„Raum für alle hat die Erde“, konnte Friedrich Schiller vor über zwei Jahrhunderten in seinem Gedicht „Der Alpenjäger“ noch zuversichtlich dichten. Er meinte damals mit „alle“ Mensch und Tier. Diese Zuversicht weicht heute einer globalen Beklemmung. Ein engmaschiges Verkehrs- und Kommunikationsnetz überzieht die physische Geografie mit einer artifiziellen. Wer es sich leisten kann, verschiebt sich darin mühelos von Ort zu Ort – wofern man es überhaupt für nötig hält, sich zu bewegen. Denn für den modernen Technologiekonsumenten ist die Welt inzwischen auf Tastendruck zuhanden – oder vielmehr: ist sie zusammengeschrumpft auf das, was sich mittels Tastendruck heranholen lässt. Wir sind Zeugen einer paradoxen Mutation: Die Hypermobilität bringt einen neuen Zustand der Unbeweglichkeit hervor.
Wir Migranten
Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite reisst eine weltweite Dynamik die Menschen aus den Halterungen ihrer Traditionen und spült sie als Treibgut über die Oberfläche des Planeten. Wir beobachten diese Dynamik in der Richtung von Entwicklungsländern zu Industrieländern als Flüchtlingsströme. Schon seit längerem bewegen sich in umgekehrter Richtung die Touristenströme.
Beide haben etwas gemeinsam: eine Zwangslage. Während die einen der äusseren Zwangslage von politischer Instabilität, wirtschaftlicher Aussichtslosigkeit, Krieg entkommen wollen, tun dies die andern aus der inneren Zwangslage von Langeweile, Sinnkrise, Burnout heraus. Eine tiefe Ironie liegt darin, dass gleichzeitig viele Menschen jener Regionen, die der europäische Tourist bereist, nun ihrerseits nach Europa kommen wollen. Bereits zynisch mutet an, wie sich die Existenznöte der Notstandsflüchtlinge und Luxusnöte der Wohlstandsflüchtlinge begegnen.
Reisen heisst Weggewesen-Sein
Der Tourist reist auf der Basis eines Privilegs, nämlich ein Zuhause zu haben. Und um das Zuhause dreht sich das Reisen ja eigentlich. Der Tourist ist ein Rückkehrer, er macht eine „Tour“. Er braucht das Ferne, Fremde als Exkurs, als Passage, die zurückführen zum Nahen, Heimischen. Man reist auch für die Daheimgebliebenen. Man bringt ihnen Trophäen in der Gestalt von Geschichten, Bildern, Souvenirs, vielleicht auch Bekanntschaften. Und darin konserviert der Tourismus ein Stück Atavismus. Auch der Frühmensch „tourte“ auf seinen Beutezügen, um Hab und Gut fremder Stämme zu erobern, Kriegsgefangene, Sklaven, und vor allem junge Frauen nach Hause zu bringen.
Wenn ein solcher materieller Erbeutungsaspekt des Reisens heute nicht mehr dominant sein mag, so manifestiert er sich dennoch implizit in einer generellen Haltung zum Reisen: Wir reisen, wie sich sagen liesse, eigentlich im Perfekt. Wir reisen nicht, um weg zu sein, sondern um weg gewesen zu sein, nicht, um etwas zu erfahren, sondern um etwas erfahren zu haben. Wie wenn die Gegenwart des Reisens immer schon ein wenig überschattet wäre von der Finalität der Heimkehr. Man halte sich nur die Pulks von Touristen vor Augen, die eigentlich gar nicht „da“ sind, sondern mit ihren Selfiesticks in der Welt herumstochern, um eine möglichst grosse Ausbeute an Weggewesen-Sein zuhause präsentieren zu können.
