Die uns überflutenden Informationen sind ein kleines Problem gemessen an der Schwierigkeit, in den Medien die Wahrheit von der Unwahrheit zu unterscheiden, die Tatsachen von den Gerüchten und die redlichen von den unredlichen Absichten. Wir tappen in Fallen und merken es, wenn überhaupt, zu spät. Was der eigenen Meinung oder dem eigenen Vorurteil entspricht, halten wir vorschnell für wahr. Das Leise unterliegt dem Lauten, die Differenzierung der Vereinfachung, die Warnung dem Heilsversprechen. Eine Zeiterscheinung?
Pessimistische Mahnung
Was gemeinhin als Zeiterscheinung gilt, ist insofern keine, als Joseph Roth das Problem bereits 1939 mahnend und pessimistisch beschrieb. Der unter dem Datum vom 1./2. Januar in der „Pariser Tageszeitung“ veröffentlichte „Leitfaden für Zeitungsleser anno 1939“ – fünf Monate vor dem Tod des Schriftstellers und Journalisten im Pariser Exil – ist noch heute lesens- und bedenkenswert.
Roth beschreibt in seinem Artikel, der in der Gesamtausgabe seiner Werke knapp drei Buchseiten umfasst, aufgrund seiner gesammelten Erfahrungen die Dehnungen, Verschleierungen und Verharmlosungen der Wahrheit. Oft sei es auch trotz allen Bemühens schwierig, die Tatsachen zu erkennen und wenn, dann zu respektieren.
Wichtiger Rat
Der Artikel schliesst mit einer begründeten Empfehlung und einem abgründigen Spiel mit Frage- und Ausrufzeichen:
„Nichts deutet darauf hin, dass Diktatoren aufhören werden, die Welt mit ihrem Frieden zu überziehen; dass diejenigen, die befugt, aber nicht berufen sind, über unser Schicksal zu entscheiden, klüger oder einsichtiger sind als du und ich und jener Zeitungsleser dort in der Kaffeehaus-Ecke. Nichts deutet darauf hin, dass die kindische Gläubigkeit, die wir den Worten, Entscheidungen, dem Trachten und Planen dieses oder jenes Staatsmannes entgegenbringen, auch nur die Spur einer Rechtfertigung finden wird. Wahrscheinlich wird unsere Unfähigkeit, das ‚kalte Blut’ zu bewahren, uns dafür jenen prophetischen Pessimismus bewahren, den wir vor den Geschichtemachern, Weltlenkern und den Verwaltern der ‚öffentlichen Meinung’ voraus haben. Woher werden die Winde kommen, deren Beute wir sind? Wohin werden wir verweht, im neuen Jahr? – Ach! Es ist schwer, Sätze zu schreiben, an deren Ende kein Fragezeichen steht. Und der wichtigste Rat, den man dem Leser erteilen kann, ist der: Er traue rückhaltlos nur den Fragesätzen! – Und wird er diesen Rat befolgen?“
Vademecum für die Medien
Der „wichtigste Rat“ richtet sich in erster Linie an die Presse, nämlich Fragen zu formulieren und nicht oder wenigstens nicht sofort Antworten. Wo keine Fragesätze zu lesen sind, läuft der Rat, nur ihnen zu vertrauen, ins Leere.
Der „Leitfaden für Zeitungsleser“ erweist sich als Leitfaden für Zeitungen. Joseph Roth nimmt die eigene Zunft ins Visier und auferlegt ihr die Pflicht, als Vorleistung zu erbringen, was von der Leserschaft erwartet werden müsste: zu zweifeln, argwöhnisch zu sein, die Quellen zu prüfen, keiner Behauptung auf den Leim zu kriechen.
Von Roth stammen direkte und indirekte Fragesätze in einer literarischen und journalistischen Fülle, die ihn zu Ratschlägen ermächtigt. Mit Ausrufzeichen. So sehr, dass sein Leitfaden zu einem Vademecum für die Medien – und die Social Media – schlechthin geworden ist.
Leider besitzt ein einziger Zweifel Allgemeingültigkeit und Ewigkeitswert: ob Ratschläge, auch fundierte, Gefolgschaft finden.
Joseph Roth: Leitfaden für Zeitungsleser anno 1939, Pariser Tageszeitung, 1./2.1.1939, in: Joseph Roth Werke 3, Das journalistische Werk 1929-1939, hg. Klaus Westermann, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1991, S. 857 ff