehreportage, Auftragsfilm, Dokumentar- oder Spielfilm: ihm waren die verschiedenen Genres technisch und gestalterisch vertraut. Er wollte Solidität und in einem konservativen Sinne Qualität.
Zwischen Filmen für Dritte und dem freien Schaffen machte er für sich nie einen Unterschied. Damit gehörte er als offener Geist zu einer von der Mehrheit der Regisseure und Filmkritiker exkommunizierten Minderheit. Das ist eine erste Erklärung, weshalb Bolliger keine Zentralfigur des neuen Schweizer Films werden konnte. Unverdient. Dogmatik ist eben eindimensional und gnadenlos.
Kunst der leisen Aufklärung
Gegen den herrschenden Zeitgeist der Filmszene kamen etwa die beiden Spielfilme „Riedland“ (1976) und „Der Landvogt von Greifensee“ (1979) kaum an. Obwohl beide Werke bis heute ihre Attraktivität behalten haben.
„Riedland“ mit einer verhärmt-grossartigen Anne-Marie Blanc in der Hauptrolle, setzt sich spannend mit der Kontroverse zwischen Bewahrern der Natur und Befürwortern des technischen Fortschritts auseinander. Obwohl im ersten Viertel des letzten Jahrhunderts angelegt, bewahrt die Thematik in einer subtilen Aufbereitung ihre Gültigkeit. Auch wegen der Kameraleistung von Edwin Horak, Peter Stierlin und Pio Corradi.
Im „Landvogt von Greifensee“ nach der Novelle von Gottfried Keller und mit Rückgriff auf die Biografie Salomon Landolts von David Hess rückt Bolliger die Menschenwürde und deren Verletzung in den Mittelpunkt. Martin Schlappner, damals als NZZ-Redaktor die scharf richtende Filmautorität, lobt die klar herausgearbeitete Opferrolle der Frauen in „einer durch den Mann beherrschten Gesellschaft“, unterstreicht die von der Regie gemeisterte Kunst der leisen Aufklärung und rühmt die Brillanz Armando Nannuzzis, der oft für Luchino Visconti an der Kamera stand.
Im Übrigen: Der Film passt perfekt zum 50-Jahr-Jubiläum des Frauenstimmrechts in der Schweiz.
Aussenseiter der Filmwelt
Spätestens hier ist nochmals ein Erklärungsversuch nötig, weshalb Bolliger, dem die Condor Films AG und Peter-Christian Fueter stets den Rücken stärkten, die breitere Anerkennung verwehrt wurde.
Zum einen: Bolliger beherrschte zwar das Filmhandwerk, jedoch kaum die ungeschriebenen Gesetze der Filmwelt. In ihr ist Bescheidenheit keine Zier. Der Schein zählt oft mehr als das Sein. Selbstbewusst mit den Ellenbogen ins Scheinwerferlicht. Energisches Networking. Querdenken um jeden Preis. Diese Eigenschaften waren Bolliger fremd. Das spricht für ihn, hat ihm aber nicht geholfen, einen Zugang zu finden in die Akademie der ideologisierten Trendsetter.
Zu spät und zu früh
Zum andern: Bolliger kam zu spät oder zu früh. Zu spät, weil sein Erzählkino zu nah am sogenannten alten Schweizer Film war, aus dem sich der neue mit experimentellen, provozierenden und politisch expressiven Werken befreite. Zu früh, weil das Erzählkino noch etliche Jahre auf seine Wiederentdeckung warten musste.
Wilfried Bolliger, Nachläufer einer vergangenen Epoche und zugleich Vorläufer einer kommenden, prägte mal als tüchtiger Handwerker, mal als sensibler Künstler eine Zwischenphase. Das ist für hohe Wertschätzung bedeutend genug.