Der amerikanische Verteidigungsminister Chuk Hagel besuchte am 9. Dezember Pakistan, um mit Ministerpräsident Nawaz Sharif zu sprechen. Es ist der erste Besuch eines Verteidigungsministers der USA seit vier Jahren. Amerikanische Generäle und Admiräle waren viel häufigere Besucher.
Der Besuch kommt zu einer Zeit, in der die pakistanische Regierung Schritte unternimmt, um die pakistanischen Militärs etwas mehr als gewöhnlich unter politische Kontrolle zu bringen. Bisher war das allzu oft umgekehrt, die zivilen Politiker unterstanden – manchmal de jure, wenn Notstandsrecht herrschte, dann wieder, bei Aufhebung des Notstandes, bloss de facto – den Militärs.
Die sich heute als Möglichkeit abzeichnende Machtverschiebung hat viele Gründe. Es gibt solche personaler Natur: Der langjährige Generalstabschef Pakistans, Ashfaq Kayani, der vor seiner Ernennung zu dieser Spitzenposition lange Zeit Chef von ISI gewesen war, dem hochpolitischen pakistanischen Geheimdienst, ist – seinen Aussagen nach freiwillig – in Pension gegangen.
Ein neuer Generalstabschef
Sein Nachfolger wurde nicht ein Mann von ISI, sondern der zu diesem Zweck zum General beförderte bisherige Chef des Ausbildungswesens in der Armee, Rahil Sharif. Er gilt als einer der hohen Offiziere, die für mehr Konzentration der Streitkräfte auf die militärischen Belange eintreten und die allzu weit reichende politische Einflussnahme der Militärs kritisieren. Seine Ernennung, offiziell durch den Ministerpräsidenten am 27. November, war auf Vorschlag der höchsten Generäle der Streitkräfte zustande gekommen. Sie pflegen den Kandidaten für das Oberste Kommando dem Ministerpräsident zu empfehlen.
Es gibt viel Anlass zur Kritik an der politischen Rolle des Militärs, und damit kommt man auf die sachlichen Gründe der sich gegenwärtig möglicherweise abzeichnenden Machtverschiebung: Die Politik der Offiziere, die seit Jahrzehnten von ISI gestreuert wird, hat sich als schädlich für Pakistan erwiesen. Sie war so schlecht, dass sie Pakistan in eine Krise getrieben haben, aus welcher nun die zivilen Politiker das Land wieder freispielen sollen.
Islamistische Hilfskräfte der Armee
Einer der heute erkennbaren schwerwiegenden Fehler der Militärs war ihre halbgeheime Zusammenarbeit mit den terroristischen Islamisten. Sie wurde zwar systematisch abgestritten, war jedoch im Fall des überraschenden Endes von Osama Bin Laden in der Garnisonstadt Abbotabad etwas zu deutlich weltweit sichtbar zu Tage getreten. Diese Politik von ISI beruhte auf der Annahme, dass die Streitkräfte die Islamisten zu steuern und zu kontrollieren vermöchten und dass es deshalb ein schlauer Schachzug sei, sie zu uneingestandenen Werkzeugen der Armeepolitik zu machen.
Die Ursprünge dieser Politik liegen ein halbes Jahrhundert zurück in Kaschmir. Als nach dem bitteren Trennungskrieg zwischen Indien und dem neu entstehenden Pakistan 1947 das mehrheitlich von Muslimen bewohnte Berggebiet Kashmirs zu Indien geschlagen wurde, weil es von einem Hindu Raja regiert wurde, und als die UNO ein Plebiszit versprach, durch das die Bevölkerung von Kaschmir über ihre künftige Zugehörigkeit entscheiden dürfe, das Plebiszit aber nie zustande kam, da mobilisierte die pakistanische Seite Mujahedin, Kämpfer im Heiligen Krieg, um ihren Einfluss in dem bis heute umstrittenen Land, geltend zu machen.
Dies war ein Teilerfolg. Die Mujahedin konnten die nördlichen Hochgebirgsteile des Landes Kaschmir besetzen und gegen die indische Armee halten. Bis heute gibt es eine in pakistanischen Augen «befreite» Zone von Kaschmir in der Hochgebirgsregion des Nordens, die von Pakistan verwaltet wird und in der Praxis zu Pakistan gehört.
Dann kommt südlich «the line of control» die Trennungslinie, die bis heute von UNO-Beobachtern kontrolliert und abgesichert wird. Auf der südlichen Seite befindet sich der indische Gliedstaat Kaschmir. Er ist im Verlauf der letzten Jahrzehnte mehrmals von der indischen Armee unter direkte Kotrolle gestellt worden, sobald dort neue Unruhewellen ausbrachen.
