War früher wirklich alles besser? Nein, das war es ganz bestimmt nicht. Der Spruch wird zwar – anscheinend unausrottbar – von Generation zu Generation weiter gegeben. Aber richtiger wird er damit nicht. Wahr ist dagegen wohl, dass früher vieles einfacher war.
Nehmen wir für Deutschland das 20. Jahrhundert. Zwei Kriege, einer verheerender als der andere. Weltwirtschaftskrise, Hungersnot, Inflation, Nazi-Diktatur, total zerstörtes Land, Millionen von Toten, Flüchtlingen und Vertriebenen, Entbehrung, mühsame moralische Aufarbeitung von bis dahin unvorstellbaren Verbrechen. Oder das 19. Jahrhundert mit Kinderarbeit im Gefolge der ersten industriellen Revolution, entsetzlichem Proletarier-Elend, sozialen Revolutionen, Kämpfen um Wahl- und Menschenrechte. Der Blick noch weiter zurück weist noch viel schlimmere Verhältnisse auf. Also, objektiv betrachtet, gab es kaum etwas, das „früher“ besser gewesen wäre.
Einmalig: Die „German Angst“
Im Gegenteil. Auf uns Deutsche bezogen, ist – im Lichte der Geschichte - die Lage für die breite Mehrheit noch nie so gut gewesen. Zumindest was die vergangenen fünfzig bis sechzig Jahre anbelangt. Nie zuvor hat es in diesen Breiten eine so lang andauernde Epoche des Friedens gegeben. Nach vierzig Jahren Teilung ist unser Land wiedervereinigt worden – ohne dass auch nur ein einziger Schuss gefallen wäre. Noch nie zuvor war der allgemeine Wohlstand so verbreitet. Noch niemals vorher existierte ein dermaßen eng geknüpftes soziales Netz, nie war die Menge der Urlaubsbuchungen von Deutschen höher. Dennoch erreichen die aus allen Ecken und Enden schallenden Kritiken, Ängste, Sorgen und auch bloßen Miesepetereien täglich neue Rekorde. Und eine ebenfalls bislang noch nie so große Anzahl von Menschen zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz meint, sich als „Wutbürger“ offenbaren und schier blindlings hinter Marktschreiern und Propagandisten scheinbar einfacher politischer Problemlösungen herlaufen zu sollen – sogar hinter solchen, deren Parolen dieses Volk schon einmal in eine Katastrophe, gelockt haben. In seine größte überhaupt.
Wie ist ein solches Verhalten zu erklären? Mit rationalen Überlegungen jedenfalls nur sehr schwer. Schließlich gibt bei Meinungsumfragen regelmäßig eine große Mehrheit der Bundesbürger an, mit der persönlichen Situation „zufrieden bis sehr zufrieden“ zu sein. Gleichzeitig jedoch werden, ebenfalls regelmäßig und mehrheitlich, diffuse Zukunftsängste geäußert. Nicht zufällig wohl hat sich vor allem im angelsächsischen Ausland der Begriff „German Angst“ festgesetzt. Obwohl also dieses, offensichtlich „typisch deutsche“, Phänomen des Daseins-Pessimismus bereits eine gewisse Tradition besitzt, hat es sich doch in jüngster Zeit deutlich verstärkt.
Früher war vieles einfacher
Ein Grund dafür sind ganz sicher die unglaublich rasch aufeinander folgenden Geschehnisse und Veränderungen während der vergangenen Jahre auf dem Globus. Zeitenwechsel vollzogen sich in der Geschichte langsam, meistens über viele Jahrhunderte hin – Antike, frühes Mittelalter, spätes Mittelalter, Neuzeit. Anders ausgedrückt: Blüte von Wissenschaft, Architektur und Technik sowie weitgehende Glaubenstoleranz; Dominanz eines intoleranten Christentums bis hin zur Hexenverbrennung, Abkehr von den Naturwissenschaften; Aufklärung mit Trennung von Kirche und Staat am Ende. Diese Entwicklungen haben sich über nahezu 2000 Jahre verteilt. Jetzt, hingegen, überschlagen sich die Ereignisse geradezu – politisch, technisch, gesellschaftlich. Ihnen allein nur zu folgen, ist schon schwierig genug. Sie dazu auch noch zu verstehen und zu verarbeiten, ist für Viele offensichtlich unmöglich.
Noch einmal daher – früher war nicht alles besser, aber halt vieles viel einfacher. Sogar noch bis ins letzte Drittel des vorigen Jahrhunderts. Was war es doch vor allem für uns (West)Deutsche so bequem. Sicher, das Vaterland war – Strafe für den begonnenen und verlorenen Krieg - geteilt. Doch damit hatten wir uns ganz gut arrangiert. Im Großen und Ganzen florierte die Wirtschaft, politisch brauchte die Bundesrepublik in Krisenzeiten keine Verantwortung zu übernehmen, man konnte (wenn der Zeitgeist mal eben wieder so war) mit moralisch erhobenem Zeigefinger den Amis die Leviten lesen und sich dennoch unter deren militärischen Schutzschirm verkriechen. An Weinachten schickte man Oma, Onkel und Tante Päckchen nach „drüben“, hatte dadurch ein gutes Gewissen und interessierte sich ansonsten weiterhin nicht sonderlich für die Menschen und Vorgänge hinter Stacheldraht und Berliner Mauer.
