Um es vorwegzunehmen: Wer sich auf „Das Kraus-Projekt“ von Jonathan Franzen einlässt, mutet sich schwere Kost zu. An den knapp 300 Seiten kann man sich schon die Zähne ausbeissen. Und wird sich mehr als einmal während der Lektüre eingestehen müssen, dass man diesen oder jenen Satz einfach nicht versteht. Auch wenn man brav das tut, was einem der nicht unbedingt an einem Bescheidenheitskomplex leidende Kraus dringend rät, nämlich: „Man muss meine Arbeiten zweimal lesen, um ihnen nahe zu kommen. Aber ich habe auch nichts dagegen, dass man sie dreimal liest. Lieber aber ist mir, man liest sie überhaupt nicht, als bloss einmal.“
Die Idee eines „angry young man“
Franzen – und das gehört zu den vielen angenehmen Erlebnissen bei der Lektüre seines Buchs – gibt in seinen Erklärungsversuchen mehrmals offen zu, dass es bei Kraus Sätze gibt, die nicht zu begreifen sind. Wobei er weiss, dass der Österreicher es bewusst darauf anlegt, ein gedankenbefrachtetes, in keiner Weise eingängiges Deutsch zu schreiben. Franzen äussert den leisen Verdacht (für den ihn Kraus vielleicht massakriert und jedenfalls vor Gericht gezerrt hätte), dass er, Kraus, selber nicht immer alles verstanden habe, was er formulierte…
Die Idee für „Das Kraus-Projekt“ kam dem amerikanischen Romancier Franzen in Berlin, wo er als 22-jähriger deutsche Literatur und Philosophie studierte. Er war ein „angry young man“ und bewunderte das Werk des hundert Jahre älteren Österreichers, ein zeitlebens von Zorn getriebener Autor von Aphorismen, Gedichten, Essays, Herausgeber und bald einmal alleiniger Autor der „Fackel“, einer Satire-Zeitschrift, die viele Feinde und wenige, dafür hochkarätige Freunde zu ihren Lesern zählte. Kraus hat immer nur für ein kleines literarisches Publikum geschrieben. Er war ein unerbittlicher Aufklärer, ein Sprachgenie, dazu ein luzider, in manchen seiner Aphorismen und Essays prophetisch anmutender Autor und wurde von den berühmtesten seiner Zeitgenossen (Kafka zum Beispiel) verehrt.
Fussnotenprosa
In seinem „Kraus-Projekt“ präsentiert Franzen zwei der bekanntesten Essays von Kraus: „Heine und die Folgen“, 1910 entstanden, „Nestroy und die Nachwelt“, 1912 erschienen. Die Originaltexte laufen, halbfett gedruckt, im oberen Teil der Seiten durch das Buch, unten stehen Franzens Kommentare zu einzelnen Textstellen. Entstanden ist eine Art Fussnotenprosa. Sie überwuchert die Originaltexte mengenmässig und lässt sie gleichzeitig transparenter und immer noch transparenter werden. Bei kniffligen Interpretationsproblemen zieht Franzen den Kraus-Experten Paul Reitter bei oder lässt sich vom befreundeten deutsch-österreichischen Autor Daniel Kehlmann beraten.
Im Bereich der Textoberfläche bemühen sich Franzen und seine Helfer ganz einfach um faktische Klärungen: Namen, Anspielungen, Zitate müssen erläutert werden. Witz und Zorn, die explosive Produktivität des Karl Kraus entzündeten sich vornehmlich an dem, was der Österreicher täglich sah, hörte und vor allem: las. Nichts hasste er mehr als die österreichische Presse seiner Zeit; als eine Art Überjournalist ironisierte, verhöhnte und denunzierte er in der „Fackel“, was er eben den Zeitungen entnommen hatte. Ein höllisches Feuerwerk wurde da alle paar Tage entzündet, das einen auch hundert Jahre später nicht unbeeindruckt lässt. Bestand aber eignet dem splitterhaften Werk des Satirikers natürlich nicht wegen der zeitabhängigen Polemiken, Anekdoten, sondern wegen der schnellen Überführung solcher Anlässe in philosophische oder moralische oder utopische Kategorien, die, unabhängig vom Zeitkolorit, auch heute noch nachdenkenswerten Stoff in Hülle und Fülle hergeben.