Diese wurden von den indischen Behörden nicht ohne Grund auf die heimliche Hand Pakistans zurückgeführt. Was für Jahrzehnte von schlechten Beziehungen zwischen den feindlichen Brudernationen gesorgt hat. In Kaschmir gibt es aber auch starke Ressentiments der Bevölkerung gegen das indische Besetzungsregime, das eine sehr harte und manchmal brutale Niederhaltungspolitik betreibt. Wahrscheinlich wären die meisten Bewohner Kaschmirs in den muslimischen Landesteilen heute am liebsten weder indisch noch pakistanisch, sondern unabhängig.
Irreguläre auch in Afghanistan
All dies sei hier nur gestreift, um den Ursprung der Zusammenarbeit der pakistanischen Armee mit den Mujahedin und der Guerilladoktrin der Streitkräfte zu erklären, die sich damals herausbildete. Basierend auf Mujahedinn, wurde auch auf Afghanistan ausgedehnt. Dort suchte die pakistanische Armee unter der Führung des Geheimdienstes ISI (Inter Service Intelligence) «strategische Tiefe» gegenüber Indien. Schliesslich war Afghanistan ja ein muslimisches Land, wie Kaschmir.
Es gab aber einen Grenzstreit zwischen Afghanistan und Pakistan, der sich um die paschtunischen Stammesgebiete drehte. Auch dort gibt es eine «line of control» (keine wirkliche Grenze). Sie zieht sich mitten durch die Stammesgebiete der Paschtunen hindurch und trennt diese in eine afghanische und eine einst indische, heute pakistanische Seite. Sie heisst «Durand Line», weil ein britischer Civil Servant namens Mortimer Durand sie in Übereinkunft mit dem afghanischen Emir Abdur-Rahman Khan 1893 zur Trennung der «Einflusssphären» gezogen hat.
Umstrittene Grenzregelung
Nach der Entstehung Pakistans verweigerte Afghanistan, damals noch ein Königreich, die Anerkennung dieser Linie als offizielle Grenze zu dem neuen Staat Pakistan. Kabul wollte mit Karachi (der damaligen Hauptstadt) darüber verhandeln, wie die endgültige Grenze zu ziehen sei. Schliesslich bilden die Paschtunen das grösste Volk des afghanischen Vielvölkerstaates – und auch jenes, aus dem das Königshaus stammte. Sogar der gegenwärtige Präsident, Karzai, ist Paschtune. Dass gerade dieses Volk durch die Trennungslinie aus der Kolonialzeit durchschnitten werden und geteilt bleiben sollte, wollte den Afghanen nicht einleuchten.
Der Grenzstreit wiederum bewirkte, dass Afghanistan sich mit Delhi gut verstand, während zwischen den beiden muslimischen Nachbarn, Pakistan und Afghanistan, die Spannungen trotz gelegentlichen Versöhnungsbemühungen jahrzehntelang andauerten. ISI sah dies mit strategischem Blick als eine Einkreisungsgefahr durch das feindliche Indien.
Um der drohenden Einkreisung sowohl von Norden aus wie auch an der langen Ostgrenze nach Indien zu entgehen, wurde als ein Hauptziel der Armeepolitik die Umkehrung der Verhältnisse in Afghanistan festgelegt. Dort sollte ein Regime an die Macht gebracht werden, das sich als muslimisches Land auf Pakistan stützte und gegenüber dem indischen Staat Abstand nahm. Instrument dazu, das lag auf der Hand, mussten pakistanische und afghanische Religionskämpfer sein, Mujahedin, wie sie schon in Kaschmir gedient hatten und gelegentlich weiter dienten.
Im Schatten des Kalten Krieges
Später, im Jahr 1979, griff die Sowjetunion in Afghanistan ein. ISI konnte nun seine Politik, die Mujahedin zur Einflussnahme in Afghanistan einzusetzen, ausweiten, sie in den Kalten Krieg einspeisen und amerikanische sowie saudische Rückendeckung für sie erlangen. Damals war auch gerade wieder einmal ein Armeegeneral, Zia ul-Haqq (er regierte 1978 bis 1988) durch Putsch an die Macht gekommen, so dass die Armeepolitik sich mit der Landespolitik Pakistans voll deckte. Der Preis für die Einbindung Pakistans in den Kalten Krieg war natürlich, dass die Sowjetunion zum als Bedrohung eingestuften Landesfeind wurde.
Nach dem Abzug der Russen 1988 konnte Pakistan nicht den erhofften Preis erlangen, nämlich die enge Verbindung zwischen dem eigenen Land und Afghanistan und die Lostrennung Afghanistans von der Freundschaft mit Indien. Dies, weil in Afghanistan ein bitterer Bürgerkrieg unter bewaffneten Gruppen ausgebrochen war, deren meiste zuvor mit Pakistan und den USA gegen die Sowjetunion zusammengearbeitet hatten.