Reisen ist Unverweilen
Wenn Tourismus Rückkehr bedeutet, dann gefährdet er sich in seiner industrialisierten Form selbst. Das heisst, die Tourismus-Maschine braucht den überreizten, im Grunde unbefriedigten, gelangweilten Konsumenten als universellen Treibstoff. Denn wie der Konsum einer beliebigen Ware soll ja auch der Konsum einer Reise Bedürfnisse gerade nicht befriedigen oder nur soweit befriedigen, dass neue Bedürfnisse genährt werden. Soll aber der Tourist auf Touren gehalten, die Tretmühle durch Abhängigmachen in Gang gehalten werden, gibt es in diesem Sinn keine Rückkehr mehr, nur das Immer-weiter-so im existenziellen Laufkäfig. Das Fernweh wird zum Wirtschaftsfaktor par excellence.
Die heutige „durchgedrehte“ Reiseindustrie gibt eine tiefe Unbehaustheit des Menschen zu erkennen. Das Weg-von-hier-wollen kommt nirgendwo mehr an, weder dort noch hier, weder im Fernen noch im Zuhause. Martin Heidegger, dieser philosophische Beschwörer fundamentalontologischer Sesshaftigkeit, sprach zwar nicht direkt vom Reisen, sondern von der „Aufenthaltslosigkeit“ des Menschen, der nicht mehr beim Nahen und Nächsten „verweilen“ könne. Reisen ist ein „Unverweilen“. In der Aufenthaltslosigkeit des Reisens manifestiert sich die innere Haltlosigkeit – ein anderer Name für Sucht.
Verlust der Aura
Wir halten uns die Welt vom Leib mit Bildern von der Welt. Durch dieses millionenfach repetierte Verhalten drohen heute touristische Destinationen gerade das zu verlieren, was ursprünglich ihr Kapital ausmachte: ihre Bereisenswürdigkeit, Einmaligkeit, Einzigartigkeit. Walter Benjamin hat es unter dem Begriff der Aura in die Diskussion gebracht. Es verhält sich ja nicht nur so, dass die Reiseindustrie weite Landstriche mit der ewiggleichen stumpfen Architektur zubaut, unsere Wahrnehmung stumpft in dem Masse ab, in dem sie nicht gebraucht wird.
Der Verfall der Aura, so Benjamin, „beruht auf zwei Umständen, welche beide mit der zunehmenden Ausbreitung und Intensität der Massenbewegungen auf das Engste zusammenhängen. Der eine ist das leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen, sich die Dinge ‚näherzubringen‘; der andere zeigt sich in der Tendenz zur Überwindung des Einmaligen durch die Reproduzierbarkeit jeder Gegebenheit. Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstandes aus nächster Nähe im Bild, genauer: im Abbild, in der Reproduktion habhaft zu werden.“
Gewiss, an den Klicks der Apparate nimmt die Welt keinen Schaden. Aber wir tragen durch unser technisch aufgerüstetes Wahrnehmungsverhalten beim Reisen dazu bei, dass das „Einmalige jeder Gegebenheit“ erodiert und so zum „Zeug“ fürs Ablichten mutiert. Die uns begleitenden Wahrnehmungsapparate erweisen sich ja grössenteils als Instrumente der Anästhesierung. Etwas zum Sehenswürdigen erklären heisst im Grunde, es nicht mehr sehen zu müssen.
„Wenn jemand eine Reise tut, dann kann er was verzählen“
Man reist im Grunde immer mit sich selbst. Man nimmt seine Marotten mit sich. Die eigenen Gewohnheiten sind die treuesten Reisebegleiter. Und sie können einem das Reiseerlebnis gehörig vergällen. Schon im 18 Jahrhundert begegnen zum Beispiel Romantiker wie Matthias Claudius dem aufkommenden Reisetrend und der Reiseschriftstellerei mit ironisierender Ernüchterung. Im Gedicht „Urians Reise um die Welt mit Anmerkungen“ bricht Herr Urian – eine landläufige Bezeichnung für Tölpel – auf, um den ganzen Globus kennenzulernen, denn „wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzählen“.
Nur muss Herr Urian am Ende feststellen, dass es anderswo gar nicht so anders ist als zu Hause: „Und fand es überall wie hier/Fand überall n’ Sparren (Spleen, Anm. E. K.)/Die Menschen grade so wie wir/ Und ebensolche Narren.“ Die Welt ist heute voller Urians.