Das funktioniert nicht mehr
Das funktioniert nicht mehr. Mit dem Ende des Ost/West-Konflikts, dem Zusammenbruch des Kommunismus auf breiter Front, dem Sieg der Freiheit in Osteuropa und der neu gewonnenen nationalen Einheit hat wieder eine Zeitenwende eingesetzt. Wobei nicht nur kaum mehr etwas so ist, wie es einmal war, sondern außerdem bereits innerhalb kurzer Zeit viele Hoffnungen und Erwartungen in diese neue Zeit zerstoben sind. Hatten nicht nach der Auflösung der ideologischen Gegensätze zwischen den Machtblöcken ungezählte Politiker, Medien, bekränzte Häupter aus Wirtschaft und Wissenschaft sowie bedeutende Denker rund um den Erdball ein glückliches 21. Jahrhundert mit gegen Krieg und Ausbeutung weitgehend immunen Menschen prophezeit? Hatte man nicht bereits (wenn auch nur theoretisch) die immensen (allerdings nur errechneten) Gewinne aus der „Friedens und Abrüstungsdividende“ zur Beglückung der Menschheit verteilt?
Weit gefehlt! Nichts davon ist eingetreten. Stattdessen wurden die Menschen innerhalb kürzester Zeit überrollt von Geschehnissen, Entwicklungen und auch Erfindungen, die viel Liebgewonnenes einfach aushebelten. Und, häufig genug gibt der schnelle Alltag nicht einmal genug Raum, um wenigstens oberflächlich „gut“ von „bedenklich“ oder gar „schlecht“ zu separieren. Digitalisierung, Globalisierung, Technologisierung, Rationalisierung – Vorgänge, deren Tempo und Auswirkung (segensreich wie zerstörerisch) noch gar nicht absehbar sind. Dennoch müssen innerhalb dieser sich rasend vollziehenden Prozesse Entscheidungen getroffen werden – politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, die ihrerseits tief in das Leben der Bürger eingreifen. Und damit keineswegs immer von ihnen akzeptiert werden.
Das Drama mit den Flüchtlingen
Abrüstungs- und Friedensdividende? Hat daran wirklich ernsthaft jemand geglaubt? Ja, die lange bestehende Gefahr eines atomaren Infernos scheint gebannt. Aber die Angst davor hatte über Jahrzehnte ja durchaus auch etwas Disziplinierendes. Statt des einen, alles vernichtenden Krieges, erlebt die Welt heute hunderte schreckliche Konflikte vor allem im Nahen Osten und Afrika. Die Folge sind jene Heere von Flüchtlingen, die gegenwärtig nach Europa (und vorzugsweise nach Deutschland) drängen. Nicht das menschliche Leiden hat eine andere Qualität als bei den Völkerwanderungen von der Antike bis zur Flucht und Vertreibung nach dem 2. Weltkrieg. Aber die Ströme werden heute völlig anders gelenkt und die Ziele von vornherein ausgemacht. Warum? Wegen der Digitalisierung. Die Smartphones weisen die Routen und informieren über die scheinbar besten Aufnahmeländer. Das wird sich nicht ändern, im Gegenteil. Wenn es stimmt, was seriöse Forscher errechnet haben (und es besteht kein Grund zu zweifeln), dann wird sich allein auf dem afrikanischen Kontinent die Zahl der Bewohner bis 2050 verdoppeln. Was wird wohl jemand tun, der von Hunger, Durst oder Folter gepeinigt ist? Davor die Augen zu verschließen, ist nicht bloß sträflich leichtsinnig, sondern - mit Blick auf die Zukunft – höchst gefährlich.
„Europa“, die Europäische Union (EU), die Regierungen und entsprechend auch die Völker sind darauf nicht vorbereitet. Hätten sie es sein müssen? Auf jeden Fall hätten sie es sein können. Das Versagen der sich selbst so gern als „Werte- und Solidargemeinschaft“ preisenden EU gegenüber der humanitären Herausforderung ist ebenso beschämend wie symbolhaft. Unter der dünnen Oberfläche scheinbarer Internationalität feiern alte Nationalismen und Eigensüchte fröhliche Urständ. Dasselbe gilt für breite Schichten der „Zivilgesellschaft“. Gewiss, die ungezählten Beispiele von Hilfsbereitschaft und organisiertem wie privatem Samaritertum sind eindrucksvoll und Hoffnung gebend. Doch umgekehrt gilt eben leider auch dasselbe. Wer hätte es denn für möglich gehalten, welch ein sprachlicher Sumpf und teils sogar mörderischer Hass gegen „Fremde“ auch in diesem Land unter dem Deckel scheinbarer Wohlanständigkeit und gutbürgerlicher Erziehung wabern?