Islamabad sah dem Treiben der Kampfgruppen in seinem Norden sechs Jahre lang zu. Doch schliesslich entschloss es sich einzuschreiten und griff ein weiteres mal zu dem Instrument der Mujahedin. Diesmal bedienten die Geheimdienste sich der Taliban, das heisst Schüler und Studenten der religiösen Schulen (Madrasa), die in Nordpakistan entstanden waren und den Millionen von Flüchtlingen dienten, die aus Afghanistan über die Durand-Linie nach Pakistan ausgewichen waren, um den Kriegen in ihrer Heimat zu entgehen.
Die pakistanischen Geheimdienste, zuerst mit Zustimmung der Ministerpräsidentin Benazir Bhutto und später des Ministerpräsident Nawaz Sharif (der zur Zeit wieder amtiert), mobilisierten die dortigen Taliban, bildeten sie aus, bewaffneten sie und führten sie aus dem Hintergrund an. Ihr Ziel war, eine relativ kleine Gruppe von afghanischen Taliban aus dem Umfeld von Kandahar, die unter der Leitung des Mullah Omar standen, zu unterstützen und ihnen zur Macht über Afghanistan zu verhelfen.
Die pakistanischen Drahtzieher hatten sie als afghanische Partner gewählt, weil sie als tatkräftig, nicht korrupt und daher als bei der Bevölkerung beliebt galten. Entscheidend für die damalige Mobilisierung der pakistanischen und der afghanischen Taliban war das Projekt einer Gas- und später vielleicht auch Petrol-Rohrleitung aus Turkmenistan durch Afghanistan hindurch, dann durch Pakistan bis an den Indischen Ozean. Dieses wurde allerdings in der Folge nie verwirklicht, weil die Sicherheit in Afghanistan nie genügend gefestigt war.
Neuer Anlauf: die Taliban
Es folgte ein blutiges Epos der Eroberungszüge der Taliban, das sie 1994 nach Kandahar, dann 1996 nach Kabul und zwei Jahre später in den afghanischen Westen und Norden, das heisst in die nicht paschtunischen Gebiete der Tadschiken, der afghanischen Turk-Völker und der Hazara führte. Die Taliban genossen dabei militärische Unterstützung durch Pakistan und finanzielle Hilfe durch Saudi-Arabien, sowie anfänglich Unterstützung der USA.
Die Politik der Nutzung von Mujahedin für aussenpoltisiche und strategische Zwecke führte innenpolitisch zu einem Wachstum der islamistischen Kampfgruppen. Sie genossen die stillschweigende Unterstützung der mächtigen Militärs und benützten diese, um ihre Basen in Pakistan selbst auszubauen. Den Chefs ihrer unterschiedlichen Gruppen ging es natürlich darum, ihre Versionen des Islams auch im Landesinneren auszubreiten und dadurch auch ihre eigenen Führungspositionen zu stärken.
Heute gibt es neben den Taliban der Stammeszonen Afghanistans und Pakistans auch die Punjabi-Taliban, die aus der Indus-Ebene stammen und dort wirken. Auch die Verbindungen, die zwischen Pakistan und Afghanistan durch grenzübergreifende Aktivitäten entstanden, nützten den islamistischen Gruppen: Waffen und Krieger gingen aus Pakistan nach Afghanistan; Flüchtlinge und deren Geschäfte, soweit sie beweglich waren, kamen aus Afghanistan nach Pakistan und setzten sich in Karachi fest.
In dieses Umfeld gehört die Transportlobby der afghanischen Lastwagenbetreiber und die Drogenlobby des Opiumschmuggels – Netze, die von Kabul bis nach Karachi reichen.
In den paschtunischen Stammesgebieten, die nur sehr teilweise unter der Kontrolle der pakistanischen Regierung standen, gab es wachsende Einflusszonen der Islamisten, die sich mit den Stämmen verbündeten und mit diesen Verbündeten auf beiden Seiten der Durand-Linie Gewicht gewannen.
In Kabul jedoch ging die Rechnung von ISI erneut nicht auf. Die Taliban sagten sich von ihren pakistanischen Ursprüngen los, sobald sie eigene Macht gewannen, und sie führten ihr eigenes Regime in Afghanistan ein, ohne sich allzu sehr um die pakistanischen Anliegen zu kümmern. Pakistan und Saudi-Arabien blieben die einzigen Staaten, die ihr Regime offiziell anerkannten.
