Im Sommer 2011 demonstrierten Tausende Israelis in Tel Aviv, in Jerusalem, in Haifa, in Beersheva und an anderen Orten des Landes gegen die hohen Lebenshaltungskosten.**
Die Regierung sah sich daraufhin veranlasst, im Herbst eine Kommission unter Leitung von Professor Manuel Trajtenberg zu berufen, die einige Monate später Empfehlungen vorlegte . Nur einige wenige wurden umgesetzt. Nichtsdestotrotz verfügte die Regierung im Juli 2012 Steuererhöhungen und Leistungskürzungen, um das staatliche Defizit aufzufangen.
In einer Studie unter Leitung von Dahlia Scheindlin (Tel Aviv) ist festgestellt worden, dass die Schere zwischen Arm und Reich in Israel immer größer werde und Israel einer der OECD-Staaten sei, in denen der Reichtum höchst ungleich verteilt sei. Am Abend des 05. August 2012 demonstrierten erneut einige tausend Menschen vor allem in Tel Aviv, Beersheva und Jerusalem.
Es ist traurig, am vergangenen Samstagabend gegenüber dem Tel Aviver Kunstmuseum auf dem Platz zu stehen. Sehr traurig – aber nicht unerwartet. Selbst auf dem Höhepunkt der eindrucksvollen Protestwelle im vergangenen Sommer schrieb ich auf diesen Seiten [der Zeitung], dass Demonstrationen ohne schnell eine politische Basis und eine entschlossene Führung zu finden, in sich zusammenfallen. Der größte Feind einer informellen Bewegung wie dieser ist das Verstreichen der Zeit.
Proteste können nur Ergebnisse erbringen, wenn sie eine Alternative präsentieren, die eine echte Drohung für das Establishment darstellen. Augenscheinlich geschah dies an wenigen Tagen im vergangenen Sommer, aber sie dauerten nicht an: Die Drohung wurde hier und dort ausgeschaltet.
Heute jedoch stellt der Protest nicht einmal ein Ärgernis dar, weil klar geworden ist, dass die Aktivisten nicht in der Lage sind, eine Bewegung zu führen. Einer der Prominentesten aufgrund seiner Position als Vorsitzender der Nationalen Studentenunion, Itzik Shmuli, entwickelt sich zu rasch zu einem Politiker, der in die Knesset strebt. Und die anderen, zu denen einige wahre Idealisten gehören, sind Opfer ihrer eigenen Naivität und der Manipulation seitens der Regierung geworden.
Doch sie können sich selbst verantwortlich machen, weil der Krieg über Brot und Butter für die Mittelklasse sicherlich ein lohnendes Ziel ist, aber nicht für Menschen in den 20ern. Das sollte dem Vorsitzenden der Histradrut Ofer Eini überlassen werden.
Von dort hätten wir einen großen Aufschrei erwarten können, gegen die Unterdrückung, die in die Knochen des kapitalistischen Systems in Israel eingebaut ist, und zugunsten eines Aufstandes gegen die formale Schaffung eines Apartheid-Staates, an dem der Justizminister gerade jetzt im Namen der Regierung arbeitet. Was soll man von jungen Menschen denken, die gegen die tägliche Unterdrückung in den [besetzten] Gebieten keinen Laut von sich geben und vor der Erosion grundlegender demokratischer Werte in der Rundfunkbehörde und dem Erziehungssystem Israels keine Angst haben?
Wer wirklich vorhat, etwas in der israelischen Realität zu ändern, muss sich gleichzeitig mit dem Faktum befassen, dass ihre neoliberale Wirtschaft von Hause aus die Prinzipien von Gleichheit und Solidarität zurückweist und dass es die Apartheid ist, die in der Bevölkerung rasch an Legitimität gewinnt. Um also hier einen Wohlfahrtsstaat westeuropäischen Gepräges zu schaffen, brauchen wir eine andere nationale Führung. Und dafür brauchen wir einen kompromisslosen Kampf, um die Netanjahu-Regierung abzulösen.
Nichtsdestotrotz wird Israels Schicksal nicht von der Höhe der Mehrwertsteuer abhängen oder ob die iranische Bombe kommt oder nicht, sondern von der Zukunft der Territorien. Daran gibt es keinen Zweifel. Verzerrungen im Steuersystem lassen sich korrigieren, und die iranische Bombe kann man neutralisieren. Doch was nicht korrigiert werden kann und was uns schrittweise zum Punkt ohne Rückkehr bringt, ist die Okkupation.
Doch siehe da: Diese existentielle Frage ist verwunderlicherweise von der Tagesordnung verschwunden, und zwar dank einer stillen Vereinbarung zwischen der Rechten, die die Regierung kontrolliert, und der Arbeitspartei. *1) So hat die Gefahr der Zerstörung des demokratischen jüdischen Staates aufgehört, Gegenstand der Auseinandersetzung zu sein.
Diese Entwicklung ist in der Geschichte von demokratischer Politik beispiellos: Es ist zweifelhaft, dass es früher einen demokratischen Staat gegeben hat, in der ein unvergleichlich kontroverses Problem, von dem die schiere Existenz abhängt, zum Schweigen gebracht und von einer Vereinbarung zwischen der Regierung und der Opposition begraben worden ist. Es hat jedoch Länder gegeben, in denen die Feigheit der Opposition einen unerträglichen Preis gefordert hat.
Die nächste Frage lautet also, was zu tun ist. Das aktive Zentrum des Protests muss noch eine wichtige Rolle spielen – nicht auf eigene Kappe zu handeln, sondern als eine Brücke zwischen allen Kräften der Opposition und der Regierung zu dienen, als eine, welche die Vereinbarung zwischen Likud und Arbeitspartei zuschanden macht. Dies ist der Weg zum Wohlfahrtsstaat, der Gleichheit und Gerechtigkeit für alle zum Ziel hat – für Israelis, für Palästinenser und für die [ausländischen] Wanderarbeiter gleichermaßen. Das ist auch der Weg zur Realisierung einer Zwei-Staaten-Lösung, die für Gerechtigkeit für beide Völker sorgt und Israel vor der Vernichtung rettet.
*1) Ihrer Vorsitzenden Shelly Yachimovich wird nachgesagt, dass sie kein großes Interesse an der Siedlungspolitik habe, sondern allein für Themen der Sozialpolitik stehe.