Zimmerreisen
Der literarische Sonderling Xavier de Meistre schrieb 1790 während eines 42-tägigen Zimmerarrests in Turin eine „Reise um mein Zimmer“. In der Zwangsabgeschiedenheit „bereiste“ er, von Diener und Hund begleitet, seinen Armsessel, seinen Schreibtisch, sein Bett, seine Bibliothek, seine Verwandten, Bekannten und Freunde auf den Porträts an den Wänden, die Reise führte ihn durch Betrachtungen von Gemälden und Kupferstichen zu kunsttheoretischen Exkursen und sie trug ihn bis in die metaphysischen Höhen des Leib-Seele-Problems. Im Zimmer, wo er den Arrest absass, sah de Maistre eine „paradiesische Gegend, die alle Güter und Schätze der Welt in sich birgt“. Der Reisebericht wurde zu einem Klassiker der französischen Literatur und begründete ein eigenes Genre, jenes des Zimmerabenteuers. In zahlreichen Nachdichtungen wurden immer wieder neue derartige Reisen unternommen, oft im Kontrast zu den extravaganten Expeditionen etwa eines Thomas Cook, des Erfinders der Pauschalarrangements.
Die Ironie ist nicht zu übersehen. Ausgerechnet der arretierte Zustand befreit den Menschen zu imaginären Reisen, wohingegen der Reisezustand dem Touristen die Imagination austreibt und in standardisierten Verhaltensweisen zu arretieren droht. Er möchte Abstand vom „Gefängnis“ des Alltags gewinnen, manövriert sich aber oft gerade durch die zähe Verbissenenheit der Suche – wie beim Treten im Sumpf – tiefer in diesen Alltag hinein.
Alles ist sehenswürdig
In Kierkegaards Erzählung „Die Wiederholung“ sinniert die Erzählfigur Constantin Constantius über den „Berufsreisenden“, der alles „beschnuppert, was andere beschnuppert haben“. Und er stellt sich die Frage: „Was, wenn ein Mensch nach Rom kam, sich in einen kleinen Stadtteil verliebte, der ihm ein unerschöpflicher Stoff der Freude war, und Rom verliess, ohne eine einzige Sehenswürdigkeit gesehen zu haben?“
Und was wäre, wenn wir überhaupt nicht nach Rom reisen würden? Wenn wir, sagen wir, am heimischen Flussufer in Bern oder Zürich auf einmal jene Atmosphäre entdecken würden, die uns die Prospekte der fernen Paradiese verheissen? Was, wenn die eigene Stadt zum Gebiet einer reisenden Durchquerung würde, ja, der eigene Garten, das Wohnhaus, das Zimmer, der Keller, der Schreibtisch, ein Text? Hier der Vorschlag für ein kleines Experiment mit sich selbst: „Reisen“ Sie an einen völlig unscheinbaren, nichtssagenden, ja, vielleicht hässlichen Ort in Ihrer nahen Umgebung und versuchen Sie, indem Sie ihre Aufmerksamkeit „verweilen“ lassen, so etwas wie eine Aura dieses Ortes wahrzunehmen. Wenn Ihnen dies gelingt, haben Sie das Zeug zum Experten des Reisens. Sie können aus dem Gewohnten „ausbrechen“, „aussteigen“.
Die eigenen Augen entdecken
Der Tourismus hat die Welt von Grund auf verändert; nun kommt es darauf an, ihn neu zu interpretieren. Wie? „Panama ist überall“, schrieb der Kinderbuchautor Janosch – eine wunderbare Losung. Wenn ich zu Beginn schrieb, der Tourist kehre nach Hause zurück, dann liesse sich jetzt anfügen: Die gelungenste Art des Tourismus besteht darin, in einen kindlichen Zustand zurückzukehren, in dem es mir glückt, Panama überall zu sehen. Die Kindheit „verwandelnd einholen“ nannte das Adorno. Man könnte auch sagen: Man entdeckt nicht die Welt, man entdeckt den eigenen Blick auf die Welt. Und dieser Blick gibt Orten und Dingen wieder etwas von ihrem fremden, unverbrauchten, zauberhaften, kindlichen Charakter zurück.
Kurz: Wer reisen kann, kann genausogut zu Hause bleiben.