Der Asylant Bin Laden
Der durch amerikanischen Druck aus dem Sudan vertriebene saudische Exilant Bin Laden fand mit seinen Anhängern bei den Taliban in Afghanistan Zuflucht. Sein erfolgreicher Schlag gegen New York und Washington gewichtete die bestehende Lage in Afghanistan und in den Stammesgebieten der Grenze neu. Afghanistan wurde zum ersten Einsatz in dem nun entfachten amerikanischen «Krieg gegen den Terrorismus», und Pakistan musste sich, ähnlich wie schon dreissig Jahre zuvor, als die Sowjetunion Afghanistan angriff, entscheiden, wie es sich positionieren wollte. Vorgegeben war: jedenfalls anders als Indien.
Damals war gerade General Pervez Musharraf (Putsch1999, «Präsident» 2011 bis 2008) an die Macht gelangt, in dem er Nawaz Sharif, damals wie heute Ministerpräsident, absetzte und ins Exil trieb. Er schloss sich den amerikanischen Wünschen an, die ein Engagement Pakistans auf ihrer Seite im «Krieg gegen den Terrorismus» forderten. Dafür erhielt er aus Amerika Geld und Waffen für die Armee. Frühere Hilfsleistungen, wie sie zur Zeit des Kampfes gegen die Sowjetunion bestanden, waren aufgehoben worden, weil Pakistan seine eigene Atomwaffe gebaut hatte. Nun wurden die Unterstützung wieder eingeführt.
Wie weit Musharraf selbst bestimmte, dass trotz dem Engagement auf der amerikanischen Seite auch eine heimliche Zusammenarbeit mit den afghanischen Taliban fortdauern sollte, oder inwieweit dies das Werk seiner Geheimdienste war, von dem er nichts wusste oder nichts wissen wollte, ist bis heute unklar geblieben. Jedenfalls gab es diese Zusammenarbeit.
Sie hat bis heute nicht aufgehört. Der Mullah Omar, von seinen Taliban Anhängern zum Emir, ja zum Khalifa erklärt, lebt bis heute unter dem Schutz der pakistanischen Militärs in Quetta, der Hauptsatdt der pakistanischen Provinz Belutschistan. Man hat anzunehmen, dass wichtige Teile der pakistanischen Armee, zweifellos unter Aufsicht von ISI, die Karte nicht aus der Hand geben wollten, welche sie seit einem halben Jahrhundert immer wieder ausgespielt hatten: in Kashmir wie auch direkt gegen Indien und in Afghanistan.
Faktor Indien im komplexen Kräfteverhältnis
Wie erfolgreich sie dabei waren, hängt von der Beurteilung ab. Die pakistanischen Offiziere waren geneigt, ihre Aktionen, auch wenn sie nur halbe Erfolge zeitigten oder eher daneben gingen, als volle Erfolge zu buchen. Dabei war ihr Hauptargument: Ohne die Tätigkeit der «Irregulären», die sie aus dem Hintergrund lenkten, wäre die indische Armee noch viel überlegener gewesen, als es in den verschiedenen Kriegen zwischen Indien und Pakistan (1947, 1965, 1971, 1999) der Fall gewesen war.
Die «Irregulären», so die Argumentation weiter, hätten beständig bedeutende Teile der indischen Armee in Kaschmir und anderswo durch Sicherheitsaufgaben gebunden. Diese indischen Truppen wären ohne sie frei gewesen, gegen Pakistan zu kämpfen oder in Zeiten der Waffenstillstände auf Pakistan Druck auszuüben. – Da derartige Argumente auf vermuteten Möglichkeiten und Befürchtungen beruhen, ist es schwer, ihnen beizukommen.
Was immer die Hintergründe und die wirklichen Verantwortlichkeiten sein mögen: Die Zusammenarbeit der Streitkräfte mit den Taliban Afghanistans und mit verschiedenen pakistanischen Mujahedin-Gruppen dauerte trotz dem Bündnis mit Amerika gegen die Taliban an. Pakistan, genauer gesagt ISI, sorgte nicht nur für das Asyl der Exilregierung der Taliban in Quetta; die Militärs hatten offensichtlich auch für Bin Laden selbst etwas arrangiert. Sie unterhielten zudem Verbindungen zu Kämpfern an der Durand-Linie, wie zu Haqqani-Milizen, die auf der pakistanischen Seite der Linie leben, aber vorwiegend auf der afghanischen kämpfen.
Ihr Rückhalt in Pakistan – und dort vor allen in den halb unabhängigen Grenzgebieten der Paschtunenstämme – erlaubte den Taliban in den Jahren des amerikanischen Hauptengagements im Irak (2003- 2009) ihre Präsenz im afghanischen Hinterland wieder aufzubauen und überall dort zu dominieren, wo der Einfluss der Nato-Besetzungstruppen nicht hinreichte. Dies sind sehr weite Teile des oftmals schwer zugänglichen afghanischen Hinterlandes.