Unangemessenes
Diese tieferen Bereiche der Texte versucht Franzen auszuloten. Er spekuliert, paraphrasiert, deutet – und lässt den Leser teilhaben an seinen Zweifeln. Gelegentlich macht sich seine Fussnotenprosa selbständig, entfernt sich vom Gegenstand der Untersuchung, um ins Autobiografische abzutauchen. Manchmal erscheint die an sich schöne, amerikanische Unbefangenheit dem europäischen Kulturdenkmal gegenüber als unangemessen. Dann zum Beispiel, wenn über Seiten diskutiert wird, was Kraus „cool“ und was er „uncool“ nennen würde; oder wenn er und seine Opfer mit Hemingway, mit Bob Dylan verglichen werden.
An den beiden zur Debatte stehenden Kraus-Texte demonstriert Franzen brillant die stilistischen Methoden, die der Österreicher anwandte, um seine Untersuchungen und Feldzüge zu führen. Heinrich Heine, wie Kraus ein zum Katholizismus konvertierter Jude, stand dem Österreicher im Weg, er musste den populären Vorgänger, Vordenker, der in Manchem, was er geschrieben hat, dem Nachgeborenen nicht fremd sein konnte, niedermachen – und er tut es in besagtem Aufsatz „Heine und die Folgen“ mit der ihm eigenen Verve, bezichtigt Heine des Opportunismus, der Heuchelei, der Sentimentalität, sieht in ihm den ersten Feuilletonisten. Wenn Kraus etwas aus tiefstem Herzen verabscheute, dann die Feuilletonisten. (Dabei war er, wenn man den Begriff weit genug fasst, selber einer. Der beste, den es je gegeben hat!).
Der grosse Hasser
Schlimm, dass Kraus auch vor antisemitischen Invektiven nicht zurückschreckt, die er Heine verpasst. Der grosse Hasser Kraus verfügte auch über hassenswerte Eigenschaften. Sein notorischer Antisemitismus gehört dazu oder die Tatsache, dass er zwar ein Weltmeister im Austeilen, aber eine Mimose im Einstecken war, reihenweise Berufskollegen verbal malträtierte, aber bei allfälligen Retourkutschen sofort seinen Anwalt mobilisierte, den er sich, als wohlbestallter Erbe, leisten konnte. Auch kann man verstehen, wenn ihn viele Frauen nicht lustig finden. Wobei die Art, in der er „das Weib“, wie es bei ihm meistens heisst, charakterisiert, nur noch unfreiwillig komisch wirkt.
Im Nestroy-Essay kommt eine andere Seite des Österreichers zur Geltung. Den Komödienschreiber will er für die Nachwelt retten, will ihn vom Klischee des Farceurs, des blossen Spassmachers befreien. Zu Recht. Als scharfzüngiger Satiriker, als Aphoristiker und Dichter (in den Couplets) steht Johann Nestroy Karl Kraus nicht nach – und in diesem Fall fühlt sich der nachgeborene Bewunderer zum Interpreten und Verteidiger berufen, der versucht, den Volksschauspieler, den Fertiger von Schwänken aus einer falschen Schublade zu befreien. Auch das ist ein mit Verve geschriebener Text geworden. Die Wut, die in ihm kocht, richtet sich dieses Mal nicht gegen das Subjekt der Untersuchung, sondern gegen diejenigen, die den von Nestroy verspotteten Spiessbürgern gleichen – und das waren nach Kraus zu seinen Lebzeiten nahezu alle.
Jonathan Franzen: Das Kraus-Projekt; aus dem Englischen von Martina Abarbanell; Rowohlt Verlag