„Systeme“ im Umbruch
Heute ist überall viel in Bewegung, was lange gefestigt erschien. Traditionelle politische Systeme wackeln. Parteien, Kirchen, Gewerkschaften verlieren an Bindungswirkung. Neue politische Bewegungen entstehen und verschwinden oft auch wieder. Die jüngsten Landtagswahlen in Deutschland beweisen indessen, dass viele Menschen mittlerweile sogar bereit sind, einfach nur aus Ärger oder Protest gegen „die da oben“ Kräfte zu unterstützen, deren „Programm“ ausschließlich aus einem „Dagegen-Sein“ besteht – gegen die Hilfe für Hilfe Suchende. Man glaubt „denen da oben“ nicht mehr, dass sie Probleme lösen. Problemlösungen selbstverständlich im Sinne der Demonstrierenden. Dass die „wahren Deutschen“ noch weniger dazu imstande sind, interessiert die „Wutbürger“ zunächst einmal nicht. Dies nicht ernst zu nehmen, wäre ebenfalls mehr als fahrlässig; es wäre gefährlich.
Doch was tun? Die Unzufriedenheit und Sorge vieler Menschen wird, angesichts der Unübersehbarkeit der sich rasant weltweit ausbreitenden technischen und gesellschaftlichen Prozesse, bleiben - wahrscheinlich sogar noch zunehmen. Dazu trägt, klar, auch der internationale Terrorismus als Begleiterscheinung bei. In Deutschland skandieren Demonstranten wieder den Ruf „Wir sind das Volk“ – allerdings in einem total anderen Sinne als die vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert um Freiheit ringenden Menschen in Leipzig, Dresden und anderenorts. Hier manifestiert sich ein Zweifel an der Wirksamkeit der bisher erlebten Demokratie mit ihrem Streben nach Ausgleich, notfalls selbst auf kleinstem gemeinsamen Nenner.
Direkte Demokratie?
Es sind, im Übrigen, keineswegs nur die Schreier und Propagandisten auf den Plätzen und in den Straßen, die nach Abschaffung der hierzulande praktizierten parlamentarischen, also repräsentativen Demokratie rufen und stattdessen direkten Einfluss über Volksabstimmungen zu nahezu allen Entscheidungen fordern. Auch ernst zu nehmende Zeitgenossen befürworten zumindest eine Ausweitung der bisherigen bürgerlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Als Vorbild gilt den meisten die Schweiz. Aber ist die Eidgenossenschaft vergleichbar mit einem Land wie Deutschland? Dort gibt es eine demokratische Tradition und (wenigstens meistens) ein hohes Verantwortungsbewusstsein für die res publica (die Gemeinschaft, also), die weit in die Vergangenheit reicht. Bei uns ist sie gerade einmal 60 Jahre alt, und das auch nur im Westen des Landes. Natürlich gilt auch für moderne Staatsgefüge: Nichts ist so gut, als dass es nicht verbessert werden könnte. Warum also nicht mehr direkte Demokratie in Deutschland, zumindest auf kommunaler und Landesebene?
Es lohnt, in diesem Zusammenhang, ein Blick in die bundesdeutsche Vergangenheit. Der Bonner Politik-Professor Wolfgang Bergsdorf listete jüngst einmal auf, dass - ausweislich der jeweils aktuellen Demoskopie - alle grundlegenden Richtungsentscheidungen im Lande einer Volksgesetzgebung zum Opfer gefallen wären. Beispiele: Gegen die Mehrheit der Bürger hätte es keine West-Orientierung gegeben, wäre die Soziale Marktwirtschaft nicht eingeführt worden, hätten die Wiederbewaffnung und Aufnahme in die NATO nicht stattgefunden, auch die Ostpolitik hätte keine Chance bekommen. Dasselbe gilt für die NATO-Nachrüstung und die Abschaffung der Wehrpflicht. Mit anderen Worten: Mit Plebisziten hätte die deutsche Nachkriegsgeschichte einen ganz anderen Verlauf genommen.
Wer trägt die Verantwortung?
Politik lebt im Grundsatz von Öffentlichkeit und damit von öffentlich (auch streitig) verlaufenden Entscheidungsprozessen. Das ist ein ganz wesentlicher Teil von Demokratie. Demgegenüber gäbe der bei einer Volksabstimmung aktive Bürger seine Stimme in der Wahlkabine unter dem Schutz des Wahlgeheimnisses ab. Er entschiede, bindend wie ein gewählter Mandatsträger - über ein Sachproblem, täte das jedoch , anders als jener, in aller Heimlichkeit. Nur seinem “Bauchgefühl“ oder seiner „Wut“ folgend. So entzöge, wie der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmannsegg einmal schrieb, „die Volksgesetzgebung der Öffentlichkeit die Herrschaft der Kontrolle. Denn der Abstimmungsbürger ist niemandem verantwortlich als sich selbst. Niemand kann ihn durch Abwahl zur Verantwortung ziehen“.
Wie verantwortungsvoll würden wohl jene Zehntausende mit einem „Volks-Stimmrecht“ umgehen, die Woche für Woche „Lügenpresse“, „Volksverräter“, „Systemparteien“ grölen?