Die pakistanischen Taliban
Zur Zeit Musharrafs wuchs auch der Einfluss der Freunde der Taliban auf pakistanischem Gebiet. Auch dabei ist unklar, wieweit mit Billigung, Duldung oder gar Ermunterung durch ISI. Es gab wohl all dies, je nach der spezifischen Einzellage in unterschiedlichen Regionen und Sammesgebieten und nach deren Beurteilung durch die politisierenden Offiziere. Es gab aber auch Versuche der Armee, Territorien, wo der Staat Pakistan seine Befehlsgewalt verloren hatte, zurückzuerobern, meist unter schweren Verlusten an Mannschaften und grossen Leiden der Zivilbevölkerung.
Ein wichtiges Beispiel war Swat im Jahre 2009. Die Armee verlor das dicht bevölkerte Bergtal an radikale Islamisten. Zuvor hatte sie mehrere Kriegsaktionen in Swat durchgeführt und danach ein Stillhalteabkommen geschlossen, an welches die Islamisten sich aber nicht hielten. Darauf schritt die Armee zur Wiedereroberung, nachdem sie dafür gesorgt hatte, dass die gesamte Bevölkerung, 2,5 Millionen Menschen, evakuiert wurde. Heute ist die Bevölkerung zurückgekehrt und hat ihre teilweise zerstörten Häuser wieder aufgebaut. Doch Armeeeinheiten stehen noch immer in Swat, weil Anzeichen dafür bestehen, dass die Islamisten versuchen, in kleinen Schritten in das Tal zurückzukehren.
Andere der Stammesgebiete beschloss die Armee sich selbst zu überlassen. Ihre Spitzenoffiziere erklärten offen, dass die Armee nicht in der Lage sei, alle Berggebiete an der aghanischen Grenze permanent zurückzuerobern und besetzt zu halten, wenn sie gleichzeitig die anderen ihr gestellten Hauptaufgaben wahrnehmen wolle. Unter diesen dürfte vor allem die Wacht an de langen indischen Grenze zu verstehen sein. Das wichstigste der Gebiete, die die Armee nie voll unter ihre Oberaufsicht zu bringen vermochte, ist Nordwaziristan, das sich aus diesem Grunde zu einem Unterschlupf und Hinterland für die Taliban-Kämpfer entwickelte, der afghanischen Taliban wie der pakistanischen.
Drohnenangriffe statt Invasionen
Die amerikanischen Militärs drängten ihre pakistanischen Kollegen verschiedentlich, sie sollten für «Ordnung» auf ihrer Seite der Grenze sorgen. Doch die pakistanische Armee beharrte darauf, dass sie darüber zu entscheiden habe, welche Offensiven sie unternehme und welche sie vermeiden wolle. Dies wiederum führte dazu, dass die Amerikaner ihre Drohnenwaffe nicht nur in Afghanistan einsetzten, sondern auch zunehmend in den pakistanischen Stammesgebieten, in erster Linie in Nordwaziristan.
Doch auch bei Drohneneinsätzen herrscht absichtlich kultivierte Undurchsichtigkeit, die mit der Zeit zu einem Lügengewebe aus falschen und teilweise zutreffenden, stets propagandistisch gefärbten und gezielt unklar gehaltenen Aussagen führt. Offiziell ist Pakistan wütend über die Drohnen, die einen Eingriff in die pakistanischen Hoheitsrechte bedeuten. Doch in Wirklichkeit fliegen die Drohnen in vielen Fällen von pakistanischen Militärflugplätzen aus, obwohl sie aus Amerika ferngesteurt werden.
Unklarheit herrscht insbesondere auch bei Opferzahlen. In bestimmten Gebieten, darunter natürlich Waziristan, werden alle männlichen Personen im Dienstalter als «feindliche Personen» eingestuft und auf die Liste der erlegten «Terroristen» gesetzt, wenn sie ihr Leben verlieren. Man kann dann natürlich auch die Personen mitrechnen, deren Geschlecht oder Alter nicht genau bestimmt werden konnte. So vermindert man die Zahl der «Kollateralschäden».
Die Rechnungen der betroffenen Bevölkerungen fallen allerdings anders aus als jene der Urheber ferngesteuerter Luftüberfälle. Die Wut über die als heimtückisch empfundenen Schläge aus heiterem Himmel wächst in ganz Pakistan, und es sind natürlich die Islamisten und ihre Kampfgruppen, die davon profitieren.
Die Rote Moschee von Islamabad
Es war unter Musharraf im Sommer 2007, als radikale «Studenten», Taliban eben, deren Zentrum die Rote Moschee in Islamabad bildete, ihre Macht auf das ganze Quartier rund um die Moschee auszudehnen versuchten. Es ist das gleiche Quartier, in dem ISI seinen Hauptsitz hat. Die dortige Rote Moschee war seit ihrer Gründung im Jahr 1965 ein Zentrum fundamentalistischen Islamverständnisses gewesen. Der spätere Diktator Zia ul-Haqq, damals noch Generalstabschef, stand dem Moscheegründer nahe. Dieser, ein feuriger Prediger, namens Muhammed Abdullah Ghazi, war 1998 ermordet worden. Seine beiden Söhne, Abdul Aziz und Rashid Ghazi, hatten den Vorsitz der Moschee übernommen. Eine Schule für Frauen war angegliedert worden.
Nach dem Vorbild der afghanischen Taliban waren die Taliban der Roten Moschee bewaffnet. Sie gingen jedoch nicht mit den Waffen auf die Strasse. Sie versuchten die Einwohner ihres Quartiers soweit unter Druck zu setzen, dass sie sich ihren Vorstellungen von islamischer Lebensart fügten: keine Musik und keine Musikläden, Verschleierung aller Frauen, am liebsten auch Bärte für Männer, islamische Gewandung, keine europäischen Anzüge, Einhaltung aller Gebetszeiten durch alle, natürlich kein Alkohol, auch keine Läden, wo er verkauft wurde usw.
Als ihr Treiben zu Unruhen führte, wobei die gewaltsame Räumung eines bekannten Bordells durch die eifernden Studentinnen und Studenten einen Höhepunkt bildete (das Bordell «Aspara» soll bei den ISI-Offizieren beliebt gewesen sein). Vielfache Gewaltakte rund um die Moschee führten zu Warnungen der Regierung. Nach vorangegangenen Verhandlungen beschloss Musharraf, militärische Sondereinheiten – die «Rangers» – einzusetzen, um die Rote Moschee zu stürmen und zu evakuieren.
Dies führte zu einem Kampf, der vom 7. bis zum 11. Juli 2007 dauerte. Zwischen 300 und 1’000 (je nach den Quellen, denen man Glauben schenkt) Personen verloren dabei ihr Leben. Einer der beiden Hauptgeistlichen der Moschee kam um, sein Bruder suchte zu fliehen, wurde jedoch gefangengenommen. Ayman az-Zawahiri, damals noch der Zweite Mann von al-Kaida, soll in Briefkontakt mit den beiden Brüdern gestanden sein.
Wendepunkt zu verschärfter Radikalisierung
Die Aktionen um die Rote Moschee und ihre «Studenten» bedeuteten einen Wendepunkt für Pakistan. Die fundamentalistischen Milizen in den Stammesgebieten, die schon zuvor vielfach mit der Armee zusammengestossen waren, aber auch mehrmals Friedensverträge mit ihr geschlossen hatten, schworen Rache für ihre Glaubensgenossen. In den folgenden Monaten verzehnfachten sich die Selbstmordanschläge, die gegen die Armee und ihre Angehörigen verübt wurden. Mehr und mehr kam es auch zu Bombenanschlägen an Orten, wo sich viele Menschen versammelten, Märkte, Feierlichkeiten an Gräbern von Sufi Heiligen, Nahrungsverteilung an bedürftige Flüchtlinge, Stammesversammlungen. Die Zahl der Opfer stieg in die Tausende und wächst auch gegenwärtig noch weiter.
Pakistan muss nicht nur mit den afghanischen Taliban rechnen sondern auch mit den pakistanischen. Sie sind seit 2007 so mächtig geworden, dass die heutige Regierungspartei auf ihrem Wahlprogramm zukünftige Verhandlungen mit den Taliban als eines ihrer Hauptversprechen aufführte. Nun will sie dies nach ihrem Wahlsieg auch verwirklichen.
Doch es ist bisher unklar geblieben, ob die pakistanischen Taliban wirklich mit Nawaz Sharif zu verhandeln gedenken. Ihr bekanntester Anführer seit 2009, als sein Vorgänger, Beitullah Mehsud, einem Drohnenschlag erlag, war Hakimullah Mehsud. (Mehsud ist eine Stammesbezeichnung, nicht ein Familienname, die Mehsuds sind daher Stammesgenossen aber nicht notwenigerweise enge Verwandte.)
Hakimullah Mehsud erklärte sich im Oktober dieses Jahres bereit zu Friedensverhandlungen, jedoch unter der Vorbedingung, dass die Drohnenschläge eingestellt würden. Kurz darauf, am 1. November wurde auch er durch eine amerikanische Drohne getötet. Wer sein Nachfolger als Führer der pakistanischen Taliban werde, war Gegenstand vieler Spekulationen in Pakistan. Optimisten setzten darauf, dass einer der Befürworter von Gesprächen mit Nawaz Sharif die Nachfolge übernehme. Manche sprachen sogar von einer bevorstehenden Spaltung der pakistanischen Taliban.
Doch das Gegenteil trat ein. Die Stammesführung der Mehsud, die die wichtigsten Träger der Organisation umfasst, einigte sich auf einen Extremisten, den Mullah Fazlullah, der Rache für den Tod seines Vorgängers versprach und erklärte, sein erstes Ziel werde Generalstabschef Kayani sein, das inzwischen zurückgetretene Oberhaupt der pakistanischen Armee.
Fazlullah nun Führer der pakistanischenTaliban
Mullah Fazlullah, auch als der Radiomullah bekannt, weil er als erster der Radikalen auf illegalen UKW-Sendern Predigten hielt, die ihn in der ganzen Stammeszone bekannt machten, war der Chef der Taliban, die das Swat Tal von 2007 bis 2009 beherrschten, bis die Armee sie in dem oben erwähnten Feldzug aus Swat vertrieb. In seinen Radiopredigten, die er heute aus der schwer zugänglichen afghanischen Grenzprovinz Kunar ausstrahlt, wetterte er gegen die Amerikaner, aber auch gegen die Sanitäter, die versuchen, die Kinder der Stammesleute gegen Kinderlähmung zu impfen. Nach Fazlullah sind sie Agenten der Amerikaner.
Seine Predigten haben dazu geführt, dass einige der Sanitäter ermordet wurden. Fazlullah hat sich auch gerühmt, er habe den Befehl zu dem Mordversuch an der Schülerin Malala Yousafzai gegeben, der weltweites Aufsehen erregte. Ihr «Verbrechen» war, für die Schulbildung von Mädchen einzutreten, und sie wurde dafür in den Kopf geschossen, konnte jedoch dank rascher medizinischer Hilfe – zuerst in Pakistan, dann in London – gerettet werden.
Die Wahl dieses Mullahs zum neuen Chef der pakistanischen Taliban ist eine Kampfansage. Sie dürfte alle Verhandlungs- und Friedenspläne untergraben. Der pakistanische Innenminister hat offen erklärt, der Drohnenanschlag sei von den Amerikanern durchgeführt worden, um Pakistans Friedenspläne zu verhindern, und die politische Klasse Pakistans war dementsprechend erbost.
Sie ist ohnehin gegen die Drohnen eingestellt und hat von den Amerikanern gefordert, sie hätten die Angriffe zu beenden oder mindestens von der Zustimmung Pakistans abhängig zu machen. Ob man den pakistanischen Anklagen gegen Amerika Glauben schenkt oder nicht, jedenfalls ist die Nachfolgeregelung mit der Ernennung des radikalsten aller Kandidaten einmal mehr ein Indiz für die politische Wirkung, welche der Drohnenterror hervorbringt: Die Drohnen fördern den Aufstieg der Radikalsten der Radikalen unter den islamistischen Kämpfern. Ein Phänomen, das die Amerikaner eigentlich in Rechnung stellen sollten zu Zeiten, in denen auch sie Verhandlungen mit den Taliban, in ihrem Falle mit jenen Afghanistans, anstreben – sie aber bisher nicht einmal zu eröffnen vermochten.
Geheimgefangene vor dem Obergericht
Als neuestes Anzeichen dafür, dass eine Unterordnung der Militärs unter die zivile Regierung mindestens angestrebt wird, kann man das für Pakistan einzigartige Phänomen bezeichnen, dass Gefangene von ISI auf Befehl des Obersten Gerichtshofs von Pakistan den Gerichten vorgeführt wurden. Dies geschah am 7. Dezember. 14 Personen, die «verschwunden» waren, erschienen vor dem Gericht. Sechs von ihnen wurden von Verwandten identifiziert als Personen, die den Militärs worden seien, nachdem sie in einem normalen Gefängnis festgehalten worden waren.
Vertreter der Militärs, die natürlich ihre eigenen Rechtsanwälte besitzen, erklärten, weitere Gefangene würden demnächst dem Gericht vorgeführt werden. Verwandte von 35 Personen hatten beim Obersten Gericht geklagt, um zu erwirken, dass diese, alle vermutlich in militärischen Händen, vor Gericht erscheinen.
Das Oberste Gericht hatte im Juni 2012 ISI dazu verurteilt, dem Gericht zu erklären, was mit einem seiner vermuteteten Gefangenen geschehen sei, Dieser ist Akash Mallah, der Chef einer politischen Partei, die für die Autonomie von Sind wirkt. Er verschwand im Oktober 2009 in der Stadt Hyderabad, nachdem er schon zuvor, 2006 für 18 Monate ohne Anklage festgehalten worden war. Die lokale Polizei hatte auf Anweisung des Gerichtes hin festgestellt, dass er von den Militärs festgehalten werde.
Diese pflegen – so die Aussagen von Menschenrechtsorganisationen – Hunderte von politisch Engagierten ohne Anklage gefangen zu halten. Viele der Verschwundenen und vermutlich Gefangenen sind Personen, die für mehr Autonomie, oder wie in Belutschistan, Unabhängigkeit ihrer Landsteile eintreten. ISI beruft sich dabei auf einen «Pakistan Army Act». Die Agenten werfen ihren Gefangenen «unpatriotische Handlungen» vor.
Es wird angenommen, dass viele der Gefangenen gefoltert werden. Im Jahr 2012 hatte das Oberste Gericht auf Klagen von Verwandten hin angeordnet, dass sieben dieser Gefangenen von den Geheimdiensten an Spitäler übergeben und dort behandelt würden. Diese Sieben erschienen nun ebenfalls vor Gericht. Drei von ihnen konnten nicht selbst gehen. Sie brauchten Hilfe dazu. Klagen liegen vor, nach denen vier weitere aus der gleichen Gruppe zu Tode gefoltert worden seien. ISI Advokaten bestreiten dies.
Nach den Menschenrechtsorganisationen sind Hunderte von Menschen auf ähnliche Weise «verschwunden». Dies gilt besonders von Belutschen, die beschuldigt werden, der Unabhängigkeitsbewegung dieser weiten Wüstenprovinz, in der es Erdgasvorkommen gibt, anzugehören. Die NGOs sehen in diesen Ereignissen ein systematisches Vorgehen, das dazu dienen soll, die Unabhängigkeitsbestrebungen in verschiedenen Landesteilen einzuschüchtern. Dass die Gerichte ISI zwingen, wenigstens einige ihrer Gefangenen vor die Schranken zu bringen, ist in Pakistan bisher noch nie dagewesen.
Versteckspiel um einen Arzt
Bisher nicht vor Gericht erschienen ist der Arzt Dr. Shakil Afridi, den ISI festgenommen hat, weil er als Gesundheitsbeamter in der Provinz, in der Abbotabad liegt, anscheinend auf Anregung durch die CIA, mit einer Impfkampagne geholfen hat, Bin Ladens Familie zu identifizieren. Die Amerikaner haben es ausgeplaudert und den Arzt einen Helden genannt. Doch ISI sah das nicht so, sondern als eine unpatriotische Handlung. Die Geheimdienstleute hielten den Arzt ein Jahr lang gefangen, um ihn zu verhören. Dann sorgten sie dafür, dass er von einem Stammesgericht zu 33 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, ohne je einem regulären Gericht vorgestellt zu werden. Die Bestrafung erfolgte auf Grund angeblicher Vergehen, die ihm schwerlich zugeschrieben werden können.
Das Vorgehen beruht auf einer speziellen Gesetzgebung, die für die Stammesgebiete gilt. Dieses Urteil wurde von einem regulären Gericht kassiert. Doch eine neue Anklage wurde organisiert, diesmal von einer Patientin, die behauptet, der Arzt habe sie durch seine Behandlung geschädigt. Auch diesmal, ohne dass der Angeklagte vor dem Gericht erschien. Man weiss nur deshalb einiges von dem Vorgehen gegen ihn, weil es ihm gelungen ist, einige Informationen über seine Lage – er klagte auch über Folter – nach aussen zu durchzubringen.
ISI ist offenbar nicht gewillt, den wirklichen Grund für die Verfolgung des Arztes offenzulegen, weil die Militärbehörden damit zugeben müssten, dass sie in der Tat Bin Ladens Unterschlupf organisiert hatten. Was sie bisher abgestritten haben.
Bei alledem bleibt: Es ist zum ersten Mal in der Geschichte Pakistans, dass ISI sich veranlasst sieht, auf Weisungen des Höchsten Gerichtes einige ihrer wahrscheinlich Hunderten von Gefangenen (wieviele davon noch leben, weiss man allerdings nicht) vor ein reguläres Gericht zu bringen.
Zurzeit geringe Putschgefahr
Die aussenpolitische, die Sicherheits- und die wirtschaftliche Lage Pakistans sind heute dermassen schwierig, dass man vermuten kann, die Armeeoffiziere hätten zurzeit wenig Interesse daran, die Macht einmal mehr zu übernehmen. Sie scheinen eher bereit, der gewählten Regierung die schwierige Aufgabe zu überlassen, Pakistan vor der wachsenden Macht der Islamisten zu bewahren und den dringlichsten Wirtschaftsproblemen abzuhelfen, allen voran dem akuten Mangel an Elektrizität, der alle Wirtschaftsproduktion beeinträchtigt.
Diese Zurückhaltung der Militärs schafft einen Freiraum für die zivile Regierung, und sie versucht ihn auszunützen, um das Machtgleichgewicht zwischen ihr selbst und den politischen Organen der Streitkräfte etwas zu ihren Gunsten zu verschieben.